Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1862

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 15, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 534-540.

1. Korrektur.
Erstellt am 25.10.1998.

Friedrich Engels

Eine englische Freiwilligen-Inspektion

Geschrieben im August 1862.


["Allgemeine Militär-Zeitung" Nr. 44 vom 1. November 1882]

|534| Seitdem Sie mir erlaubten, in Ihrem Blatte über die Freiwilligen-Revue von Newton im August 1860 zu berichten, sind zwei Jahre verflossen. Vielleicht interessiert es Ihre Leser, nach so langer Zeit einmal wieder etwas über den Stand und die taktische Ausbildung der englischen Volkswehr zu erfahren.

Auf die Stärke und jetzige Organisation der Freiwilligen werde ich vielleicht nächstens im Zusammenhang eingehen; ich beschränke mich heute auf die Mitteilung, daß der offizielle Effektivstand des Freiwilligen-Heeres 162.800 Mann beträgt, also stärker ist als je vorher, und gehe gleich dazu über, die taktische Ausbildung dieses Heeres an einem Exempel darzulegen.

Am 2. August hielt der Generalinspektor der sämtlichen Freiwilligen, Oberst McMurdo, zu Heaton Park, eine Stunde von Manchester Heerschau ab über das von dieser Stadt gestellte Kontingent. Die Truppen bestanden aus dem ersten, zweiten und dritten Manchester-"Regiment" (6., 28. und 40. Lancashire-Korps) und den von den Vorstädten Ardwick und Salford (33. und 56. Lancashire) gestellten "Regimentern". Von diesen sogenannten "Regimentern" traten indes nur drei (das erste und dritte Manchester- und das Ardwick-Korps) in der Stärke eines Bataillons auf, die beiden übrigen formierten zusammen ein Bataillon; diese Bataillone variierten von 18 bis 21 Rotten per Kompanie, je acht Kompanien bildeten ein Bataillon und waren inkl. Offiziere durchschnittlich etwa 400 Mann stark. Außerdem waren noch gegenwärtig die freiwillige Kavallerie (32 Mann) und Artillerie (zwei von Herrn Whitworth geliehene Einpfünder |535| Amüsetten und zirka 150 Mann, formiert als Infanterie, die als Bedeckung der Geschütze auftraten), ebenfalls von Manchester. Die Infanterie hätte in der Mehrzahl der Bataillone um 100-150 Mann stärker auftreten können, die Kommandeure scheinen aber dafür gesorgt zu haben, daß ungeübte Leute zu Hause blieben.

Das Terrain (der südliche Teil des dem Grafen von Wilton gehörenden Parks, wo früher Wettrennen gehalten wurden) bietet einen von Westen nach Osten abfallenden Hügelrücken dar; rechts und links wird er von Talgründen begrenzt, welche nach vorn vor dem östlichen Hügelfuß sich zu einer etwa 800 Schritt im Quadrat haltenden ebenen Wiese vereinigen. Der den nördlichen Hügelfuß begleitende Bach, jenseits dessen das Gelände wieder ansteigt, begrenzte das Terrain nach dieser Seite; nach allen andern Richtungen wurde es von den an der Parkmauer liegenden Gehölzen abgeschlossen. Eingezäunte oder freistehende kleine Gebüsche sowie einzelne Bäume und hie und da eine sumpfige Stelle unterbrechen den sonst ganz offenen Charakter des Terrains.

Die Revuen des Obersten McMurdo werden, im Gegensatz zu der großen Menge der bei den Freiwilligen üblichen, stets ohne vorher festgestelltes und den Truppen mitgeteiltes Programm abgehalten; die Herren wissen nie vorher, was sie zu tun bekommen werden. Dafür sind aber auch die von ihm kommandierten Bewegungen nur solche, die vor dem Feind wirklich gebraucht werden, und schließen jede taktische Künstelei aus. McMurdo, der Schwiegersohn des Eroberers von Sind, Sir Charles Napier, und sein Stabschef in Indien, ist kein Pedant, sondern ein durchaus praktischer Soldat, und seine ganze Tätigkeit bei den Freiwilligen hat bewiesen, daß er ganz der Mann für seinen jetzigen Posten ist.

