Über den Krieg - IV | Inhalt | Über den Krieg - V

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 27-31.

Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.

Friedrich Engels

Die preußischen Siege


["The Pall Mall Gazette" Nr. l 711 vom 8. August 1870]

|27| Die schnelle Aktion der deutschen Dritten Armee wirft mehr und mehr Licht auf Moltkes Pläne. Die Konzentration dieser Armee in der Pfalz muß über die Brücken von Mannheim und Germersheim vor sich gegangen sein, vielleicht auch mit Hilfe von zwischen diesen Orten errichteten militärischen Pontonbrücken. Schon bevor sie die Landstraßen erreichten, die von Landau und Neustadt westwärts über die Hardt gehen, waren die im Rheintal zusammengezogenen Truppen für einen Angriff auf den französischen rechten Flügel verfügbar. Ein solcher Angriff, mit überlegenen Streitkräften und mit Landau unmittelbar im Rücken, wäre vollkommen sicher und könnte große Resultate zeitigen. Wenn es gelänge, einen beträchtlichen Teil der französischen Truppen von der Hauptarmee weg und in das Rheintal zu ziehen, ihn zu schlagen und das Tal hinauf nach Straßburg zu treiben, so wären diese französischen Kräfte aus dem Gebiet der Hauptschlacht entfernt. Die deutsche Dritte Armee wäre dagegen noch in der Lage, daran teilzunehmen, da sie der Hauptarmee der Franzosen bedeutend näher ist. Auf jeden Fall würde ein Angriff auf den rechten Flügel der Franzosen diese irreleiten, sofern der deutsche Hauptangriff, wie wir trotz der gegenteiligen Meinung einer Schar von militärischen und nichtmilitärischen Neuigkeitskrämern noch immer glauben, gegen den linken Flügel der Franzosen geführt werden soll.

Die plötzliche und erfolgreiche Attacke auf Weißenburg zeigt, daß die Deutschen über die Stellungen der Franzosen Informationen besaßen, die sie zu solch einem Manöver ermutigten. Die Franzosen rannten in ihrer Hast nach einer Revanche kopfüber in die Falle. Marschall Mac-Mahon konzentrierte augenblicklich seine Korps in Richtung Weißenburg; und um dieses Manöver auszuführen, brauchte er, wie berichtet wird, zwei Tage. Aber der Kronprinz war nicht geneigt, ihm diese Zelt zu lassen. Er |28| nützte seinen Vorteil sofort aus und attackierte ihn am Sonnabend in der Nähe von Wörth an der Sauer, ungefähr 15 Meilen südwestlich von Weißenburg. Mac-Mahons Stellung wurde von ihm selbst stark genannt. Nichtsdestoweniger wurde er um fünf Uhr nachmittags daraus vertrieben, und der Kronprinz vermutete ihn in vollem Rückzug auf Bitsch. Hierdurch hätte er sich davor geschützt, vom Zentrum weg auf Straßburg getrieben zu werden, und hätte seine Verbindungen mit der Masse der Armee aufrechterhalten. Nach späteren französischen Telegrammen scheint es jedoch, daß er sich wirklich auf Nancy zurückgezogen hat und daß sein Hauptquartier nun bei Zabern ist.

Die beiden französischen Korps, die ausgesandt waren, den deutschen Vormarsch aufzuhalten, bestanden aus sieben Infanteriedivisionen, von denen wahrscheinlich mindestens fünf in dem Kampf eingesetzt worden sind. Es ist auch möglich, daß sie alle nach und nach an der Schlacht teilnahmen. Aber sie waren ebensowenig imstande, das Gleichgewicht wiederherzustellen, wie die nacheinander auf dem Schlachtfeld von Magenta erscheinenden österreichischen Brigaden. Auf jeden Fall können wir als sicher annehmen, daß ein Fünftel bis ein Viertel der gesamten Macht der Franzosen hier geschlagen wurde. Die Truppen auf der deutschen Seite waren wahrscheinlich dieselben, deren Vorhut Weißenburg genommen hatte, das II. bayrische, das V. und XI. norddeutsche Korps. Von diesen Korps besteht das V. aus zwei Posener, fünf schlesischen und einem westfälischen Regiment, das XI. aus einem pommerschen Regiment, vier aus Hessen-Kassel und Nassau und drei thüringischen Regimentern. Es sind also Truppen aus den verschiedensten Teilen Deutschlands eingesetzt worden.

