Die Krise des Krieges | Inhalt | Über den Krieg - XII

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 61-67.

Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.

Friedrich Engels

Über den Krieg - XI


["The Pall Mall Gazette" Nr. 1725 vom 24. August 1870]

|61| Obgleich noch ohne genaue Einzelheiten über die drei furchtbaren Schlachten um Metz in der letzten Woche, haben wir doch genug von ihnen gehört, um uns schon ein klares Bild von dem machen zu können, was sich wirklich ereignet hat.

Die Schlacht vom Sonntag, dem 14. August, wurde von den Deutschen in der Absicht begonnen, den Rückzug der Franzosen nach Verdun zu verzögern. Der Rest des Korps von Frossard wurde Sonntag nachmittag beim Übergang über die Mosel in Richtung auf Longeville beobachtet; Anzeichen des Aufbruchs waren unter den Truppen, die im Osten von Metz kampierten, sichtbar. Das I. (ostpreußische) und das VII. (westfälisch-hannoversche) Armeekorps wurden zum Angriff kommandiert. Sie trieben die Franzosen vor sich her, bis sie selbst in die Schußweite der Forts gelangten. Aber die Franzosen, die eine solche Bewegung vorhersahen, hatten größere Truppenteile in geschützten Stellungen im Moseltal und in einer engen Schlucht aufgestellt, durch die ein Bach von Osten nach Westen fließt, der nördlich von Metz in die Mosel mündet. Diese Truppenmassen fielen plötzlich in die rechte Flanke der Deutschen, die bereits unter dem Feuer der Forts litten, und sollen sie in aufgelösten Reihen zurückgetrieben haben. Danach müssen sich die Franzosen wieder zurückgezogen haben, denn es ist sicher, daß die Deutschen im Besitz des Teils des Schlachtfeldes blieben, der außerhalb der Schußweite der Forts liegt, und daß sie sich erst im Morgengrauen in ihre früheren Biwake zurückzogen. Wir wissen das sowohl aus Privatbriefen von Leuten, die an der Schlacht teilgenommen haben, als auch aus dem Brief eines Korrespondenten aus Metz in der Montagausgabe des "Manchester Guardian", der Montag früh auf dem Schlachtfeld war und es in der Hand der Preußen gefunden hatte, welche |62| sich um die zurückgelassenen verwundeten Franzosen kümmerten. Beide Seiten können in gewissem Sinn Anspruch darauf erheben, das Ziel erreicht zu haben, um dessentwillen gekämpft wurde: Die Franzosen lockten die Deutschen in eine Falle und brachten ihnen schwere Verluste bei; die Deutschen hielten den französischen Rückzug auf, bis Prinz Friedrich Karl die Linie erreichen konnte, auf welcher der Rückzug erfolgen sollte. Auf deutscher Seite standen zwei Korps oder vier Divisionen im Gefecht, auf französischer Seite die Korps von Decaen und Ladmirault und ein Teil der Garde, das heißt mehr als sieben Divisionen. Die Franzosen waren also in dieser Schlacht zahlenmäßig stark überlegen. Ihre Stellung soll auch durch Schützengräben und Laufgräben sehr verstärkt gewesen sein, von denen aus sie mit mehr Ruhe als gewöhnlich schossen.

