Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1866

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 16, 6. Auflage 1975, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 153-163.

1. Korrektur.
Erstellt am .

Friedrich Engels

Was hat die Arbeiterklasse mit Polen zu tun?

Geschrieben Ende Januar bis 6. April 1866.
Aus dem Englischen.


I

["The Commonwealth" Nr. 159 vom 24. März 1866]

An den Redakteur der "Commonwealth"

|153| Sir,

wo immer die Arbeiterklasse in politischen Bewegungen selbständig aufgetreten ist, läßt sich ihre Außenpolitik von Anfang an in den wenigen Worten ausdrücken: Wiederherstellung Polens. Das galt für die Chartistenbewegung, so lange sie existierte; das galt für die französischen Arbeiter schon lange vor 1848 wie auch im denkwürdigen Jahr 1848, als sie am 15. Mai zur Nationalversammlung zogen mit dem Ruf: "Vive la Pologne!" - "Es lebe Polen!" Das galt für Deutschland, als 1848 und 1849 die Organe der Arbeiterklasse Krieg mit Rußland forderten zur Wiederherstellung Polens. Das gilt auch für heute; bis auf eine Ausnahme - über die wir noch sprechen werden - proklamieren die Arbeiter Europas einstimmig die Wiederherstellung Polens als einen wesentlichen Bestandteil ihres politischen Programms, als umfassendsten Ausdruck ihrer Außenpolitik. Auch die Bourgeoisie hat "Sympathien" für Polen gehabt und hat sie noch; diese Sympathien haben sie jedoch nicht gehindert, die Polen 1831, 1846 und 1863 im Stich zu lassen, ja, haben sie nicht einmal gehindert, während sie mit Worten für Polen eintraten, den ärgsten Feind Polens, Leuten wie Lord Palmerston, die faktisch Rußland unterstützten, freie Hand zu lassen. Anders die Arbeiterklasse. Sie will Einmischung und keine Nichteinmischung; sie will Krieg mit Rußland, solange Rußland Polen nicht in Ruhe läßt; und sie hat das bewiesen, sooft die Polen sich gegen ihre Unterdrücker erhoben. Erst kürzlich hat die Internationale Arbeiterassoziation diesem allumfassenden instinktiven Gefühl der Klasse, als deren Repräsentant sie auftritt, noch stärkeren Ausdruck verliehen, indem sie auf ihr |154| Banner schrieb: "Widerstand gegen russische Übergriffe in Europa - Wiederherstellung Polens!"

Dieses Programm der Außenpolitik der Arbeiter West- und Mitteleuropas hat die einmütige Zustimmung der Klasse gefunden, an die es gerichtet war, bis auf eine Ausnahme, wie wir schon sagten. Unter den Arbeitern Frankreichs gibt es eine kleine Minderheit von Anhängern der Schule des seligen P. J. Proudhon. Diese Schule unterscheidet sich in toto von der Mehrzahl der fortgeschrittenen und denkenden Arbeiter, sie erklärt diese für unwissende Narren und vertritt in den meisten Fragen Meinungen, die den ihrigen völlig entgegengesetzt sind. Das bestätigt sich auch in ihrer Außenpolitik. Die Proudhonisten, die über das unterdrückte Polen zu Gericht sitzen, fällen dasselbe Urteil über dieses Land wie die Stalybridge-Jury: "Geschieht ihm recht." Sie bewundern Rußland als das große Land der Zukunft, als die fortschrittlichste Nation auf Erden, neben dem ein so armseliges Land wie die Vereinigten Staaten nicht wert ist, genannt zu werden. Sie haben den Rat der Internationalen Arbeiterassoziation beschuldigt, er wende das bonapartistische Nationalitätsprinzip an und erkläre das großmütige russische Volk für außerhalb der Grenzen des zivilisierten Europas stehend; das sei eine schwere Sünde gegen die Prinzipien der allgemeinen Demokratie und der Brüderlichkeit aller Nationen. So sehen ihre Anschuldigungen aus. Wenn man von ihrer demokratischen Phraseologie absieht, wird sofort offenbar, daß sie in Wort und Schrift wiederholen, was die extremen Tories aller Länder über Polen und Rußland zu sagen haben. Derartige Anschuldigungen verdienten keine Widerlegung; da sie aber von einem Teil der Arbeiterklasse stammen, mag dieser auch noch so klein sein, halten wir es für angebracht, noch einmal die russisch-polnische Frage zu untersuchen und das zu begründen, was hinfort als die Außenpolitik der vereinigten Arbeiter Europas bezeichnet werden kann.

