Inhalt | Über den Krieg - II

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 11-14.

Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.

Friedrich Engels

Über den Krieg - I


["The Pall Mall Gazette" Nr. 1703 vom 29. Juli 1870]

|11| Obgleich bisher noch kaum ein Schuß gefallen ist, ist doch schon eine erste Etappe des Krieges vorüber, die mit einer Enttäuschung für den französischen Kaiser geendet hat. Einige Bemerkungen über die politische und militärische Situation sollen das beweisen.

Es ist jetzt völlig unbestritten, daß Louis-Napoleon hoffte, den Norddeutschen Bund von den süddeutschen Staaten isolieren und die Unzufriedenheit unter der Bevölkerung der neu annektierten preußischen Provinzen ausnützen zu können. Ein schneller Vorstoß gegen den Rhein - mit soviel Truppen, wie sich nur irgend sammeln ließen -, ein Übergang über diesen Fluß, etwa zwischen Germersheim und Mainz, ein Vormarsch in der Richtung auf Frankfurt und Würzburg - das alles schien dies bewirken zu können. Die Franzosen hätten dadurch die Verbindungen zwischen dem Norden und dem Süden beherrscht und Preußen gezwungen, in aller Eile sämtliche verfügbaren Truppen zu einem Feldzug an den Main zu werfen - ganz gleich, ob sie marschbereit wären oder nicht. Der ganze Mobilmachungsprozeß der Preußen wäre gestört und alle Chancen wären auf seiten der Eindringlinge gewesen, die die Möglichkeit gehabt hätten, die Preußen der Reihe nach, wie sie aus den verschiedenen Teilen des Landes heranrückten, zu schlagen. Nicht nur politische, sondern auch militärische Gründe sprachen für ein solches Unternehmen. Das französische Kadersystem ermöglicht eine weit schnellere Konzentration von etwa 120.000 bis 150.000 Mann als das preußische Landwehrsystem |Hier und in den weiteren Artikel "Landwehr" deutsch|. Die Friedensstärke der französischen Armee unterscheidet sich von der Kriegsstärke nur durch die Zahl der beurlaubten Mannschaften und durch |12| das Fehlen der Depots, die erst bei der Mobilmachung formiert werden. Die Friedensstärke des preußischen Heeres umfaßt dagegen weniger als ein Drittel der Kriegsstärke; überdies sind in Friedenszeiten nicht nur die Mannschaften, sondern auch die Offiziere der übrigen zwei Drittel Zivilisten. Die Mobilisierung dieser ungeheuren Menschenmassen braucht Zeit; sie ist außerdem ein verwickelter Prozeß, der beim plötzlichen Einfall einer feindlichen Armee völlig in Unordnung geraten müßte. Dies ist der Grund, warum der Kaiser den Krieg so plötzlich vom Zaun gebrochen hat. Wenn Napoleon nicht einen solchen unerwarteten Überfall geplant hätte, wären die scharfe Sprache Gramonts und die überstürzte Kriegserklärung absurd gewesen.

Jeden solchen Plan vereitelte indessen der plötzliche und ungestüme Ausbruch des deutschen Nationalgefühls. Louis-Napoleon stand nicht König Wilhelm "Annexander", sondern der deutschen Nation gegenüber. In diesem Falle war aber an einen kühnen Vorstoß über den Rhein, selbst mit 120.000 bis 150.000 Mann, nicht zu denken. Anstatt eines überraschenden Überfalls mußte ein regulärer Feldzug mit allen verfügbaren Kräften unternommen werden. Die Garde, die Armeen von Paris und Lyon und die Korps des Feldlagers von Châlons, die für den ursprünglichen Plan genügt hätten, waren kaum ausreichend, den bloßen Kern der großen Invasionsarmee zu bilden. So begann die zweite Phase des Krieges - die der Vorbereitung auf einen langen Feldzug; und von diesem Tage an begannen sich die Chancen eines Enderfolgs für den Kaiser zu verschlechtern.

Vergleichen wir nun die Kräfte, die zur gegenseitigen Vernichtung bereitstehen. Um die Dinge zu vereinfachen, wollen wir nur die Infanterie betrachten. Die Infanterie ist die Waffe, die die Schlachten entscheidet; eine geringe Differenz in der Stärke der Kavallerie und Artillerie, einschließlich Mitrailleusen und anderer wunderwirkender Maschinen, spielt auf keiner Seite eine nennenswerte Rolle.

Frankreich hat in Friedenszeiten 376 Infanteriebataillone (38 Garde-, 20 Jäger-, 300 Linien-, 9 Zuaven-, 9 Turko-Bataillone usw.) von je acht Kompanien. In Kriegszeiten läßt jedes von den 300 Linienbataillonen zwei Kompanien zur Bildung eines Depots zurück und marschiert mit nur sechs Kompanien ins Feld. Augenblicklich sind vier von den sechs Depotkompanien eines jeden Linienregiments (ein Regiment zu drei Bataillonen) dazu bestimmt, sich durch Auffüllung mit Beurlaubten und Reservisten zu einem vierten Bataillon zu ergänzen. Die verbleibenden zwei Kompanien scheinen als Depots bestimmt zu sein und können später zu fünften Bataillonen formiert werden. Aber es wird sicher einige Zeit - mindestens sechs |13| Wochen - dauern, ehe diese vierten Bataillone marschbereit sind. Gegenwärtig können sie und die Mobilgarde nur als Garnisontruppen gelten. Frankreich stehen demnach für die ersten entscheidenden Schlachten nicht mehr als die erwähnten 376 Bataillone zur Verfügung.