Der Rückzug der Rheinarmee nach Verdun wurde nicht vor Dienstag, dem 16. August, mit voller Kraft begonnen. Zu dieser Zeit erreichte die Spitze der Truppen Prinz Friedrich Karls - das III. Armeekorps (Brandenburger) - gerade die Umgebung von Mars-la-Tour. Sie griffen sofort an und hielten sechs Stunden lang die französische Armee in Schach. Später wurden sie verstärkt durch das X. Armeekorps (Hannoveraner und Westfalen) und Teile des VIII. (Rheinländer) und IX. (Schleswig-Holsteiner und Mecklenburger), und sie behaupteten nicht nur ihre Stellung, sondern trieben den Feind zurück, erbeuteten zwei Adler, sieben Kanonen und machten mehr als 2.000 Gefangene. Die ihnen gegenüberstehenden Streitkräfte bestanden aus den Korps von Decaen, Ladmirault und Frossard und wenigstens Teilen von Canroberts Korps (sie hatten Metz von Châlons aus erreicht, da während der letzten Tage die Bahnlinie über Frouard noch offen war) sowie der Garde, insgesamt also vierzehn bis fünfzehn Divisionen. Den acht deutschen Divisionen stand also wieder ein zahlenmäßig überlegener Gegner gegenüber, selbst wenn, was wahrscheinlich ist, nicht alle Truppen Bazaines im Gefecht standen. Es ist gut, dies besonders zu beachten, weil die französischen Berichte nach wie vor alle Schlappen aus der steten zahlenmäßigen Überlegenheit der deutschen Truppen erklären. Daß die Franzosen wirklich in ihrer Rückzugsbewegung aufgehalten wurden, geht klar aus der Tatsache hervor, daß sie selbst von Nachhutgefechten sprechen, die am 17. August in der Nähe von Gravelotte stattgefunden hätten. Gravelotte liegt aber mehr als fünf Meilen hinter ihrer Stellung vom 16. August. Gleichzeitig beweist die Tatsache, daß nur vier deutsche Korps am Dienstag herangebracht werden konnten, daß deren Erfolg unvollständig war. Hauptmann Jeannerod, der am 17. August von Briey nach Conflans kam, fand dort zwei Kavallerieregimenter der französischen Garde, |65| die stark mitgenommen waren und bei dem bloßen Ruf "Die Preußen kommen!" die Flucht ergriffen. Dies beweist, obgleich die Straße von Etain am Abend des 16. August noch nicht tatsächlich im Besitz der Deutschen war, diese doch so nahe waren, daß jeder Rückzug ohne eine neue Schlacht unmöglich war. Bazaine scheint jedoch jeden Gedanken daran aufgegeben zu haben, denn er verschanzte sich in einer sehr starken Stellung in der Nähe von Gravelotte und erwartete dort den Angriff der Deutschen, der am 18. August erfolgte.

Die Hochebene, auf der die Straße von Mars-la-Tour über Gravelotte nach Metz führt, ist von einer Reihe tiefer Schluchten durchschnitten, welche von den Bächen gebildet werden, die von Norden nach Süden zur Mosel fließen. Eine von diesen Schluchten liegt unmittelbar gegenüber (westlich) von Gravelotte; zwei andere laufen parallel hinter der ersten. Jede von ihnen bildet eine starke Verteidigungsstellung, die durch Wälle und durch den Bau von Barrikaden und Schießscharten in solchen Gutshöfen und Dörfern, die sich an taktisch wichtigen Plätzen befanden, verstärkt worden sind. In dieser stark verschanzten Stellung den Feind zu empfangen, ihn sich den Kopf daran einrennen zu lassen und ihn schließlich durch eine mächtige "retour offensif" |"Gegenoffensive"| zurückzuschlagen und so die Straße nach Verdun frei zu machen - das war augenscheinlich die einzige Hoffnung, die Bazaine geblieben war. Aber der Angriff wurde mit so vielen Streitkräften und mit solcher Wucht geführt, daß der Gegner eine Stellung nach der anderen nahm und die Rheinarmee bis dicht unter die Kanonen von Metz zurückgetrieben wurde. Gegen vierzehn oder fünfzehn französische Divisionen waren zwölf deutsche Divisionen tatsächlich eingesetzt und weitere vier in Reserve gehalten. Die Zahl der auf beiden Seiten eingesetzten Truppen dürfte ziemlich gleich gewesen sein, im ganzen vielleicht etwas günstiger bei den Deutschen, da vier von ihren sechs Korps fast vollständig unversehrt waren; aber diese geringe zahlenmäßige Überlegenheit konnte auf keinen Fall die Stärke der französischen Stellungen aufwiegen.