Doch warum nennen wir, wenn von Polen die Rede ist, Rußland immer allein? Haben nicht zwei deutsche Mächte, Österreich und Preußen, an dem Raub teilgenommen? Halten sie nicht gleichfalls Teile von Polen in Knechtschaft, und trachten sie nicht im Bunde mit Rußland danach, jede nationale polnische Bewegung zu unterdrücken?

Es ist nachgerade bekannt, wie sehr sich Österreich gewunden hat, um sich aus dem polnischen Geschäft herauszuhalten, und wie lange es sich den Teilungsplänen Rußlands und Preußens widersetzte. Polen war ein natürlicher Verbündeter Österreichs gegen Rußland. Als Rußland dann zu einer furchtbaren Macht wurde, konnte nichts mehr im Interesse Österreichs liegen, als Polen zwischen sich und dem aufstrebenden Kaiser- |155| reich am Leben zu erhalten. Erst als Österreich sah, daß Polens Schicksal besiegelt war, daß die anderen beiden Mächte, mit oder ohne Österreich, entschlossen waren, es zu vernichten, erst dann schloß Österreich sich ihnen aus Gründen der Selbsterhaltung an, um bei der Aufteilung des Territoriums nicht leer auszugehen. Doch schon 1815 trat es für die Wiederherstellung eines unabhängigen Polen ein; 1831 und 1863 war es bereit, für dieses Ziel in den Krieg zu ziehen und auf seinen Anteil an Polen zu verzichten, vorausgesetzt, daß England und Frankreich sich dazu verstünden, Österreich zu unterstützen. Während des Krimkriegs war es nicht anders. Dies alles soll nicht die allgemeine Politik der österreichischen Regierung rechtfertigen. Österreich hat oft genug bewiesen, daß die Unterdrückung einer schwächeren Nation zu den Gewohnheiten seiner Herrscher zählt. Doch im Falle Polens war der Selbsterhaltungstrieb stärker als die Gier nach neuen Gebieten oder die Gewohnheiten der Regierung. Deshalb scheidet Österreich zunächst aus unseren Betrachtungen aus.

Was Preußen anbelangt, so ist sein Anteil an Polen zu geringfügig, um ins Gewicht zu fallen. Sein Freund und Verbündeter Rußland hat es fertiggebracht, Preußen um neun Zehntel dessen zu erleichtern, was es bei den drei Teilungen erhalten hatte. Das wenige aber, was ihm geblieben ist, lastet auf ihm wie ein Alpdruck. Es hat Preußen vor den Triumphwagen Rußlands gespannt; es hat seine Regierung in den Stand gesetzt, selbst 1863 und 1864 unangefochten Gesetzesverletzungen, Verstöße gegen die persönliche Freiheit, das Versammlungsrecht und die Preßfreiheit in Preußisch-Polen zu praktizieren und bald darauf auch im ganzen übrigen Lande; es hat die ganze liberale Bewegung der Bourgeoisie entstellt, die aus Furcht, ein paar Quadratmeilen Land an der Ostgrenze zu riskieren, der Regierung erlaubte, die Polen außerhalb des Gesetzes zu stellen. Vor allen anderen Arbeitern haben die Arbeiter nicht nur Preußens, sondern ganz Deutschlands ein besonderes Interesse an der Wiederherstellung Polens, und sie haben in jeder revolutionären Bewegung bewiesen, daß sie sich dessen bewußt sind. Wiederherstellung Polens heißt für sie Befreiung ihres eigenen Landes von russischer Knechtschaft. Und deshalb, meinen wir, scheidet auch Preußen aus unseren Betrachtungen aus. Wenn die Arbeiterklasse Rußlands (vorausgesetzt, daß es in diesem Lande etwas derartiges in dem Sinne gibt, was man in Westeuropa darunter versteht) ein politisches Programm aufstellen wird und dieses Programm die Befreiung Polens enthält - dann, aber erst dann, wird auch Rußland als Nation aus unseren Betrachtungen ausscheiden, und allein die zaristische Regierung wird weiter unter Anklage stehen.

