Über den Krieg - VII | Inhalt | Über den Krieg - IX

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 44-47.

Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.

Friedrich Engels

Über den Krieg - VIII


["The Pall Mall Gazette" Nr. 1717 vom 15. August 1870]

|44| Wo ist Mac-Mahon? Die deutsche Reiterei scheint bei ihrem kühnen Ritt bis vor die Tore von Luneville und Nancy nicht mit ihm zusammen getroffen zu sein; andernfalls würden wir von Gefechten gehört haben. Wäre er jedoch sicher in Nancy angekommen und hätte so seine Verbindung mit der Armee in Metz wiederhergestellt, dann wäre eine so beruhigende Tatsache sicher sogleich vom französischen Hauptquartier gemeldet worden. Der einzige Schluß, den wir aus diesem absoluten Schweigen über ihn ziehen können, ist der, daß er es für zu gefährlich gehalten hat, den direkten Weg von Zabern nach Luneville und Nancy zu verfolgen, daß er, um seinen rechten Flügel gegen den Feind nicht ungedeckt zu lassen, einen großen Umweg weiter südlich gemacht hat, um die Mosel bei Bayon oder sogar noch weiter flußaufwärts zu passieren. Wenn diese Vermutung richtig sein sollte, so dürfte sehr wenig Aussicht bestehen, daß er Metz jemals erreicht. In diesem Falle wird sich der Kaiser oder der jeweilige Kommandant von Metz die Frage stellen müssen, ob sich die Armee nicht besser sogleich auf Châlons-sur-Marne zurückziehen sollte, den nächsten Punkt, wo eine Vereinigung mit Mac-Mahon bewerkstelligt werden könnte. Wir sind daher geneigt, den Bericht über einen allgemeinen Rückzug der französischen Linientruppen in dieser Richtung zu akzeptieren.

Inzwischen hören wir von kolossalen Verstärkungen für die französische Armee. Der neue Kriegsminister |Graf von Palikao| versichert der Kammer, daß in vier Tagen zwei Armeekorps zu je 35.000 Mann an die Front geschickt werden sollen. Wo sind sie? Wir wissen, daß die acht Korps der Rheinarmee und die Truppen, die an die Ostsee abgehen sollten, mit der Garnison von Algier |45| sämtliche Bataillone der französischen Armee einschließlich der Marine ausmachten. Wir wissen, daß 40.000 Mann von Canroberts Korps und von der Ostsee-Expedition in Paris sind. Wir wissen aus General Dejeans Rede in der Kammer, daß die vierten Bataillone, noch weit davon entfernt, fertig zu sein, aufgefüllt werden mußten und daß dies durch Heranziehung von Mannschaften aus der Mobilgarde bewirkt werden sollte. Woher also sollen diese 70.000 Mann kommen? Besonders wenn, was sehr wahrscheinlich ist, General Montauban de Palikao die 40.000 Mann nicht aus Paris abgeben wird, solange er es irgend vermeiden kann? Doch wenn das, was er sagt, überhaupt einen Sinn hat, so können mit diesen zwei Korps nur die Truppen in Paris und Canroberts Korps gemeint sein, das bisher stets als Teil der Rheinarmee gezahlt worden ist. In diesem Falle, wo also die einzige wirkliche Verstärkung die Garnison von Paris ist, wird die Truppenmacht im Felde von fünfundzwanzig auf achtundzwanzig Divisionen vermehrt werden, von denen mindestens sieben schwere Verluste erlitten haben.

Dann hören wir, daß General Trochu zum Führer des XII. Korps, das in Paris gebildet wird, und General Vendez (?) zum Führer des XIII. Korps, das in Lyon gebildet wird, ernannt worden sind. Die Armee bestand bisher aus der Garde und den Korps Nr. I bis VII. Von den Korps Nr. VIII, IX, X und XI haben wir nie etwas gehört; jetzt werden uns plötzlich die Nr. XII und XIII vorgesetzt. Wir haben gesehen, daß keine Truppen vorhanden sind, aus denen eines dieser Korps gebildet werden könnte, ausgenommen das XII. Korps, wenn damit die Garnison von Paris gemeint ist. Das sieht wie ein jämmerlicher Trick aus, der das öffentliche Vertrauen dadurch stärken soll, daß man imaginäre Armeen auf dem Papier schafft. Und doch gibt es keine andere Erklärung für diese behauptete Bildung von fünf Armeekorps, von denen vier bisher nicht existiert haben.

