Inhaltsverzeichnis Dokumente der Internationalen Arbeiter-Assoziation 1869

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 16, 6. Auflage 1975, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 350-354.

1. Korrektur.
Erstellt am .

Karl Marx

Die belgischen Metzeleien

Nach dem Flugblatt.
Aus dem Englischen.


An die Arbeiter von Europa und den Vereinigten Staaten

|350| In England vergeht kaum eine Woche ohne Strikes - und Strikes von einem großartigen Umfange. Ließe die Regierung bei solchen Gelegenheiten ihre Soldaten gegen die Arbeiterklasse los, so würde dieses Land der Strikes bald zum Land der Metzeleien werden - aber nicht für lange. Nach einigen derartigen Probestücken physischer Gewalt würde die derzeitige Macht verschwinden. In den Vereinigten Staaten nahmen während der letzten Jahre ebenfalls die Strikes beständig an Zahl und Umfang zu und haben zuweilen sogar den Charakter von Unruhen angenommen. Aber kein Blut ward vergossen. In einigen der großen Militärstaaten des europäischen Kontinents kann die Ära der Strikes vom Ende des Amerikanischen Bürgerkriegs datiert werden. Aber auch hier ward kein Blut vergossen. Es gibt nur ein Land in der zivilisierten Welt, wo jeder Strike begierig und nur zu gern als Vorwand ergriffen wird, um die Arbeiterklasse offiziell niederzumetzeln. Das so einzig beglückte Land ist Belgien, der Musterstaat des kontinentalen Konstitutionalismus, das behagliche, wohlumzäunte kleine Paradies des Grundbesitzers, des Kapitalisten und des Pfaffen. Die Erde vollendet ihre jährliche Umwälzung nicht sicherer, als die belgische Regierung ihre jährliche Arbeitermetzelei. Die diesjährige Metzelei unterscheidet sich von der vorjährigen nur durch die greulichere Anzahl der Schlachtopfer, die scheußlicheren Greueltaten einer sonst lächerlichen Armee, das lärmendere Frohlocken der Pfaffen- und Kapitalistenpresse und die unverschämtere Nichtigkeit des Vorwands, den die Regierungsschlächter vorbringen.

Es ist jetzt erwiesen, selbst durch die unbedachtsamerweise veröffentlichten Berichte der Kapitalistenpresse, daß der durchaus rechtmäßige Strike der Puddler der Cockerillschen Eisenwerke zu Seraing nur in eine Emeute verwandelt wurde durch eine starke Abteilung Kavallerie und Gendarmerie, die plötzlich auf den Platz geworfen wurde, um das Volk zu provozieren. Vom 9. bis zum 12. April fielen diese mutigen Krieger nicht |351| allein mit Säbeln und Bajonetten über wehrlose Arbeiter her - sie töteten und verwundeten ohne Unterschied friedliche Fußgänger, brachen gewaltsam in Privathäuser ein und belustigten sich sogar damit, wiederholt rasende Angriffe auf die in der Serainger Bahnstation eingesperrten Reisenden zu machen. Als diese Schreckenstage vorüber waren, verbreitete sich das Gerücht, daß Herr Kamp, der Bürgermeister von Seraing, ein Agent der Cockerillschen Aktiengesellschaft war, daß der belgische Minister des Innern, ein gewisser Herr Pirmez, der größte Aktionär einer benachbarten Kohlenmine ist, die ebenfalls im Strike stand, und daß Seine Königliche Hoheit der Prinz von Flandern 1.500.000 Francs in den Cockerillschen Werken angelegt hat. Daher der wahrhaft befremdende Schluß, die Metzelei von Seraing sei eine Art von Coup d'état der Aktiengesellschaften, im stillen ausgeheckt zwischen der Firma Cockerill und dem belgischen Minister des Innern zu dem einfachen Zwecke, ihre unzufriedenen Untergebenen mit Schrecken zu erfüllen. Diese Verleumdung ward indessen bald schlagend widerlegt durch die später sich ereignenden Vorfälle in der Borinage, einem Kohlendistrikt, wo der belgische Minister des Innern, besagter Herr Pirmez, nicht führender Kapitalist zu sein scheint. Als in diesem Distrikt ein Strike fast alle Knappen erfaßte, wurden zahlreiche Truppen zusammengezogen, die zu Frameries ihren Feldzug mit einem Gewehrfeuer eröffneten, das neun Knappen tötete und zwanzig schwer verwundete. Nach diesem kleinen heldenmütigen Vorspiel ward das Aufruhrgesetz, komischerweise französisch "les sommations préalables" genannt, verkündet und dann mit der Metzelei fortgefahren.