II

["The Commonwealth" Nr. 160 vom 31. März 1866]

An den Redakteur der "Commonwealth"

|156| Sir, es wird behauptet, die Unabhängigkeit Polens zu fordern bedeute, das "Nationalitätsprinzip" anzuerkennen, und das Nationalitätsprinzip sei eine bonapartistische Erfindung, die ausgeheckt wurde, um den napoleonischen Despotismus in Frankreich zu stützen. Was ist nun dieses "Nationalitätsprinzip"?

Durch die Verträge von 1815 wurden die Grenzen der verschiedenen europäischen Staaten allein nach dem Belieben der Diplomatie gezogen und hauptsächlich nach dem Belieben der damals stärksten Kontinentalmacht - Rußlands. Man trug weder den Wünschen und Interessen noch den nationalen Unterschieden der Bevölkerung Rechnung. Auf diese Weise wurde Polen geteilt, Deutschland geteilt, Italien geteilt, ganz zu schweigen von den vielen kleineren Nationalitäten, die Südosteuropa bewohnen und von denen zu jener Zeit nur wenige etwas wußten. Infolgedessen war für Polen, Deutschland und Italien der allererste Schritt jeder politischen Bewegung das Streben nach Wiederherstellung der nationalen Einheit, ohne die nationales Leben nur ein Schatten war. Und als nach der Niederschlagung der revolutionären Versuche in Italien und Spanien 1821-1823 und wiederum nach der Julirevolution von 1830 in Frankreich die radikalen Politiker des größeren Teils des zivilisierten Europas miteinander in Verbindung traten und versuchten, eine Art gemeinsames Programm auszuarbeiten, wurde die Befreiung und Einigung der unterdrückten und zerrissenen Nationen ihre gemeinsame Losung. So war es auch 1848, als die Zahl der unterdrückten Nationen um eine Nation vermehrt wurde, nämlich Ungarn. Es konnte wirklich nicht zwei Meinungen geben über das Recht jeder der großen nationalen Gebilde Europas, in allen inneren Angelegenheiten, unabhängig von ihren Nachbarn, selbst zu bestimmen, solange dies nicht die Freiheit der andern beeinträchtigte. Dieses Recht war in der Tat eine der grundlegenden Bedingungen der inneren Freiheit für alle. Wie könnte z.B. Deutschland nach Freiheit und Einheit streben, wenn es zur selben Zeit Österreich beistünde, Italien entweder direkt oder durch seine Vasallen in Knechtschaft zu halten? Ist doch die völlige Zerschlagung der österreichischen Monarchie die erste Bedingung der Einigung Deutschlands!

|157| Dieses Recht der großen nationalen Gebilde Europas auf politische Unabhängigkeit, anerkannt von der europäischen Demokratie, mußte natürlich die gleiche Anerkennung insbesondere von seiten der Arbeiterklasse finden. Das bedeutete in der Tat nichts anderes als die Anerkennung des gleichen Rechts auf eigene nationale Existenz für andere große, zweifellos lebensfähige Nationen, das die Arbeiter jedes einzelnen Landes für sich beanspruchten. Doch diese Anerkennung und die Sympathie mit den nationalen Bestrebungen beschränkten sich auf die großen und genau definierten historischen Nationen Europas; das waren Italien, Polen, Deutschland und Ungarn. Frankreich, Spanien, England, Skandinavien, die weder geteilt waren noch unter ausländischer Kontrolle standen, waren nur indirekt an der Sache interessiert; und was Rußland betrifft, so kann man seiner nur Erwähnung tun als dem Besitzer einer ungeheuren Menge gestohlenen Eigentums, das es am Tag der Abrechnung wieder herausrücken muß.

Nach dem Coup d'état von 1851 mußte Louis-Napoleon, der Kaiser "von Gottes Gnaden und durch den Willen des Volkes" einen demokratisierten und volkstümlich klingenden Namen für seine Außenpolitik finden. Was konnte besser sein, als auf sein Panier das "Nationalitätsprinzip" zu schreiben? Jede Nationalität der Schiedsrichter ihres eigenen Schicksals; jeder abgetrennte Teil einer Nationalität berechtigt, sich seinem großen Mutterlande anzuschließen - was hätte liberaler sein können? Nur beachte man - nicht von Nationen mehr war jetzt die Rede, sondern von Nationalitäten.