Was uns bei diesen Kampfhandlungen am meisten überrascht, ist die strategische und taktische Rolle, die jede der beiden Armeen dabei spielt. Es ist das genaue Gegenteil dessen, was der Tradition nach zu erwarten war. Die Deutschen greifen an; die Franzosen verteidigen sich. Die Deutschen handeln schnell und mit großen Massen und dirigieren sie mit Leichtigkeit; die Franzosen müssen zugeben, daß ihre Truppen nach vierzehntägiger Konzentration noch so verstreut sind, daß sie zwei Tage benötigen, um zwei Armeekorps zusammenzubringen. Sie sind infolgedessen einzeln geschlagen worden. Nach der Art, wie sie ihre Truppenbewegungen vollziehen, könnten sie Österreicher sein. Wie läßt sich dies erklären? Einfach aus den Notwendigkeiten des Zweiten Kaiserreichs. Der Stachel von Weißenburg war ausreichend, ganz Paris in Aufregung zu versetzen und zweifelsohne den Gleichmut der Armee ebenfalls ins Wanken zu bringen. |29| Eine Revanche mußte sein: Mac-Mahon wurde sogleich mit zwei Korps abgeschickt, um Revanche zu nehmen. Dieser Schritt war offensichtlich falsch, aber gleichviel, er mußte gemacht werden und wurde gemacht - mit welchem Erfolge, haben wir gesehen. Wenn Marschall Mac-Mahon nicht so viele Verstärkungen zugehen, daß er imstande ist, sich dem Kronprinzen noch einmal entgegenzustellen, so kann sich der Kronprinz durch einen Marsch von fünfzehn Meilen nach Süden der Eisenbahn Straßburg - Nancy bemächtigen, nach Nancy vorstoßen und durch diese Bewegung jede Linie umgehen, die die Franzosen bei einem Vormarsch nach Metz hoffen könnten zu halten. Gerade die Furcht davor ist es, die die Franzosen veranlaßt, das Saargebiet aufzugeben. Oder, wenn der Kronprinz die Verfolgung Mac-Mahons seiner Vorhut überläßt, kann er sogleich nach rechts über die Hügel nach Pirmasens und Zweibrücken marschieren, um eine regelrechte Verbindung mit dem linken Flügel der Armee von Prinz Friedrich Karl herzustellen. Dieser stand die ganze Zeit über zwischen Mainz und Saarbrücken, während die Franzosen ihn hartnäckig bei Trier vermuteten. Wie die Niederlage des Korps des Generals Frossard bei Forbach, auf die, wie es scheint, der gestrige Vormarsch der Preußen nach St. Avold folgte, auf seinen Marsch einwirken wird, können wir nicht entscheiden.

Wenn das Zweite Kaiserreich nach Weißenburg unbedingt eines Sieges bedurfte, so braucht es ihn jetzt nach Wörth und Forbach in noch viel höherem Grade. Wenn Weißenburg genügte, alle zuvor gefaßten Pläne für die Operationen des rechten Flügels zu verwirren, so stoßen notwendigerweise die Schlachten vom Sonnabend alle Dispositionen um, die für die gesamte Armee gemacht wurden. Die französische Armee hat jede Initiative verloren. Ihre Bewegungen werden weniger von militärischen Erwägungen als von politischen Notwendigkeiten diktiert. Hier befinden sich 300.000 Mann fast in Sicht des Feindes. Wenn Ihre Bewegungen sich nicht nach dem, was im Lager des Feindes geschieht, richten sollen, sondern nach dem, was sich in Paris zuträgt oder zutragen kann, so sind sie bereits halb geschlagen. Natürlich kann niemand mit Sicherheit das Resultat der Hauptschlacht voraussagen, die jetzt bevorsteht - sofern sie nicht schon im Gang ist. Aber soviel können wir sagen, daß noch eine Woche derartiger Strategie, wie sie Napoleon III. seit Donnerstags betätigt, allein ausreicht, die beste und größte Armee der Welt zu vernichten.

Der Eindruck, den man nach den preußischen Berichten über diese Schlachten gewinnt, wird durch die Telegramme des Kaisers Napoleon |30| nur noch vertieft. Sonnabend mitternacht berichtete er die nackten Tatsachen:

"Marschall Mac-Mahon hat eine Schlacht verloren. General Frossard ist gezwungen worden, sich zurückzuziehen."