Die Brigade empfing den Inspekteur wie gewöhnlich in Linie. Nach den Eingangsformalitäten ließ er Vierteldistanz-Kolonnen bilden (die gewöhnliche Kolonne der Engländer für Bewegungen von Massen außerhalb des feindlichen Gewehrfeuers), nach der Mitte aufschließen und die Front der Kolonnenlinie nach rechts vorwärts verändern, so daß die erwähnte flache Wiese und die Gehölze der östlichen Parkmauer vor der Front lagen. Während dieser Bewegungen, die rasch und ohne Störung ausgeführt wurden, schwärmte die Kavallerie aus, ging durch die Gehölze und eröffnete das Feuer gegen den supponierten Feind, zog sich aber bald zurück. Jetzt wurde das rechte Flügelbataillon (6. Lancashire) vorgezogen, vier Kompanien ausgeschwärmt, vier als Soutiens; die beiden folgenden Bataillone (das kombinierte 28. und 56. Lancashire und das 33. Lancashire) deployierten, während das linke Flügelbataillon (40. Lancashire) in |536| Kolonne blieb und nebst der Kavallerie sich 200 Schritt rückwärts als Reserve aufstellte. Die beiden Geschütze standen auf einem Hügelrand am rechten Flügel der Tirailleurlinie. Bis der Befehl zum Vorrücken gegeben wurde, lagen Tirailleurs, Soutiens und die deployierte Linie flach auf dem Boden. In dieser Stellung gab die Brigade einen recht kriegerischen Anblick ab, wie man ihn bei den gewöhnlichen Freiwilligen-Manövern nicht gewohnt ist; man sah, daß ein wirklicher Soldat das Kommando führte.

Das Signal zum Vorrücken und Feuern ertönte für die Schützenlinie. Das zerstreute Gefecht wurde nicht besonders geführt. Die Leute, an schematisches Ausschwärmen auf der freien Ebene ihres Exerzierplatzes gewöhnt, waren viel zu ängstlich um die Richtung besorgt, um an Deckung zu denken. Terrainabschnitte und Gehölze waren ihnen böhmische Dörfer. Dazu kamen eingezäunte Gebüsche, die nicht betreten werden durften und die Leute ganz irremachten; eine Kompanie blieb vor einem solchen Gebüsch in der engen Talsohle stehen und feuerte mit der größten Gelassenheit hinein, während die übrige Linie sich längst herumgezogen hatte und schon davor stand. Zudem schwenkte die Schützenlinie allmählich ganz nach der linken Flanke hinüber, so daß die Gehölze, nach denen die Kavallerie geworfen worden, kaum oder gar nicht angegriffen wurden und die Front der deployierten Linie sich mehr und mehr entblößte. Da Anlage und Verlauf des Manövers diese Bewegung durchaus nicht zu motivieren schien, so muß ich vermuten, daß sie auf einem Versehen beruhte. Die Artillerie ging feuernd mit dem rechten Flügel der Schützen vor, stellte sich meist ziemlich ungedeckt auf, und wenn mein Perspektiv mich nicht täuschte, standen die Geschützräder häufig schief am Abhange.

Die Schützen wurden noch für einen Moment durch Ausschwärmen der Soutiens verstärkt und dann zurückgerufen; die deployierte Linie war inzwischen vorgegangen und eröffnete das Rottenfeuer. Das Feuer des rechten Flügels, besonders des 28. Lancashire, war sehr heftig und fast zu hastig; im Zentrum, beim rechten Flügel des 33. Lancashire, war es matt und durch lange Pausen unterbrochen; auf dem linken Flügel ziemlich unordentlich. Ein Teil der Linie stand hier dicht hinter einer Terrainwelle von fast doppelter Mannshöhe, was sie aber nicht hinderte, lustig draufloszuknallen. Das 40. Lancashire war inzwischen aus der Reservestellung bis 200 Schritt hinter die Linie vorgerückt und deployierte; rechts von ihm entwickelte sich das wieder gesammelte 6. Lancashire. Beide ließen die linken Flügelsektionen der Kompanien rückwärts abschwenken, um Raum zum Durchziehen für das jetzt kompanieweise in |537| Doppelrotten abbrechende und zurückgehende erste Treffen zu machen. Ich gestehe, ich kann mich mit dieser hier vorschriftsmäßigen Bewegung durchaus nicht befreunden; diesmal gefiel sie mir schlechter als je. Die Vorschrift ist, daß das zurückgehende erste Treffen kehrtmacht und in Linie bis auf eine Kompanie-Frontlänge an das zweite ebenfalls deployierte Treffen herangeht, alsdann kompanieweise abbricht und durch die wie oben gebildeten Lücken sich hindurchzieht. Wenn das erste Treffen nur aus Munitionsmangel zurückgeht, wenig erschüttert ist und kein sofortiger Angriff zu befürchten steht, so mag ein solches Manöver im Laufschritt ausführbar sein; für einen aktiven Feind wäre das aber sicher der Moment, seine Massen vorzuschicken. Hier aber wurde die Sache nicht einmal reglementsmäßig gemacht. Das erste Treffen brach sofort in Kompanien ab und hatte in dieser Formation, die noch dazu recht liederlich ausgeführt wurde, volle zweihundert Schritt zu retirieren, ohne durch Schützen gedeckt zu sein.