Es gibt kein Land in Europa, in dem es nicht verschiedene Nationalitäten unter einer Regierung gäbe. Die Hochland-Gälen und die Waliser unterscheiden sich zweifellos der Nationalität nach von den Engländern, doch niemandem fiele ein, diese Reste längst verschwundener Völker - oder gar die keltischen Bewohner der Bretagne in Frankreich - als Nationen zu bezeichnen. Überdies stimmt keine Staatsgrenze mit der natürlichen Grenze der Nationalität, mit der Sprachgrenze, überein. Es gibt viele Menschen außerhalb Frankreichs, deren Muttersprache Französisch ist, ebenso wie es außerhalb Deutschlands viele Menschen deutscher Zunge gibt; und aller Wahrscheinlichkeit nach wird das auch immer so bleiben. Es ist ein natürliches Resultat der verworrenen und allmählichen historischen Entwicklung Europas während der letzten tausend Jahre, daß sich fast jede größere Nation von einigen Randteilen ihres Körpers trennen mußte, die sich vom nationalen Leben losgelöst haben und meistenteils dem nationalen Leben eines anderen Volkes anschlossen; und dies so gründlich, daß sie |158| kein Bedürfnis haben, sich ihrem Hauptstamm wieder anzuschließen. Die Deutschen in der Schweiz und im Elsaß verlangen nicht danach, mit Deutschland wiedervereint zu werden, und ebensowenig wünschen die Franzosen in Belgien und in der Schweiz, Frankreich politisch angegliedert zu werden. Und schließlich ist es von nicht geringem Vorteil, daß die verschiedenen Nationen, wie sie sich politisch konstituiert haben, zumeist einige fremdländische Elemente in sich aufgenommen haben, die Verbindungsglieder zu ihren Nachbarn bilden und Abwechslung in die sonst zu monotone Gleichartigkeit des nationalen Charakters bringen.

Hier sehen wir nun den Unterschied zwischen dem "Nationalitäts-prinzip" und dem alten Grundsatz der Demokratie und der Arbeiterklasse über das Recht der großen europäischen Nationen auf selbständige und unabhängige Existenz. Das "Nationalitätsprinzip" läßt die große Frage des Rechts auf nationale Existenz für die historischen Völker Europas völlig unberührt; und wenn es sie berührt, so nur, um sie zu verwirren. Das Nationalitätsprinzip wirft zwei Arten von Fragen auf: erstens Fragen nach den Grenzen zwischen diesen großen historischen Völkern und zweitens Fragen des Rechts der zahlreichen kleinen Überbleibsel jener Völker auf unabhängige nationale Existenz, die, nachdem sie längere oder kürzere Zeit auf dem Schauplatz der Geschichte aufgetreten sind, schließlich als Bestandteile in diese oder jene mächtigere Nation eingingen, welche vermöge ihrer größeren Lebenskraft imstande war, größere Hindernisse zu überwinden. Die europäische Bedeutung eines Volkes, seine Lebenskraft bedeuten nichts vom Standpunkt des Nationalitätsprinzips; für dieses Prinzip bedeuten die Rumänen in der Walachei, die niemals eine Geschichte hatten noch die hierzu erforderliche Energie, ebensoviel wie die Italiener mit ihrer zweitausendjährigen Geschichte und ungeschwächten nationalen Lebenskraft; die Waliser und die Bewohner der Insel Man hätten, wenn sie es wünschten, das gleiche Recht auf unabhängige politische Existenz wie die Engländer, so absurd das auch erscheinen mag. Das Ganze ist eine Absurdität, in ein volkstümliches Gewand gekleidet, um einfältigen Leuten Sand in die Augen zu streuen, die man als bequeme Phrase benutzen oder beiseite werfen kann, wenn dies die Umstände erfordern.

