Inhaltsverzeichnis Rezensionen des Ersten Bandes "Das Kapital" 1867

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 16, 6. Auflage 1975, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 207-209.

1. Korrektur.
Erstellt am .

Friedrich Engels

[Rezension des Ersten Bandes "Das Kapital" für die "Zukunft"]

Geschrieben am 12. Oktober 1867.
Nach der Handschrift.


K. Marx. Das Kapital. Erster Band. Hamburg, Meißner,
1867. 784 Seiten, 8°

|207| Es ist eine für jeden Deutschen betrübende Tatsache, daß wir, das Volk der Denker, auf dem Gebiete der politischen Ökonomie bisher so wenig geleistet haben. Unsre Berühmtheiten auf diesem Fach sind günstigstenfalls Kompilatoren wie Rau und Roscher, und wo etwas Originelles geliefert wird, da haben wir Schutzzöllner wie List (der übrigens einen Franzosen abgeschrieben haben soll) oder Sozialisten wie Rodbertus und Marx. Unsre korrekte politische Ökonomie scheint es sich wirklich zur Aufgabe gestellt zu haben, jeden, der es mit der ökonomischen Wissenschaft ernstlich meint, dem Sozialismus in die Arme zu treiben. Haben wir es doch erlebt, daß die ganze offizielle Ökonomie es gewagt hat, einem Lassalle gegenüber das altbekannte und anerkannte Gesetz über die Bestimmung des Arbeitslohnes zu verleugnen, und daß es einem Lassalle überlassen blieb, Leute wie Ricardo gegen Schulze-Delitzsch u.a. in Schutz zu nehmen! Es ist leider wahr, nicht einmal mit Lassalle konnten sie wissenschaftlich fertig werden und mußten - welche Anerkennung auch immer ihre praktischen Bestrebungen verdienen mochten - den Vorwurf auf sich sitzen lassen, ihre ganze Wissenschaft bestehe in der Verwässerung der alle Gegensätze und Schwierigkeiten vertuschenden Harmonien eines Bastiat. Bastiat als Autorität und Ricardo verleugnet - das ist unsre offizielle Ökonomie heutzutage in Deutschland! Aber freilich, wie soll es anders sein? Die Ökonomie ist leider bei uns ein Feld, für das sich niemand wissenschaftlich interessiert, sie ist entweder ein Stück Brotstudium fürs kameralistische Examen oder ein möglichst oberflächlich zu erlernendes Hülfsmittel für die politische Agitation. Ob unsre staatliche Zersplitterung, unsre leider noch so wenig entwickelte Industrie oder unsre, in dieser Branche der Wissenschaft herkömmliche Abhängigkeit vom Ausland daran schuld sind?