Das 6. und 40. Lancashire-Regiment eröffneten jetzt ihrerseits das Rottenfeuer, das bedeutend gleichförmiger und besser genährt war als das der beiden anderen Bataillone. Nachdem etwa 4-5 Patronen per Mann verschossen waren - die Artillerie hatte fortwährend vom rechten Flügel des jedesmaligen ersten Treffens gefeuert - wurde Halt geblasen, und hiermit war der erste Akt des Manövers zu Ende. Bisher hatte Oberst McMurdo seine Brigade als ein detachiertes Korps behandelt, das ein selbständiges Gefecht mit einem supponierten Feind einging; die Stellungen und Bewegungen hatten alle Beziehung auf das gegenüberliegende, vom Feind besetzte Terrain. Von jetzt an zog er die vier Bataillone in eine Linie zusammen, die als supponiertes erstes Treffen einer größeren Abteilung auftrat. Der enge Raum erlaubte nicht mehr, Rücksicht auf das gegenüberliegende Terrain zu nehmen, und um die Leute zu Massenbewegungen zusammenzuhalten, wurde auch von allem ferneren Tiraillieren abgesehen.

["Allgemeine Militär-Zeitung" Nr. 43 vom 8. November 1862]

Zuerst machte das erste Treffen eine Frontveränderung links vorwärts, wodurch es in die Verlängerung des früher erwähnten nördlichen Tals zu stehen kam. Die übrigen Bataillone marschierten links davon auf, und die ganze Linie eröffnete Rottenfeuer. Sie wurde dann mehr und mehr links verlängert, indem vom rechten Flügel an die Bataillone nacheinander kompanieweise abbrachen, hinter der Front nach dem linken Flügel mar- |538| schierten und sich dort wieder formierten. Nachdem auf diese Weise der linke Flügel beinahe bis an die Gehölze der westlichen Parkmauer geschoben worden war, wurde die Front einen Viertelkreis rechts zurückgenommen, mit dem linken Flügel als Pivot. Mit Ausnahme des linken Flügelbataillons wurde diese Bewegung, wie gewöhnlich, durch Zusammenfalten der Bataillone in Vierteldistanz-Kolonnen, Einmarsch in die neue Richtungslinie und Deployieren ausgeführt und zwar sehr rasch und mit der größten Ordnung, obwohl auf einem steilen Hügelabhang. Als die Bataillone wieder deployierten, ging ich grade der Front des 40. Lancashire-Korps entlang, sah jede Kompanie in der Richtungslinie ankommen und muß sagen, daß unsere bestexerzierten kontinentalen Linientruppen dies wohl eleganter und "strammer", aber sicher nicht ruhiger und rascher hätten ausführen können. Oberst McMurdo drückte dem Bataillon während der Bewegung mehrere Male seine volle Anerkennung laut aus. Auch das 6. Lancashire-Korps deployierte rasch und mit Ordnung; von französischer Linie habe ich dies Manöver viel liederlicher machen sehen. - Nach einigem Rottenfeuer ging die Brigade in Echelons vom linken Flügel mit 100 Schritt Distanz zwischen den Bataillonen vor, machte Halt und formierte im Laufschritt Karree. Dies wurde stellenweise nicht besonders ausgeführt, da der Marsch durch Büsche die Leute etwas auseinandergebracht hatte. Die Bataillone entwickelten sich wieder, rückten in das Alignement des linken Flügelbataillons vor, gaben jedes eine Salve, die durchgehends rund genug war, und nun avancierte die ganze Brigade in einer Linie. Ich wünschte, von den in Deutschland so zahlreichen Offizieren, die der Ansicht sind, daß Bewegungen in Linie mit jungen Truppen nicht auszuführen seien, hätten einige den Frontmarsch dieser Linie von 640 Rotten gesehen. Das Terrain war so uneben, wie man es nur wünschen kann. Die Front lief quer über einen nach drei Seiten ziemlich steil abfallenden Hügelrücken, der Boden war voller Löcher und Höcker, dazu viele einzelne Bäume. Dennoch ging die Linie mehrere 100 Schritt weit mit vollkommener Ordnung, hinreichend guter Richtung, geschlossen und ohne zu schwanken vor, besonders die beiden Bataillone im Zentrum (6. und 40.), und Oberst McMurdo sprach sowohl auf der Stelle, wie nachher zu den Stabsoffizieren seine volle Zufriedenheit mit dieser Bewegung aus. Zum Schluß ließ er zur Attacke blasen, und nun ging es ganz nach Freiwilligen-Art im vollen Lauf etwa hundert Schritt den Abhang hinunter bis ins offene Feld, mehr ein Wettrennen als eine Attacke. Als Halt geblasen wurde, stand das 40. Lancashire-Korps, wenn auch schlecht gerichtet, doch kompakt und geschlossen da, nicht ganz so geordnet das sechste. |539| Auf den Flügeln dagegen, besonders dem linken, war es sehr unordentlich hergegangen; die Leute waren arg durcheinander, manche gefallen, auch ein Mann des ersten Gliedes in der Wade verwundet, da hier das zweite Glied zum Teil noch das Bajonett gefällt hatte. Hiermit schloß das Manöver, die Truppen formierten zum Defilieren, defilierten und gingen nach Hause.