So einfältig diese Erfindung ist, bedurfte es doch eines klügeren Kopfes als den Louis-Napoleons, um sie zu ersinnen. Das Nationalitätsprinzip ist nicht etwa eine bonapartistische Erfindung zur Wiedergeburt Polens, sondern lediglich eine russische Erfindung, die ausgeheckt wurde, um Polen zu vernichten. Rußland hat den größeren Teil des alten Polens unter dem Vorwand des Nationalitätsprinzips verschluckt, wie wir noch sehen werden. Schon |159| über hundert Jahre existiert diese Idee, deren sich Rußland jetzt ständig bedient. Was anderes ist Panslawismus als die Anwendung des Nationalitätsprinzips durch Rußland in russischem Interesse auf die serbischen, kroatischen, ruthenischen, slowakischen, tschechischen und anderen Überreste früherer Völker in der Türkei, in Ungarn und Deutschland? Selbst im gegenwärtigen Augenblick läßt die russische Regierung Agenten unter den Lappen im nördlichen Norwegen und in Schweden umherreisen, um unter diesen nomadisierenden Wilden den Gedanken einer "großen finnischen Nationalität" zu propagieren, die im äußersten Norden Europas, selbstverständlich unter russischem Protektorat, wiederhergestellt werden soll. Der "Verzweiflungsschrei" der unterdrückten Lappländer ertönt sehr laut in den russischen Zeitungen, doch nicht diese unterdrückten Nomaden stoßen ihn aus, sondern die russischen Agenten. Es ist wahrlich eine fürchterliche Unterdrückung, diese armen Lappländer zu zwingen, die zivilisierte norwegische oder schwedische Sprache zu erlernen, statt sie auf ihre eigene barbarische Halbeskimo-Mundart zu beschränken! Das Nationalitätsprinzip konnte in der Tat nur in Osteuropa erfunden werden, über das sich tausend Jahre hindurch wieder und wieder die Flut der asiatischen Invasion ergoß, die am Ufer jene Häuflein vermengter Trümmer von Nationen zurückließ, die selbst heute noch der Ethnologe kaum entwirren kann, und wo der Türke, der finnische Magyar, der Rumäne, der Jude und etwa ein Dutzend slawischer Stämme in grenzenlosem Durcheinander vermengt sind. Das war der Boden, auf dem man das Nationalitätsprinzip entwickeln konnte, und wie es Rußland entwickelt hat, werden wir bald am Beispiel Polens sehen.

III

["The Commonwealth" Nr. 165 vom 5. Mai 1866]

Die Anwendung der Nationalitätsdoktrin auf Polen

Polen wird, wie fast alle europäischen Länder, von Menschen verschiedener Nationalitäten bewohnt. Die Masse der Bevölkerung, ihren Kern, bilden zweifellos die eigentlichen Polen, die polnisch sprechen. Doch seit 1390 schon war das eigentliche Polen mit dem Großherzogtum Litauen vereinigt, das bis zur letzten Teilung von 1794 einen integrierenden Teil der Polnischen Republik bildete. Dieses Großherzogtum Litauen war von den verschiedensten Stämmen bewohnt. Die nördlichen baltischen Pro- |160| vinzen an der Ostsee waren im Besitz der eigentlichen Litauer, eines Volkes, das eine andere Sprache als seine slawischen Nachbarn sprach. Diese Litauer waren zu einem großen Teil von deutschen Einwanderern unterworfen worden, die sich wiederum nur mit Mühe gegen die litauischen Großherzöge verteidigten. Weiter südlich und östlich des jetzigen Königreichs Polen saßen die Weißrussen, die eine Sprache sprechen, die ein Mittelding zwischen Polnisch und Russisch ist, dabei aber dem letzteren näher steht; und die südlichen Provinzen schließlich waren von den sogenannten Kleinrussen bewohnt, von deren Sprache die meisten Autoritäten heute sagen, daß sie sich völlig vom Großrussischen unterscheide (der Sprache, die wir gewöhnlich Russisch nennen). Leute, die da sagen, die Wiederherstellung Polens fordern heiße, sich auf das Nationalitätsprinzip berufen, beweisen daher nur, daß sie nicht wissen, was sie reden, denn die Wiederherstellung Polens bedeutet die Wiedererrichtung eines aus wenigstens vier verschiedenen Nationalitäten zusammengesetzten Staates.