Verschiedene Politiker schreiben diese unglaublichen Tatsachen den Motiven eines hohen Patriotismus zu. Sie sagen, während die belgische Regierung mit dem französischen Nachbar über gewisse heikle Fragen unterhandelt habe, sei es die Pflicht der Regierung gewesen, den Heldenmut ihrer Armee zu demonstrieren. Daher jene pfiffige Verteilung der Streitkräfte, die zuerst das unwiderstehlich ungestüme Vordringen der belgischen Kavallerie zu Seraing und dann die unerschütterliche Stärke der belgischen Infanterie zu Frameries demonstrierte. Dem Fremden Furcht einzuflößen, welch Mittel unfehlbarer als solche heimischen Schlachten, die man unmöglich verlieren kann, und solche häuslichen Schlachtfelder, auf denen die Hunderte von erschlagenen, verstümmelten und gefangengenommenen Arbeiter einen so glorreichen Schein auf diese unverletzlichen Krieger werfen, die bis auf den letzten Mann mit heiler Haut davonkommen.

Andere Politiker dagegen haben die belgischen Minister im Verdacht, an die 'I'uilerien verkauft zu sein, und daß sie periodisch diese schrecklichen |352| Schauspiele eines Spottbürgerkriegs aufführen, um Louis Bonaparte einen Vorwand zu geben, in Belgien die Gesellschaft zu retten, so wie er sie in Frankreich rettete. Aber hat man den Exgouverneur Eyre je angeklagt, die Negermetzelei auf Jamaika organisiert zu haben, um England jene Insel zu entreißen und sie in die Hände der Vereinigten Staaten zu spielen? Ohne Zweifel sind die belgischen Minister vortreffliche Patrioten nach Eyres Muster. Wie er das gewissenlose Werkzeug der westindischen Pflanzer, so sind sie die gewissenlosen Werkzeuge der belgischen Kapitalisten.

Der belgische Kapitalist hat sich einen guten Ruf in der Welt erworben durch seine exzentrische Leidenschaft für das, was er die Freiheit der Arbeit (la liberté du travail) nennt. Er ist so eingenommen für die Freiheit seiner Arbeiter, ohne Unterschied von Alter und Geschlecht, alle Stunden ihres Lebens für ihn zu arbeiten, daß er stets jedes Fabrikgesetz, das diese Freiheit beeinträchtigt, mit der größten Entrüstung zurückgewiesen hat. Schon die Idee, daß ein gemeiner Arbeiter so verrucht sein sollte, ein höheres Ziel zu erstreben, als das, seinen Herrn und Meister, den natürlichen Vorgesetzten, zu bereichern, macht ihn schaudern. Er will nicht allein, daß sein Arbeiter ein elender Knecht bleibt, überarbeitet und unterbezahlt, sondern wie jeder Sklavenhalter will er, daß sein Arbeiter ein kriechender, untertäniger, moralisch geknechteter, religiös demütiger Kriecht ist mit zerknirschtem Herzen. Daher seine wahnwitzige Wut gegen die Strikes. Ein Strike ist ihm eine Gotteslästerung, eine Sklavenrevolte, das Signal einer sozialen Sündflut. Bekleidet nun solche Menschen - die aus Feigheit grausam sind - mit der ungeteilten, unkontrollierten, also absoluten Staatsgewalt, wie es tatsächlich in Belgien der Fall ist, und ihr braucht euch nicht mehr zu wundern, daß in einem solchen Lande der Säbel, das Bajonett und der Schießprügel als rechtmäßige und normale Instrumente angewandt werden, um den Lohn hinab- und die Profite hinaufzuschrauben. Aber welch anderen Zwecken könnte die belgische Armee wirklich dienen? Als auf das Geheiß des offiziellen Europas Belgien für ein neutrales Land erklärt wurde, hätte man diesem selbstverständlich auch den kostspieligen Luxus einer Armee untersagen sollen, ausgenommen vielleicht eine Handvoll dem königlichen Marionettenspiel unentbehrliche Paradesoldaten. Dennoch birgt Belgien innerhalb seiner 536 Quadratmeilen Erdoberfläche ein größeres stehendes Heer als das Vereinigte Königreich oder die Vereinigten Staaten. Der Felddienst dieser neutralisierten Armee wird fatalerweise nach ihren Razzien auf die Arbeiterklasse berechnet.