Von diesen umfaßt die Rheinarmee nach allem, was wir hören, in ihren sechs Armeekorps Nr. I bis VI und der Garde zusammen 299 Bataillone. Rechnet man noch das VII. Korps (des Generals Montauban), von dem vermutet wird, daß es für die Ostsee-Expedition bestimmt sei, hinzu, so beträgt die Gesamtzahl 340 Bataillone. Es würden dann noch 36 Bataillone verbleiben, um Algier, die Kolonien und das innere Frankreich zu bewachen. Es scheint demnach, daß Frankreich jedes verfügbare Bataillon gegen Deutschland geschickt hat und seine Streitkräfte durch neue, felddienstfählge Bataillone nicht vor Anfang September verstärken kann.

Nun zur anderen Seite. Die norddeutsche Armee besteht aus dreizehn Armeekorps, die aus 368 Infanteriebataillonen oder aus rund 28 Bataillonen je Korps zusammengesetzt sind. Jedes Bataillon zählt im Frieden ungefähr 540, im Kriege 1.000 Mann. Nach Empfang des Mobilmachungsbefehls wird in jedem Regiment, bestehend aus drei Bataillonen, eine Anzahl von Offizieren zur Bildung eines vierten Bataillons ausgesondert. Die Reservisten werden sofort einberufen. Das sind Leute, die zwei bis drei Jahre im Regiment gedient haben und bis zu ihrem siebenundzwanzigsten Jahre jederzeit einberufen werden können. Sie genügen reichlich zum Auffüllen der drei Feldbataillone und zur Schaffung eines guten Grundstocks für das vierte Bataillon, welches durch Landwehrmänner vervollständigt wird. So sind die Feldbataillone in wenigen Tagen marschbereit, und die vierten Bataillone können vier oder fünf Wochen später folgen. Gleichzeitig wird für jedes Linienregiment ein Landwehrregiment aus zwei Bataillonen gebildet, das aus Männern zwischen achtundzwanzig und sechsunddreißig Jahren besteht, und sobald diese Landwehrregimenter formiert sind, wird mit der Bildung der dritten Landwehrbataillone begonnen. Die Zeit, die für all das gebraucht wird, beträgt, einschließlich der Mobilmachung der Kavallerie und Artillerie, genau dreizehn Tage. Da der erste Tag der Mobilmachung auf den 16. angesetzt war, ist also heute alles fertig oder sollte es wenigstens sein. Gegenwärtig hat Norddeutschland wahrscheinlich 358 Linienbataillone im Felde und 198 Landwehrbataillone in Garnison. Sie werden bis zur zweiten Hälfte des August, sicherlich nicht später, durch 114 vierte Linienbataillone und 93 dritte Landwehrbataillone verstärkt werden. Bei all diesen Truppen wird es kaum einen Mann geben, der nicht seine reguläre Dienstzeit in der Armee durchgemacht hätte. Zu diesen müssen wir |14| noch die Truppen von Hessen-Darmstadt, Baden, Württemberg und Bayern rechnen, insgesamt 104 Linienbataillone. Aber da in diesen Staaten das Landwehrsystem noch nicht Zeit hatte, sich völlig zu entwickeln, so mögen dort nicht mehr als 70 oder 80 Bataillone fürs Feld verfügbar sein.

Die Landwehr ist hauptsächlich für den Garnisondienst vorgesehen. Jedoch im Kriege von 1866 ist ein großer Teil der Landwehr als Reservearmee ins Feld gerückt. Das wird zweifellos wieder geschehen.

Von den dreizehn norddeutschen Armeekorps sind gegenwärtig zehn am Rhein; sie machen insgesamt 280 Bataillone aus. Hinzu kommen die Süddeutschen mit schätzungsweise 70 Bataillonen. Das ergibt insgesamt 350 Bataillone. Es bleiben an der Küste oder als Reserve noch drei Armeekorps oder 84 Bataillone verfügbar. Ein Korps und die Landwehr werden
zur Verteidigung der Küste hinreichend sein. Die beiden übrigen Armeekorps sind, soviel wir wissen, ebenfalls auf dem Wege zum Rhein. Diese Truppen können bis zum 20. August um mindestens 100 vierte Bataillone und 40 bis 50 Landwehrbataillone verstärkt werden, Soldaten, die den vierten Bataillonen und Mobilgarden der Franzosen, die zum größten Teil aus fast unausgebildeten Leuten bestehen, überlegen sind. Es ist Tatsache, daß Frankreich nicht mehr als etwa 550.000 ausgebildete Männer zur Verfügung hat, während allein Norddeutschland über 930.000 Mann verfügt. Dies ist ein Vorteil für Deutschland, welcher um so mehr ins Gewicht fallen wird, je länger die entscheidenden Kämpfe hinausgeschoben werden, und er wird gegen Ende September seinen Höhepunkt erreichen.

Wir brauchen uns unter diesen Umständen nicht über die Nachricht aus Berlin zu wundern, daß die deutschen Feldherren hoffen, den deutschen Boden vor den Leiden des Krieges zu bewahren. Mit anderen Worten: Wenn sie nicht bald angegriffen werden, werden sie selbst angreifen. Wie dieser Angriff, wenn ihm nicht Louis-Napoleon doch noch zuvorkommt, durchgeführt wird, ist eine andere Frage.

Z.