Doch was war mit Rußland, als durch die Union mit Litauen der alte polnische Staat gebildet wurde? Es wand sich unter dem Joch des mongolischen Eroberers, den 150 Jahre zuvor die Polen und Deutschen vereint nach Osten hinter den Dnepr zurückgejagt hatten. Ein langer Kampf war nötig, bis die Großfürsten von Moskau das mongolische Joch endlich abgeschüttelt hatten und darangingen, die vielen verschiedenen Fürstentümer Großrußlands in einem Staat zu vereinigen. Aber dieser Erfolg scheint ihren Ehrgeiz nur angestachelt zu haben. Konstantinopel war kaum an die Türken gefallen, als der Großfürst von Moskau den doppelköpfigen Adler der byzantinischen Kaiser in sein Wappenschild einsetzte und damit seine Ansprüche als deren Nachfolger und künftiger Rächer geltend machte. Seitdem haben die Russen bekanntlich das Ziel verfolgt, Zargrad, die Stadt des Zaren, wie sie Konstantinopel in ihrer Sprache nennen, zu erobern. Dann reizten die reichen Ebenen Kleinrußlands ihre Annexionslust; aber die Polen waren schon immer ein tapferes und damals auch starkes Volk, das sich nicht nur zu behaupten verstand, sondern auch Vergeltung zu üben wußte: Anfang des siebzehnten Jahrhunderts hielten sie sogar Moskau einige Jahre lang besetzt.

Die allmähliche Demoralisierung der herrschenden Aristokratie, der Mangel an Kraft, eine Bourgeoisie zu entwickeln, und die ständigen, das Land verwüstenden Kriege, brachen schließlich Polens Macht. Ein Land, das beharrlich an der feudalen Gesellschaftsordnung festhielt, während alle seine Nachbarn vorwärtsschritten, eine Bourgeoisie bildeten, Handel und Industrie entwickelten und große Städte schufen - ein solches Land |161| war zum Untergang verurteilt. Die Aristokratie führte Polen wahrlich in den Untergang, in den völligen Untergang; und nachdem die Aristokraten dies getan hatten, huben sie an, dies einander vorzuwerfen und sich und ihr Land an die Ausländer zu verkaufen. Die polnische Geschichte von 1700-1772 ist nichts als eine Chronik russischer Usurpation der Herrschaft in Polen, die durch die Bestechlichkeit des Adels ermöglicht wurde. Russische Soldaten hielten das Land fast ständig besetzt, und die polnischen Könige gerieten, wollten sie selbst auch keine Verräter sein, mehr und mehr in die Gewalt des russischen Botschafters. Dieses Spiel verlief so erfolgreich und wurde so lange fortgesetzt, daß nicht ein einziger Protest in Europa laut wurde, als Polen schließlich vernichtet war, und sich nur alles darob verwunderte, wie Rußland so edelmütig sein konnte, Österreich und Preußen einen derart großen Teil des Gebietes abzutreten.

Besonders interessant ist die Art und Weise, wie diese Teilung vorgenommen wurde. Es gab zu jener Zeit bereits eine aufgeklärte "öffentliche Meinung" in Europa. Wenn auch noch nicht die "Times" mit der Fabrikation dieses Artikels begonnen hatte, so gab es doch jene Art der öffentlichen Meinung, die sich unter dem gewaltigen Einfluß von Diderot, Voltaire, Rousseau und den anderen französischen Schriftstellern des achtzehnten Jahrhunderts gebildet hatte. Rußland wußte stets, wie wichtig es ist, die öffentliche Meinung möglichst auf seiner Seite zu haben, und es verfehlte nicht, sich diese dienstbar zu machen. Der Hof Katharinas II. wurde zum Stabsquartier der aufgeklärten Männer jener Tage, besonders der Franzosen; die Kaiserin und ihr Hof bekannten sich zu den höchsten Prinzipien der Aufklärung, und es gelang ihr, die öffentliche Meinung so trefflich zu täuschen, daß Voltaire und viele andere das Lob der "Semiramis des Nordens" sangen und Rußland als das fortgeschrittenste Land der Welt priesen, als die Heimat liberaler Prinzipien, den Verfechter religiöser Toleranz.