Es ist leicht begreiflich, daß die Internationale Arbeiterassoziation kein willkommener Gast in Belgien war. Von der Priesterschaft exkommuniziert, |353| von der ehrbaren Presse verleumdet, geriet sie bald in Streit mit der Regierung. Diese bot alles auf, um sie loszuwerden, indem man sie verantwortlich zu machen suchte für die Strikes in den Kohlenbergwerken von Charleroi 1867 bis 1868, Strikes, die nach der unveränderlichen belgischen Regel mit offiziellen Metzeleien und gerichtlicher Verfolgung der Opfer endeten. Nicht allein ward diese Kabale der Regierung vereitelt, sondern durch die tätigen Schritte der Assoziation wurden sämtliche angeklagten Arbeiter von Charleroi für unschuldig und mithin die belgische Regierung für schuldig befunden. Ergrimmt über diese Niederlage machten die belgischen Minister ihren beklommenen Herzen Luft durch heftige Denunziationen von der Tribüne der Deputiertenkammer gegen die Internationale Arbeiterassoziation und erklärten hochtrabend, daß sie es nimmer zugeben würden, daß sich der allgemeine Kongreß der Internationale in Brüssel versammle. Der Kongreß ward trotz dieser Drohung in Brüssel abgehalten. Aber endlich soll die Internationale doch der belgischen Allmacht von 536 Quadratmeilen unterliegen. Ihre straffällige Mitschuld an den jüngsten Ereignissen liegt klar zutage. Die Emissäre des Brüsseler Zentralkomitees für Belgien und andere lokale Ausschüsse sind verschiedener abscheulicher Taten überführt worden. Sie haben versucht, die strikenden Arbeiter zu beschwichtigen und sie vor den Regierungsschlingen zu warnen. In einigen Lokalitäten ist es ihnen sogar gelungen, Blutvergießen zu verhüten. Endlich haben die übelverheißenden Emissäre an Ort und Stelle Beobachtungen angestellt, sie durch Augenzeugen beglaubigen lassen, sorgfältig protokolliert und die blutdürstigen Grillen der Verteidiger der Ordnung öffentlich denunziert. Durch das einfache Verfahren der Einkerkerung wurden die Emissäre aus Anklägern in Angeklagte verwandelt. Sodann wurden die Wohnungen der Mitglieder des Brüsseler Komitees auf brutale Weise überfallen, ihre Papiere in Beschlag genommen und einige von ihnen auf die Anschuldigung festgesetzt, einer Gesellschaft anzugehören, "die zu dem Zwecke gegründet worden sei, Anschläge auf das Leben und Eigentum von Personen zu machen". Mit anderen Worten: Sie wurden angeschuldigt, einer Gesellschaft von Thugs, benannt Internationale Arbeiterassoziation, anzugehören. Gehetzt durch die Kapuzinaden der Klerikalen und das wilde Geheul der Kapitalistenpresse, ist diese großprahlerische Zwergregierung ängstlich bemüht, nachdem sie sich in einem Blutbad gewälzt, in einem Meer von Lächerlichkeiten zu ersaufen.

Das belgische Zentralkomitee zu Brüssel hat bereits seine Absicht angezeigt, eine vollständige Untersuchung der Metzeleien zu Seraing und in der Borinage einzuleiten und das Resultat zu veröffentlichen. Wir wollen |354| seine Enthüllungen in verschiedenen Sprachen über die ganze Welt verbreiten, um der Welt die Augen zu öffnen über die Lieblingsaufschneiderei des belgischen Kapitalisten: La liberté, pour faire le tour du monde, n'a pas besoin de passer par ici (la Belgique).

Die belgische Regierung, die nach den Revolutionen von 1848/49 eine Lebensfrist erlangte dadurch, daß sie zum politischen Polizeiagenten der reaktionären Regierungen des Kontinents geworden, schmeichelt sich vielleicht, daß sie heute die drohende Gefahr wiederum abwenden kann, indem sie auffällig den Gendarmen des Kapitals gegen die Arbeit spielt. Dieses ist jedoch ein großer Irrtum. Anstatt die Katastrophe aufzuhalten, wird sie diese nur beschleunigen. Dadurch, daß sie Belgien bei den Volksmassen der gesamten Welt zum Stichwort und Spottbild macht, verschwindet das letzte Hindernis, welches den Gelüsten der Despoten, die seinen Namen von der Karte Europas verwischen möchten, noch entgegensteht.

Der Generalrat der Internationalen Arbeiterassoziation ruft die Arbeiter von Europa und den Vereinigten Staaten auf, Geldsammlungen zu veranstalten, um die Leiden der Witwen, Weiber und Kinder der belgischen Opfer zu lindern, die Verteidigungskosten der angeklagten Arbeiter zu bestreiten und die vom Brüsseler Komitee beabsichtigte Untersuchung zu fördern.

Im Auftrag des Generalrats der Internationalen
Arbeiterassoziation:

R. Applegarth, Vorsitzender
R. Shaw, Sekretär für Amerika
Bernard, Sekretär für Belgien
Eugène Dupont, Sekretär für Frankreich
Karl Marx, Sekretär für Deutschland
Jules Johannard, Sekretär für Italien
A. Zabicki, Sekretär für Polen
H. Jung, Sekretär für die Schweiz
Cowell Stepney, Kassierer
J. G. Eccarius, Sekretär des Generalrats

London, den 4. Mai 1869

Alle Spenden für die Opfer der belgischen Metzeleien sind an das Büro des Generalrats zu senden: 256, High Holborn, London, W. C.