Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1862

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 15, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 554-57.

1. Korrektur.
Erstellt am 25.10.1998.

Karl Marx

Die Brotfabrikation

Geschrieben Ende Oktober 1862.


["Die Presse" Nr. 299 vom 30. Oktober 1862]

|554| Garibaldi, der Amerikanische Bürgerkrieg, die Revolution in Griechenland, die Baumwollkrise, Veillards Bankerott - alles tritt augenblicklich in London zurück vor der - Brotfrage, aber der Brotfrage im wörtlichen Sinne. Die Engländer, so stolz auf ihre "Ideen in Eisen und Dampf", haben plötzlich entdeckt, daß sie den "staff of life" (den "Stab des Lebens") uraltfränkisch, wie zur Zeit des Einfalls der Normannen, fabrizieren. Der einzig wesentliche Fortschritt besteht in der durch die moderne Chemie erleichterten Stoffverfälschung. Es ist ein altes britisches Sprichwort, daß jeder Mann, auch der beste, in seinem Leben "a peck of dirt" (einen Metzen Dreck) essen muß. Dies war jedoch moralisch gemeint. John Bull ahnt nicht, daß er tagaus, tagein im gröbsten physischen Sinne ein unsagbares Mixtum compositum |Mischmasch| von Mehl, Alum, Spinnweb, black beetles |Küchenschaben| und Menschenschweiß verzehrt. Bibelfest wie er ist, wußte er natürlich, daß der Mensch das Brot im Schweiße seines Angesichts verdient; aber es war ihm funkelnagelneu, daß Menschenschweiß als würzendes Ingredienz in den Brotteig eingehen muß.

Die Stufenfolge, worin die große Industrie sich der verschiedenen Territorien bemächtigt, in denen sie Handarbeit, Handwerkstum und Manufaktur angesiedelt findet, erscheint auf den ersten Blick launenhaft. Weizen produzieren z.B. ist ein ländliches Gewerk, Brotbacken ein städtisches. Dürfte man nicht vermuten, daß die industrielle Produktion sich des städtischen Gewerks vor dem ländlichen bemächtigen werde? Und doch war der Gang ein umgekehrter. Wohin wir unsere Blicke wenden, werden wir finden, daß die unmittelbarsten Bedürfnisse mit bisher mehr oder minderer Starrheit sich dem EinRuß der großen Industrie entzogen haben und ihre |555| Befriedigung von uralt überlieferter, hilflos umständlicher Handwerksweise erwarten. Es ist nicht England, sondern Nordamerika, das zuerst - und nur in unseren Tagen - eine Bresche in diese Tradition schoß. Der Yankee hat zuerst Maschinerie in Schneiderei, Schusterei usw. angewendet und sie sogar aus der Fabrik in das Privathaus übergeführt. Das Phänomen erklärt sich jedoch einfach. Die industrielle Produktion erheischt Produktion in Masse, auf großer Stufenleiter, für den Handel, statt für den Privatkonsum, und der Natur der Sache nach bieten Rohstoffe und Halbfabrikate das erste, fertige, für den unmittelbaren Konsum bestimmte Waren das letzte Gebiet ihrer Eroberung.

Jedoch scheint jetzt die Stunde des Untergangs für Bäckermeister und des Aufgangs für Brotfabrikanten in England geschlagen zu haben. Der Ekel und Abscheu, den Herrn Tremenheeres Enthüllungen über die "Mysterien des Brotes" hervorgerufen, würden allein zu einer solchen Revolution nicht hinreichen, käme nicht der Umstand hinzu, daß das Kapital, durch die amerikanische Krise massenhaft verjagt aus den längst von ihm monopolisierten Feldern, ängstlich nach neuen Gebieten der Ansiedlung umschaut.

Die Tagelöhner in den Londoner Bäckereien hatten das Parlament mit Beschwerdeschriften über ihre ausnahmsweise elende Lage überflutet. Der Minister des Innern ernannte Herrn Tremenheere zum Berichterstatter und gewissermaßen zum Untersuchungsrichter über diese Beschwerden. Es ist Herrn Tremenheeres Bericht, der das Sturmsignal gab.

Herrn Tremenheeres Bericht zerfällt in zwei Hauptabschnitte. Der erste schildert die Misere der Arbeiter in den Bäckereien; der zweite enthüllt die ekelhaften Mysterien der Brotbereitung selbst.

Der erste Teil schildert die Tagelöhner in den Bäckereien als "die weißen Sklaven der Zivilisation". Ihre gewöhnliche Arbeitszeit beginnt um 11 Uhr abends und währt bis 3 oder 4 Uhr nachmittags. Die Arbeit nimmt zu gegen Ende der Woche. In dem größten Teil der Londoner Bäckereien dauert sie ununterbrochen vom Donnerstag 10 Uhr abends bis samstags nachts. Das Durchschnittsalter dieser Arbeiter, die meist an der Auszehrung sterben, ist 42 Jahre.