Zweifellos werden Versuche unternommen, eine neue Armee zu organisieren; aber welche Kräfte sind dafür vorhanden? Zunächst die Gendarmerie, aus der ein Regiment zu Pferd und eines zu Fuß gebildet werden kann, ausgezeichnete Truppen, aber sie werden 3.000 Mann nicht übersteigen und müßten aus alten Teilen Frankreichs zusammengeholt werden. Dasselbe gilt von den Douaniers, von denen erwartet wird, daß sie den Mannschaftsbestand für vierundzwanzig Bataillone liefern; wir zweifeln daran, daß sie die Hälfte dieser Zahl aufbringen werden. Dann kommen die alten Soldaten der Jahrgänge 1858 bis 1863, von denen die unverheirateten Leute bereits durch ein besonderes Gesetz einberufen worden sind. Diese dürften ein Kontingent von 200.000 Mann liefern und werden die wertvollste Verstärkung der Armee bilden. Mit weniger als der Hälfte dieser |46| Truppen können die vierten Bataillone aufgefüllt und die übrigen zur Bildung neuer Bataillone verwendet werden. Aber hier beginnt die Schwierigkeit - woher die Offiziere nehmen? Man wird sie aus der kämpfenden Armee nehmen müssen; und obgleich dies erreicht werden kann, indem man zahlreiche Sergeanten zu Seconde-Lieutenants befördert, muß es doch die Truppenteile schwächen, aus denen sie abgezogen werden. Insgesamt werden diese drei Gruppen höchstens einen Zuwachs von 220.000 bis 230.000 Mann ergeben, und es wird unter günstigen Umständen mindestens vierzehn bis zwanzig Tage dauern, ehe auch nur ein Teil davon soweit ist, in die kämpfende Armee eingereiht zu werden. Aber unglücklicherweise sind die Umstände keineswegs günstig. Es wird jetzt zugegeben, daß nicht bloß die Intendantur, sondern die ganz französische Armeeverwaltung in höchstem Grade unfähig war, auch nur die Armee an der Grenze zu versorgen. Wie wird dann der Zustand der Breitstellung von Ausrüstung und Material für diese Reserven sein, von denen niemand erwartete, daß sie jemals im Felde gebraucht würden? Es ist wirklich sehr zweifelhaft, ob außer den vierten Bataillonen weitere neue Formationen früher als in zwei Monaten fertig sein werden. Dann darf man nicht vergessen, daß nicht einer dieser Männer jemals einen Hinterlader in der Hand gehabt hat und daß sie alle der neuen Taktik, die diese Waffe hervorgebracht hat, völlig unkundig sind. Wenn schon die gegenwärtigen französischen Linientruppen, wie jetzt von ihnen selbst zugegeben wird, voreilig und blindlings feuern und ihre Munition verschwenden, was werden diese neugebildeten Bataillone beim Anblick eines Feindes tun, dessen Sicherheit und Genauigkeit beim Feuern sehr wenig vom Schlachtenlärm beeinflußt zu werden scheint?

Es bleibt noch die Mobilgarde, die Aushebung aller unverheirateten Männer bis zu dreißig Jahren, und die sedentäre Nationalgarde. Was die Mobilgarde anbelangt, so scheint der kleine Teil, der jemals eine richtige Organisation besessen hat, zusammengebrochen zu sein, sobald er nach Châlons gesandt worden war. Disziplin war nicht vorhanden, und die Offiziere, von denen die meisten ihre Aufgaben überhaupt nicht kannten, scheinen von Tag zu Tag mehr an Autorität verloren zu haben. Es waren nicht einmal Waffen für die Mannschaften vorhanden, und nunmehr scheint das Ganze in vollständiger Auflösung begriffen zu sein. General Dejean gesteht dies indirekt ein durch den Vorschlag, die Reihen der vierten Bataillone aus der Mobilgarde aufzufüllen. Und wenn diese Truppen, die anscheinend den organisierten Teil der levée en masse darstellen, völlig unbrauchbar sind, wie wird der Rest aussehen? Selbst wenn Offiziere, Ausrüstung und Waffen für sie vorhanden wären, wie lange wird es dauern, sie zu Soldaten zu |47| machen? Aber für den Notfall ist nichts vorgesehen. Jeder für seinen Posten geeignete Offizier ist bereits eingesetzt. Die Franzosen haben nicht jene fast unerschöpfliche Reserve an Offizieren, die die Deutschen in ihren "Einjahrig-Freiwilligen" haben, von denen jedes Jahr etwa 7.000 in die deutsche Armee eintreten und fast jeder, der seine Dienstzeit hinter sich hat, völlig imstande ist, einen Offiziersposten zu übernehmen. Auch Ausrüstungen und Waffen scheinen überhaupt nicht vorhanden zu sein. Es heißt sogar, daß die alten Steinschloßgewehre aus den Magazinen geholt werden sollen. Was haben unter diesen Umständen die 200.000 Mann für einen Wert für Frankreich? Es ist ja sehr schön, wenn die Franzosen auf den Konvent, auf Carnot mit seinen aus dem Nichts geschaffenen Grenzarmeen usw. verweisen. Aber während wir weit davon entfernt sind zu behaupten, daß Frankreich bereits endgültig geschlagen sei, wollen wir doch nicht vergessen, daß an den Erfolgen des Konvents die alliierten Armeen bedeutsamen Anteil hatten. Damals zählten die Armeen, die Frankreich angriffen, durchschnittlich je 40.000 Mann. Es waren drei oder vier, von denen jede außerhalb des Bereichs der anderen operierte, die eine an der Schelde, die andere an der Mosel, die dritte im Elsaß usw. Jeder dieser kleinen Armeen stellte der Konvent große Mengen von mehr oder weniger unausgebildeten Massen gegenüber, die durch Aktionen in den Flanken und dem Rücken des Feindes diesen - damals ganz von seinen Magazinen abhängig - zwangen, sich dicht an der Grenze zu halten. In fünfjährigem Feldzuge zu wirklichen Soldaten ausgebildet, gelang es ihnen schließlich, den Feind über den Rhein zu treiben. Aber kann man einen Augenblick daran glauben, daß eine ähnliche Taktik gegen die jetzige große Invasionsarmee helfen werde, die, obgleich in drei verschiedene Truppenkörper geteilt, es doch stets verstanden hat, den Kontakt zwischen diesen aufrechtzuerhalten, oder daß diese Armee den Franzosen Zeit lassen werde, ihre noch schlummernden Kräfte zu entwickeln? Und diese Kräfte bis zu einem gewissen Grade zu entwickeln, ist nur möglich, sofern die Franzosen bereit sind, das zu tun, was sie bis heute noch nie getan haben, nämlich Paris und seine Garnison ihrem Schicksal zu überlassen und den Kampf mit der Loirelinie als Operationsbasis fortzusetzen. Es wird vielleicht nie dazu kommen; aber wenn Frankreich nicht bereit ist, dies ins Auge zu fassen, täte es besser, nicht von einer levée en masse zu sprechen.