Ich glaube, solch' ein Beispiel wird den Lesern der "A[llgemeinen] M[ilitär]-Z[eitung]" ein weit anschaulicheres Bild von der Art und dem Grade der Ausbildung dieser Freiwilligen geben als alle doktrinären Auseinandersetzungen. Obwohl die dabei konzentrierte Truppenzahl nur klein war, so erlaubte sie doch eben deshalb die Ausführung praktischerer Bewegungen, als dies sonst hier bei größeren Zusammenziehungen von Freiwilligen der Fall ist; man findet für letztere hier nie den hinreichenden Raum. Dazu gaben die anwesenden Bataillone einen ganz guten Durchschnitt der englischen Freiwilligen-Korps ab: zwei davon, wie man gesehen haben wird, waren bedeutend den andern beiden voraus und repräsentierten die konsolidierten Bataillone der größeren Städte; die andern beiden, mehr zurück in ihrer Ausbildung schon wegen der mehr gemischten Elemente, aus denen sie zusammengesetzt, vertraten mehr die auf dem Lande und in kleineren Städten gebildeten Korps. Im ganzen kann man sagen, daß die Freiwilligen sich in die hauptsächlichsten Bewegungen des Bataillons hinreichend eingeschossen haben; sie formieren Kolonnen und deployieren, sie bewegen sich in Kolonnen und in Linie mit hinreichender, hier und da sogar mit großer Sicherheit. Man wird dagegen wohltun, sie mit künstlichen Aufmärschen und Kontremärschen zu verschonen, wie deren das englische Reglement, wie so manches andere, auch noch enthält. Das zerstreute Gefecht, stets die schwache Seite der Engländer, kennen die Freiwilligen nur soweit es ihnen auf dem Exerzierplatz beigebracht werden konnte, doch ist auch hierin ein bedeutender Unterschied zwischen den verschiedenen Bataillonen. Die Fehler, die bei dieser Inspektion vorkamen, unterscheiden sich, wie man gesehen haben wird, durchaus nicht von den Fehlern, welche man bei den Übungen unserer kontinentalen Friedensarmeen tagtäglich sieht, obgleich diese Armeen den Vorteil haben, von auf dem Manöverfeld ergrauten Offizieren geführt zu werden. Wobei durchaus nicht geleugnet werden soll, daß die Offiziere der englischen Freiwilligen noch immer die schwache Seite des ganzen Korps bilden, obgleich auch hier eine bedeutende Besserung sichtbar ist. Wer am Parademarsch Freude hat, wird die Freiwilligen auch in dieser Kunst weiter vorgeschritten finden, als er erwartet. Endlich, was ihre Leistungen auf |540| dem Schießplatz betrifft, so können sie sich unbedingt mit jeder stehenden Armee von Europa messen und enthalten sicher durchschnittlich mehr gute Schützen auf jedes Bataillon als die meisten Linientruppen. Summa summarum ist nach drei Jahren das Experiment soweit als vollkommen gelungen anzusehen. England hat, fast ganz ohne Kosten für den Staat, eine organisierte Armee von 163.000 Mann für die Landesverteidigung geschaffen - eine Armee, die so weit eingeübt ist, daß sie nur noch, je nach dem verschiedenen Ausbildungsgrad der Bataillone, drei bis sechs Wochen im Lager zu kampieren und zu exerzieren braucht, um eine ganz brauchbare Feldtruppe zu werden. Und so viel Zeit wird jeder Invasionsversuch den Engländern im allerschlimmsten Fall immer lassen müssen.