Was nun die Brotbereitung selbst betrifft, so geht sie meist in engen, unterirdischen, schlecht oder gar nicht ventilierten Gewölben vor sich. Zu dem Mangel an Ventilation kommen die pestilenzialischen Ausdünstungen schlechter Abzugsschleusen, "und das Brot im Prozeß der Gärung saugt die schädlichen Gase ein, die es von allen Seiten umhüllen". Spinnweb, block beetles, Ratten und Mäuse "vermählen sich mit dem Teige".

|556| "Mit dem größten Widerwillen", sagt Herr Tremenheere, "wurde ich zum Schluß gezwungen, daß der Teig fast immer den Schweiß und oft krankhaftere Absonderungen der Kneter einsaugt."

Selbst die vornehmsten Bäckereien sind nicht frei von diesen eklen Widerlichkeiten, aber sie erreichen einen unbeschreiblichen Grad in den Backhöhlen, die das Brot der Armen liefern, wo auch die Verfälschung des Mehles durch Alum und Knochenerde sich am freiesten ergeht.

Herr Tremenheere schlägt strengere Gesetze gegen Brotfälschung vor, ferner Unterwerfung der Bäckereien unter Regierungsaufsicht, Beschränkung der Arbeitszeit für "junge Leute" (d.h. solche, die nicht das 18. Jahr erreicht), von 5 Uhr morgens bis 9 Uhr abends usw., erwartet aber vernünftigerweise die Beseitigung der aus der alten Produktionsweise selbst hervorgehenden Mißstände nicht vom Parlament, sondern von der großen Industrie.

In der Tat ist Stevens Maschine für Teigbereitung bereits an einzelnen Punkten eingeführt. Eine andere ähnliche Maschine befindet sich in der Industrieausstellung. Beide überlassen noch einen zu großen Teil des Backprozesses der Handarbeit. Dagegen hat Dr. Dauglish das ganze System der Brotbereitung revolutioniert. Von dem Augenblick, wo das Mehl den Speicher verläßt, bis zur Ankunft des Brotes in dem Backofen passiert es hier durch keine Menschenhand. Dr. Dauglish entfernt die Hefe ganz und bewirkt den Gärungsprozeß durch Anwendung von Kohlensäure. Er reduziert den ganzen Akt der Brotbereitung, das Backen eingeschlossen, von acht Stunden auf 30 Minuten. Die Nachtarbeit fällt ganz weg. Die Anwendung des kohlensauren Gases verbietet jede Beimischung von Verfälschungsstoffen. Eine große Ersparnis wird bewirkt durch die verschiedene Art der Gärung, namentlich aber auch durch Verbindung der neuen Maschinerie mit einer amerikanischen Erfindung, wodurch der kiesliche Überzug des Korns entfernt wird, ohne wie bisher Dreiviertel des Kleienüberzugs - nach dem französischen Chemiker Mège-Mouriès des nahrhaftesten Teils des Korns - zu zerstören. Dr. Dauglish berechnet, daß durch seine Verfahrungsart jährlich 8 Millionen Pfd.St. an Mehl für England gespart würden. Eine fernere Ersparung findet im Konsum der Kohlen statt. Die Kosten für Kohlen, die Dampfmaschine eingerechnet, werden für den Ofen von 1 Shilling auf 3 Pence reduziert. Das kohlensaure Gas, aus der besten Schwefelsäure bereitet, kostet ungefähr 9 Pence per Sack, während die Hefe jetzt den Bäckern über einen Shilling zu stehen kommt.

Eine Bäckerei nach der jetzt sehr verbesserten Methode des Dr. Dauglish war bereits vor einiger Zeit in einem Teil Londons, zu Dockhead, |557| Bermondsey, errichtet, ging aber wegen ungünstiger Lage des Geschäftslokales wieder ein. Gegenwärtig sind ähnliche Anstalten im Gang zu Portsmouth, Dublin, Leeds, Bath, Coventry, und wie es heißt, mit sehr günstigem Erfolg. Die kürzlich zu Islington (einer Vorstadt Londons) unter Dr. Dauglishs persönlicher Aufsicht errichtete Manufaktur ist mehr zur Erziehung der Arbeiter als für den Verkauf bestimmt. Vorbereitungen auf großer Stufenleiter zur Einführung der Maschinerie finden statt in der Munizipalbäckerei von Paris.

Die allgemeine Ausbreitung der Dauglishschen Methode wird die Mehrzahl der jetzigen englischen Bäckermeister in bloße Agenten einiger weniger großen Brotfabrikanten verwandeln. Sie werden nur noch mit dem Detailverkauf, nicht mehr mit der Produktion selbst zu tun haben - für die Mehrzahl keine besonders schmerzliche Metamorphose, indem sie schon jetzt faktisch bloße Agenten der größeren Müller sind. Der Sieg des Maschinenbrotes wird den Wendepunkt in der Geschichte der großen Industrie bezeichnen, wo sie die bisher hartnäckig verschanzten Schlupfwinkel der mittelalterlichen Handwerke erstürmt.