Religiöse Toleranz - hier war das fehlende Wort, womit man Polen den Garaus machen konnte. Polen ist in religiösen Dingen stets äußerst liberal gewesen; davon zeugt, daß die Juden dort Asyl fanden, als sie in allen anderen Teilen Europas verfolgt wurden. Der größte Teil der Bevölkerung in den östlichen Provinzen gehörte dem griechisch-orthodoxen Glauben an, während die eigentlichen Polen römisch-katholisch waren. Ein erheblicher Teil dieser Griechisch-Orthodoxen war im sechzehnten Jahrhundert gezwungen worden, das Supremat des Papstes anzuerkennen; man nannte sie unierte Griechen; doch viele von ihnen hielten in jeder Beziehung an ihrem alten griechisch-orthodoxen Glauben fest. In der Hauptsache waren |162| das die Leibeigenen, während ihre adligen Herren fast alle römisch-katholisch waren; der Nationalität nach waren die Leibeigenen Kleinrussen. Diese russische Regierung nun, die zu Hause keine andere Religion als die griechisch-orthodoxe duldete und Abtrünnigkeit als Verbrechen bestrafte; die fremde Nationen eroberte und links und rechts fremde Provinzen annektierte; die zu jener Zeit dabei war, die Ketten des russischen Leibeigenen noch fester anzuziehen - diese selbe russische Regierung fiel bald im Namen der religiösen Toleranz über Polen her, weil angeblich Polen die Griechisch-Orthodoxen unterdrückte; im Namen des Nationalitätsprinzips, weil die Bewohner dieser östlichen Provinzen Kleinrussen waren und daher Großrußland einverleibt werden mußten; und im Namen des Rechts der Revolution, indem sie die Leibeigenen gegen ihre Herren bewaffnete. Rußland kennt keine Skrupel bei der Wahl seiner Mittel. Man sagt, daß der Krieg Klasse gegen Klasse etwas äußerst revolutionäres sei; Rußland brach in Polen einen solchen Krieg schon vor ungefähr 100 Jahren vom Zaun, und es war ein schönes Muster von Klassenkrieg, als russische Soldaten und kleinrussische Leibeigene gemeinsam darangingen, die Schlösser der polnischen Adligen niederzubrennen, nur um die russische Annexion vorzubereiten; sobald diese vollbracht war, führten dieselben russischen Soldaten die Leibeigenen unter das Joch ihrer Herren zurück.

Das alles geschah im Namen der religiösen Toleranz, weil das Nationalitätsprinzip damals in Westeuropa noch nicht in Mode war. Doch es wurde den kleinrussischen Bauern schon damals vor Augen geführt und hat seitdem in polnischen Angelegenheiten eine bedeutende Rolle gespielt. Erstes und vorrangiges Bestreben Rußlands ist die Einigung aller russischen Stämme unter dem Zaren, der sich selbst Herrscher aller Reußen (Samodergetz vseckh Rossyiskikh) nennt, wobei es auch Weiß- und Kleinrußland einbezieht. Um zu beweisen, daß seine Bestrebungen nicht darüber hinausgehen, achtete es sehr genau darauf, während der drei Teilungen nur weiß- und kleinrussische Provinzen zu annektieren, und überließ seinen Komplizen das von den Polen bewohnte Gebiet, ja sogar einen Teil Kleinrußlands (Ostgalizien). Doch wie stehen die Dinge jetzt? Der größte Teil der 1793 und 1794 von Österreich und Preußen annektierten Provinzen befindet sich jetzt unter russischer Herrschaft und trägt die Bezeichnung Königreich Polen, und von Zeit zu Zeit erwachen unter den Polen Hoffnungen, daß sie sich nur der russischen Oberhoheit zu unterwerfen und alle Ansprüche auf die alten litauischen Provinzen aufzugeben hätten, um eine Wiedervereinigung aller anderen polnischen Provinzen und eine Wiederherstellung Polens mit dem russischen Kaiser als König erwarten |163| zu können. Und sollten Preußen und Österreich unter den jetzigen kritischen Umständen ins Handgemenge geraten, so ist es mehr als wahrscheinlich, daß dieser Krieg in letzter Instanz nicht um die Annexion Schleswig-Holsteins durch Preußen oder Venedigs durch Italien gehen wird, sondern eher um die Annexion eines österreichischen Teils, doch mindestens eines Teils von Preußisch-Polen durch Rußland.

Soviel zum Nationalitätsprinzip in polnischen Angelegenheiten.

Friedrich Engels