|208| Unter diesen Umständen ist es immer erfreulich, ein Buch in die Hand zu bekommen wie das obige, worin der Verfasser, während er die jetzt kursierende verwässerte oder, wie er sie recht treffend nennt, "Vulgärökonomie" mit Entrüstung auf ihre klassischen Vorbilder bis Ricardo und Sismondi zurückverweist, sich auch den Klassikern gegenüber zwar kritisch verhält, aber doch stets den Gang streng wissenschaftlicher Untersuchung beizubehalten strebt. Die früheren Schriften von Marx, namentlich die im Jahre 1859 bei Duncker in Berlin erschienene über das Geldwesen, zeichneten sich schon durch einen streng wissenschaftlichen Geist ebensosehr aus wie durch rücksichtslose Kritik, und unsres Wissens hat unsre ganze offizielle Ökonomie bisher nichts dagegen vorgebracht. Wenn sie aber schon mit der damaligen Schrift nicht fertig wurde, wie wird es ihr jetzt bei diesen 49 Bogen über das Kapital ergehen? Man verstehe uns recht. Wir sagen nicht, daß sich gegen die Deduktionen dieses Buches nichts einwenden ließe, daß Marx seine Beweise vollständig erbracht habe; wir sagen bloß: Wir glauben nicht, daß sich unter unsern sämtlichen Ökonomen einer finden werde, der imstande ist, sie zu widerlegen. Die Untersuchungen, die in diesem Buche geführt werden, sind von der höchsten wissenschaftlichen Feinheit. Wir berufen uns vor allem auf die künstlerische, dialektische Anlage des Ganzen, auf die Weise, wie in dem Begriff der Ware bereits das Geld als an sich existierend dargestellt, wie aus dem Geld das Kapital entwickelt wird. Wir bekennen, daß wir die neu eingeführte Kategorie des Mehrwerts für einen Fortschritt halten; daß wir nicht einsehen, was sich dagegen sagen läßt, wenn behauptet wird, nicht die Arbeit, sondern die Arbeitskraft erscheine als Ware auf dem Markte; daß wir die Berichtigung zum Ricardoschen Gesetz über die Rate des Profits (daß statt Profit gesetzt werden müsse: Mehrwert) für ganz in der Ordnung ansehen. Wir müssen gestehen, daß der historische Sinn, der durch das ganze Buch geht und der es dem Verfasser verbietet, die ökonomischen Gesetze für ewige Wahrheiten, für etwas anderes anzusehen als die Formulierung der Existenzbedingungen gewisser vorübergehender Gesellschaftszustände, uns sehr angesprochen hat; daß die Gelehrsamkeit und der Scharfsinn, mit dem hierbei die verschiedenen geschichtlichen Gesellschaftszustände und ihre Existenzbedingungen dargestellt sind, auf seiten unsrer offiziellen Ökonomen leider vergebens gesucht werden dürften. Untersuchungen wie die über die ökonomischen Bedingungen und Gesetze der Sklaverei, der verschiedenen Formen der Leibeigenschaft und Hörigkeit und über die Entstehung der freien Arbeiter sind unsern Fachökonomen bisher ganz fremd geblieben. Wir möchten ebenfalls gerne die Meinung dieser Herren über |209| die uns hier gegebenen Entwicklungen über Kooperation, Teilung der Arbeit und Manufaktur, Maschinerie und große Industrie in ihren historischen und ökonomischen Zusammenhängen und Wirkungen hören, sie können hier jedenfalls manches Neue lernen. Und was werden sie namentlich zu der allen hergebrachten Theorien der freien Konkurrenz ins Gesicht schlagenden und nichtsdestoweniger hier aus offiziellem Material nachgewiesenen Tatsache sagen, daß in England, im Vaterland der freien Konkurrenz, jetzt fast kein Arbeitszweig mehr besteht, dem nicht durch Staatseingriffe die tägliche Arbeitszeit streng vorgeschrieben ist und dem nicht der Fabrikinspektor aufpaßt? Und daß dennoch, im Maß wie die Arbeitszeit beschränkt wird, nicht nur die einzelnen Industriezweige sich heben, sondern auch der einzelne Arbeiter in der kürzeren Zeit mehr Produkt liefert als früher in der längeren?

Es ist leider nicht zu leugnen, daß der besonders herbe Ton, den der Verfasser gegen die offiziellen deutschen Ökonomen anschlägt, nicht ungerechtfertigt ist. Sie alle gehören mehr oder weniger zur "Vulgärökonomie", sie haben der Popularität des Tages zuliebe ihre Wissenschaft prostituiert und deren klassische Koryphäen verleugnet. Sie sprechen von "Harmonien" und treiben sich in den banalsten Widersprüchen herum. Möge die harte Lektion, die ihnen dies Buch erteilt, dazu dienen, sie aus ihrer Lethargie zu wecken, ihnen in Erinnerung zu bringen, daß die Ökonomie nicht bloß eine nährende Kuh ist, die uns mit Butter versorgt, sondern eine Wissenschaft, die einen ernsten und eifrigen Kultus verlangt.