Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1861

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 15, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 357-360.

1. Korrektur
Erstellt am 20.09.1998

Karl Marx

Volkswirtschaftliche Glossen


["Die Presse" Nr. 308 vom 9. November 1861]

<357> London, 3. November 1861

Allgemeine Politik existiert in diesem Augenblicke nicht in England. Das Interesse des Landes geht auf in der französischen Finanz-, Handels- und Agrikulturkrise, in der britischen Industriekrise, der Baumwollnot und der amerikanischen Frage.

In hiesigen urteilsfähigen Kreisen täuschte man sich keinen Augenblick darüber, daß die Wechselreiterei der Bank von Frankreich mit einigen großen Häusern auf beiden Seiten des Kanals ein Palliativ der schwächsten Art sei. Alles, was damit erreicht werden konnte und erreicht worden ist, war eine augenblickliche Verminderung des Goldabflusses nach England. Die wiederholten Versuche der Bank von Frankreich zur Werbung metallener Hilfstruppen in Petersburg, Hamburg und Berlin schaden ihrem Kredit, ohne ihre Kasse zu füllen. Die Erhöhung des Zinsfußes auf Tresorscheine, um sie im Kurs zu halten, und die Notwendigkeit, Nachlaß der Zahlungen für das neue italienische Anlehen von Viktor Emanuel zu erwirken - beides gilt hier als bedenkliches Symptom der französischen Finanzkrankheit. Man weiß zudem, daß in diesem Augenblicke zwei Projekte in den Tuilerien um den Vorrang streiten. Die Vollblutbonapartisten, mit Persigny und Péreire (vom Crédit mobilier) an der Spitze, wollen die Bank von Frankreich völlig der Regierungsgewalt unterwerfen, sie zum bloßen Büro des Finanzministeriums herabsetzen und das so verwandelte Institut als Assignatenfabrik benutzen.

Es ist bekannt, daß dies Prinzip der Organisation des Crédit mobilier ursprünglich zu Grunde lag. Die minder abenteuerliche Partei, vertreten durch Fould und andere Renegaten aus der Zeit Louis-Philippes, schlägt <358> ein neues National-Anlehen vor, das nach einigen 400, nach anderen 700 Millionen Francs betragen soll. Die "Times" in einem heutigen Leitartikel spiegeln wohl die Ansicht der City ab, wenn sie sagen, daß Frankreich durch seine ökonomische Krisis völlig paralysiert und seines europäischen Einflusses beraubt sei. Indes irren "Times" und City. Gelingt es der Dezembermacht, den Winter ohne große innere Stürme zu überdauern, so wird sie im Frühling in die Kriegsposaune stoßen. Die innere Not würde damit nicht geheilt, aber übertäubt.

In einem früheren Briefe wies ich darauf hin, daß der Baumwollschwindel zu Liverpool während der letzten Wochen durchaus an die tollsten Zeiten der Eisenbahnmanie von 1845 mahnt. Zahnärzte, Chirurgen, Advokaten, Köchinnen, Witwen, Arbeiter, Schreiber und Lords, Komödianten und Geistliche, Soldaten und Schneider, Zeitungsschreiber und Wohnungsvermieter, Mann und Weib, alles spekulierte in Baumwolle. Ganz geringe Quantitäten von 1 zu 4 Ballen wurden gekauft, verkauft und wieder verkauft. Beträchtlichere Quantitäten blieben monatelang auf demselben Lager liegen, obwohl sie zwanzigmal den Eigentümer wechselten. Wer um 10 Uhr Baumwolle gekauft haßte, verkaufte sie um 11 Uhr schon wieder mit einem Aufschlag von 1/2 Penny per Pfund. So zirkulierte dieselbe Baumwolle oft sechsmal während zehn Stunden durch verschiedene Hände. Diese Woche jedoch trat eine Art von Stillstand ein, und zwar aus keinem anderen rationellen Grunde, als weil das Pfund Baumwolle (nämlich mittlere Orleans-Baumwolle) die Höhe von 1 Schilling erreicht hatte, weil 12 Penny 1 Schilling ausmachen und also eine runde Zahl sind. So hatte sich jeder vorgenommen, sobald dies Maximum erreicht sei, loszuschlagen. Dadurch plötzliches Steigen des Angebots und folglich Reaktion. Sobald sich der Engländer mit der Möglichkeit vertraut gemacht, daß ein Pfund Baumwolle über einen Schilling steigen kann, wird der Veitstanz noch toller wiederkehren.