Die öffentliche Meinung in Frankreich zögert noch immer, sich über die reale Lage klar zu werden, die für Bazaine und seine Armee entstanden ist, und die der Lage, in die General Bonaparte 1796 Wurmser bei Mantua und 1805 Mack bei Ulm trieb, sehr ähnlich ist. Daß die glänzende Rheinarmee, Frankreichs Hoffnung und Stärke, nach vierzehntägigem Feldzug vor die Wahl gestellt sein soll, entweder zu versuchen, ihren Weg durch den Feind unter unheilvollen Umständen zu erzwingen, oder zu kapitulieren, |66| ist mehr, als die Franzosen sich eingestehen möchten. Sie suchen nach allen möglichen Erklärungen. Eine Ansicht ist die, daß sich Bazaine sozusagen opfert, um für Mac-Mahon und Paris Zeit zu gewinnen. Während Bazaine zwei von den drei deutschen Armeen vor Metz zurückhalte, könne Paris seine Verteidigung organisieren und werde Mac-Mahon Zeit haben, eine neue Armee zu schaffen. Bazaine bleibe also in Metz, nicht etwa, weil er nicht anders könne, sondern weil sein Bleiben im Interesse Frankreichs liege. Aber wo, wenn man fragen darf, sind die Bestandteile der neuen Armee Mac-Mahons? Es sind dies: sein eigenes Korps, das höchstens 15.000 Mann zählt; die Reste der Truppen de Faillys, die durch einen langen, auf Umwegen erfolgten Rückzug aufgelöst und zerstreut sind (er soll mit nur 7.000 bis 8.000 Mann in Vitry-le-François angekommen sein); vielleicht eine der Divisionen Canroberts; die beiden Divisionen von Félix Douay, deren Aufenthalt niemand zu kennen scheint, im ganzen ungefähr 40.000 Mann einschließlich der Marinetruppen der anfänglich geplanten Ostsee-Expedition. Diese 40.000 Mann umfassen jedes Bataillon und jede Schwadron, die Frankreich von seiner alten Armee außerhalb Metz geblieben sind. Zu diesen würden noch die vierten Bataillone kommen. Sie scheinen jetzt in Paris ziemlich zahlreich einzutreffen, aber größtenteils mit Rekruten aufgefüllt. Die Gesamtheit dieser Truppen mag sich auf 130.000 bis 150.000 Mann belaufen. Aber diese neue Armee ist in ihrer Qualität nicht mit der alten Rheinarmee zu vergleichen. Ihre alten Regimenter müssen sehr unter Demoralisierung gelitten haben. Die neuen Bataillone sind in aller Eile formiert worden, bestehen aus vielen Rekruten und können nicht so gut mit Offizieren versehen sein wie die alte Armee. Der Anteil der Artillerie und Kavallerie muß sehr gering sein; das Gros der Kavallerie ist in Metz, und die für die Ausrüstung neuer Batterien notwendigen Vorräte, wie Geschirre usw., scheinen zum Teil nur auf dem Papier zu existieren. Jeannerod führt ein Beispiel davon in der Sonntagsausgabe des "Temps" an. Was die Mobilgarde anbetrifft, so scheint sie sich, nachdem sie von Châlons nach Saint-Maur in der Nähe von Paris zurückgeführt worden ist, wegen Mangel an Proviant vollständig aufgelöst zu haben. Und um für solche Streitkräfte Zeit zu gewinnen, soll die beste Armee, die Frankreich besitzt, geopfert werden. Und geopfert ist sie, wenn es wahr ist, daß sie in Metz eingeschlossen ist. Wenn Bazaine seine Armee vorsätzlich in ihre gegenwärtige Lage gebracht hätte, würde er einen Fehler begangen haben, gegen den alle bisher in diesem Krieg begangenen Fehler ein Nichts wären. Was das Gerücht von Bazaines Rückzug von Metz und von seiner Vereinigung mit Mac-Mahon in Montmédy anbetrifft, das der "Standard" |67| gestern in Umlauf setzte, so ist es heute morgen von dem Militärberichterstatter derselben Zeitung hinreichend widerlegt worden. Selbst wenn einige Einheiten von Bazaines Truppen nach den letzten Gefechten um Mars-la-Tour oder während derselben nach Norden entkommen sind, so ist doch der Hauptteil seiner Armee noch in Metz eingeschlossen.