Drei Stunden später kam die Nachricht, daß seine Verbindungen mit Marschall Mac-Mahon unterbrochen seien. Am Sonntag morgen um sechs Uhr wurde die ernsthafte Bedeutung der Niederlage des Generals Frossard tatsächlich durch das Geständnis anerkannt, daß ihm die Niederlage westlich von Saarbrücken, nämlich bei Forbach, beigebracht wurde. Die Unmöglichkeit, den preußischen Vormarsch sogleich aufzuhalten, wurde ferner durch die Mitteilung eingeräumt:

"Die Truppen, die getrennt worden waren, sind auf Metz konzentriert worden."

Das nächste Telegramm ist schwer zu interpretieren:

"Der Rückzug wird in voller Ordnung vollzogen werden." (?)

Welcher Rückzug? Nicht der des Marschalls Mac-Mahon, denn die Verbindungen mit ihm waren noch unterbrochen. Nicht der des Generals Frossard, denn der Kaiser teilt weiter mit:

"Von General Frossard liegen keine Nachrichten vor."

Und wenn um 8.23 Uhr morgens der Kaiser nur in der Zukunftsform vom Rückzug der Truppen, von deren Stellung er nichts wußte, sprechen konnte, welcher Wert muß dann dem Telegramm von acht Stunden vorher beigemessen werden, in dem er in der Gegenwart spricht:

"Der Rückzug vollzieht sich in voller Ordnung."

Alle diese späteren Botschaften sind in demselben Ton gehalten wie die erste: "Tout peut se rétablir." |"Alles kann sich wieder einrenken"| Die Siege der Preußen waren zu ernst, um die Zuflucht zu einer Taktik zu erlauben, wie sie der Kaiser natürlich gern gewählt hätte. Er konnte nicht wagen, die Wahrheit zu verbergen - aber er hoffte, ihre Wirkung durch einen gleichzeitigen Bericht über eine spätere Schlacht mit anderm Ausgang aufzuheben. Es war unmöglich, den Stolz des französischen Volkes zu schonen, indem man ihm verheimlichte, daß zwei seiner Armeen geschlagen worden waren. Deshalb blieb als einziger Ausweg, sich auf den leidenschaftlichen Wunsch zu stützen, die Scharten wieder auszuwetzen, den die Nachricht von ähnlichen Mißgeschicken von jeher in den Herzen der Franzosen erzeugt hat. Private Telegramme schrie- |31| ben ohne Zweifel der Kaiserin und den Ministern die Richtung vor, in der sich ihre offiziellen Äußerungen zu bewegen hatten; oder, was noch wahrscheinlicher ist, der Text ihrer darauf bezüglichen Proklamationen wurde ihnen wörtlich aus Metz geliefert. Aus diesen beiden Tatsachen schließen wir, daß, wie immer auch die Stimmung des französischen Volkes sei, jeder in der Regierung, vom Kaiser angefangen, äußerst niedergeschlagen ist, und das ist an sich schon bezeichnend genug. Über Paris ist der Belagerungszustand verhängt worden. Dies ist ein untrügliches Zeichen für das, was einem weiteren preußischen Siege folgen kann. Die Proklamation des Ministeriums schließt:

"Laßt uns mit aller Energie kämpfen, und das Vaterland wird gerettet werden."

Gerettet! Die Franzosen könnten sich vielleicht fragen, wovor gerettet? Vor einer Invasion, die von den Preußen unternommen wurde, um eine französische Invasion in Deutschland abzuwenden. Wären die Preußen geschlagen worden und eine ähnliche Ermunterung aus Berlin gekommen, würde ihre Bedeutung klar gewesen sein; denn jeder neue Sieg der französischen Waffen hätte eine neue Annexion deutschen Gebiets von seiten Frankreichs bedeutet. Aber falls die preußische Regierung gut beraten ist, wird eine französische Niederlage nur bedeuten, daß der Versuch, Preußen an der Durchführung seiner innerdeutschen Politik zu hindern, fehlgeschlagen ist. Wir können kaum annehmen, daß die Massenaushebung, welche die französischen Minister angeblich in Erwägung ziehen, der Erneuerung eines Offensivkrieges dienlich sein wird.