Der letzte offizielle monatliche Bericht des Board of Trade <Handels- und Verkehrsministeriums> über britische Ausfuhren und Einfuhren hat die trübe Stimmung keineswegs geklärt. Die Ausfuhrtabelle umfaßt die neunmonatige Periode von Januar bis September 1861. Sie zeigt, im Vergleich zur selben Periode während des Jahres 1860, einen Ausfall von ungefähr 8 Millionen Pfund Sterling. Davon fallen allein 5.671.730 Pfd.St. auf die Ausfuhr nach den Vereinigten Staaten, während der Rest sich auf das britische Nordamerika <Kanada>, Ostindien, Australien, die Türkei und Deutschland verteilt. Zunahme zeigt sich nur in <359> Italien. So z.B. ist der Export britischer Baumwollwaren nach Sardinien, Toskana, Neapel und Sizilien von 756.892 Pfd.St. für das Jahr 1860, auf 1.204.287 Pfd.St. für das Jahr 1861 gestiegen; der Export britischer Baumwollgarne von 348.158 Pfd.St. auf 538.373 Pfd.St.; der Eisenexport von 120.867 Pfd.St. auf 160.912 Pfd.St. usw. Diese Zahlen sind nicht ohne Gewicht in der Waagschale britischer Sympathie für italienische Freiheit.

Während so der Exporthandel Großbritanniens um beinahe 8 Millionen Pfund Sterling gesunken, ist sein Importhandel in noch größerer Proportion gestiegen, ein Umstand, der keineswegs die Ausgleichung der Bilanz erleichtert. Dies Wachstum der Einfuhren stammt namentlich von der Zunahme des Weizenimports her. Während in den ersten acht Monaten von 1860 der Wert des importierten Weizens nur 6.796.131 Pfd.St. betrug, beläuft er sich während derselben Periode in diesem Jahre auf 13.431.487 Pfd.St.

Das merkwürdigste Phänomen, welches die Einfuhrtabelle enthüllt, ist die rasche Zunahme der französischen Importe, die jetzt schon die Höhe von beinahe 18 Millionen Pfund Sterling (jährlich) erreichen, während die englische Ausfuhr nach Frankreich nicht viel bedeutender ist als die nach Holland etwa. Kontinentale Politiker haben dies ganz neue Phänomen der modernen Handelsgeschichte bisher übersehen. Es beweist, daß die ökonomische Abhängigkeit Frankreichs von England vielleicht sechsmal so groß ist als die ökonomische Abhängigkeit Englands von Frankreich, wenn man nämlich nicht nur die Ziffern der englischen Ausfuhr- und Einfuhrtabellen betrachtet, sondern sie auch mit den französischen Ausfuhr- und Einfuhrtabellen vergleicht. Es ergibt sich dann, daß England jetzt der Hauptexportmarkt für Frankreich geworden, während Frankreich ein ganz sekundärer Exportmarkt für England geblieben ist. Daher, trotz allem Chauvinismus und allen Waterloo-Rodomontaden, die ängstliche Scheu vor einem Konflikt mit dem "perfiden Albion".

Schließlich geht noch eine wichtige Tatsache aus den letzten englischen Ausfuhr- und Einfuhrtabellen hervor. Während der englische Export nach den Vereinigten Staaten in den ersten neun Monaten dieses Jahres um mehr als 25 Prozent sank, im Vergleich zu derselben Periode des Jahres 1860, hat der Hafen von New York allein während der ersten acht Monate dieses Jahres seine Ausfuhr nach England um 6 Millionen Pfund Sterling vermehrt. Die Ausfuhr des amerikanischen Goldes nach England hatte während dieser Periode fast aufgehört, während jetzt umgekehrt seit Wochen Gold von England nach New York fließt. Es sind in <360> der Tat England und Frankreich, deren Ernteausfälle das nordamerikanische Defizit decken, während der Morrill-Tarif und die von einem Bürgerkrieg unzertrennliche Ökonomie gleichzeitig den Konsum englischer und französischer Fabrikate in Nordamerika dezimiert haben. Und nun vergleiche man diese statistischen Tatsachen mit den Jeremiaden der "Times" über den finanziellen Ruin Nordamerikas!