Über den Krieg - XVI | Inhalt | Aufstieg und Niedergang von Armeen

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 92-95.

Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.

Friedrich Engels

Über den Krieg - XVII


["The Pall Mall Gazette" Nr. 1739 vom 9. September 1870]

|92| Die Zeit, die die deutschen Armeen brauchen, um nach Paris zu marschieren und somit eine neue Etappe des Krieges zu beginnen, gibt uns Muße, auf das zurückzuschauen, was hinter der Front der Feldtruppen, vor den Festungen, geschehen ist.

Wenn wir von Sedan absehen, das bei der Übergabe von Mac-Mahons Armee mit inbegriffen war, so haben die Deutschen vier Festungen genommen - Lützelstein und Vitry ohne Schwertstreich, Lichtenberg und Marsal nach kurzer Beschießung. Sie haben Bitsch nur blockiert, sie belagern Straßburg, sie haben Pfalzburg, Toul und Montmedy beschossen, bis jetzt ohne Erfolg, und sie beabsichtigen, in den nächsten Tagen mit der regulären Belagerung von Toul und Metz zu beginnen.

Mit Ausnahme von Metz, das durch sehr weit vorgeschobene detachierte Forts geschützt ist, sind alle anderen Festungen, die Widerstand leisteten, der Beschießung ausgesetzt worden. Dieses Vorgehen war zu allen Zeiten ein Teil der regulären Belagerungsoperationen. Früher versuchte man vor allem, die Lebensmittel- und Munitionslager der Belagerten zu vernichten; seitdem es aber üblich geworden ist, sie in speziell für diesen Zweck gebauten, bombensicheren Gewölben unterzubringen, hat das Bombardement mehr und mehr das Ziel, möglichst viele Gebäude innerhalb der Festung in Brand zu setzen und zu zerstören. Die Vernichtung des Eigentums und der Lebensmittel der Einwohner des befestigten Platzes wurde ein Mittel, um auf sie und über sie auf die Garnison und ihren Kommandanten einen Druck auszuüben. In Fällen, wo die Garnison schwach, undiszipliniert und demoralisiert und der Kommandant ohne Energie war, bewirkte oft die Beschießung allein die Übergabe der Festung. Das war besonders 1815 nach der Schlacht von Waterloo der Fall, wo |93| eine ganze Reihe von Festungen, deren Garnisonen hauptsächlich aus der Nationalgarde bestanden, sich nach kurzer Beschießung ergaben, ohne die reguläre Belagerung abzuwarten. Avesnes, Guise, Maubeuge, Landrecies, Mariembourg, Philippeville und andere fielen nach einer Beschießung von einigen Stunden, höchstens einigen Tagen. Die Erinnerung an diese Erfolge und die Gewißheit, daß die meisten Grenzfestungen hauptsächlich von Mobilgarden und ansässiger Nationalgarde besetzt waren, veranlaßten zweifellos die Deutschen, dieselbe Methode wieder zu versuchen. Da überdies durch die Einführung gezogener Geschütze selbst die Feldartillerie fast ausschließlich Granaten verschießt, ist es nun verhältnismäßig leicht, mit den gewöhnlichen Feldkanonen eines Armeekorps eine Festung zu beschießen und ihre Bauten in Brand zu setzen, ohne, wie früher, die Ankunft von Mörsern und schweren Belagerungshaubitzen abwarten zu müssen.

Obgleich die Bombardierung von Wohnhäusern einer Festung in der modernen Kriegführung anerkannt ist, darf doch nicht außer acht gelassen werden, daß eine solche Maßnahme immer sehr hart und grausam ist; sie sollte wenigstens nicht ohne eine vernünftige Hoffnung, durch sie die Übergabe zu erzwingen, und nicht ohne einen gewissen Grad von Notwendigkeit ergriffen werden. Wenn Festungen wie Pfalzburg, Lichtenberg und Toul beschossen werden, so läßt sich das damit rechtfertigen, daß sie Bergpässe und Eisenbahnen decken, deren rascher Besitz für den eindringenden Feind von größter Bedeutung ist und als Ergebnis einer Beschießung von wenigen Tagen normalerweise erwartet werden kann. Wenn zwei dieser Plätze sich so lange gehalten haben, so gereicht das um so mehr der Garnison und den Einwohnern zur Ehre. Was aber die Beschießung von Straßburg anbetrifft, die der regulären Belagerung voranging, so ist die Sachlage eine ganz andere.

Straßburg, eine Stadt von über 80.000 Einwohnern, ist von veralteten Festungsbauten nach der Art des 16. Jahrhunderts umgeben, die von Vauban verstärkt wurden, der eine Zitadelle außerhalb der Stadt, zum Rhein hin, baute und sie mit den Wällen der Stadt durch die fortlaufenden Linien einer Befestigung verband, die man damals ein entrenched camp |verschanztes Lager| nannte. Da die Zitadelle die Stadt beherrscht und, nachdem sich die Stadt ergeben hat, zur selbständigen Verteidigung in der Lage ist, wäre der einfachste Weg, um beide zu nehmen, die Zitadelle gleich mit anzugreifen, damit nicht zwei aufeinanderfolgende Belagerungen vorgenommen werden müssen. Andererseits aber sind die Befestigungen der Zitadelle so viel stärker und |94| macht ihre Lage in dem sumpfigen Tiefland am Rhein das Ausheben von Gräben so viel schwieriger, daß die Umstände es gebieten können und im allgemeinen gebieten werden, zuerst die Stadt anzugreifen, mit deren Fall in den Augen eines schwachen Kommandanten die weitere Verteidigung der Zitadelle allein viel von ihrem Sinn verlieren würde, es sei denn, sie könne bessere Übergabebedingungen sichern. Aber auf alle Fälle bliebe, wenn die Stadt allein genommen wäre, noch die Zitadelle zu bezwingen; und ein hartnäckiger Kommandant würde sich weiter halten und die Stadt und die Stützpunkte der Belagerer darin unter Feuer nehmen können.

Was könnte unter diesen Umständen der Nutzen einer Beschießung der Stadt sein? Wenn alles nach Wunsch ginge, könnten die Einwohner den größeren Teil der Garnison demoralisieren und den Kommandanten zwingen, die Stadt aufzugeben und sich mit der Elite seiner Soldaten, 3.000 bis 5.000 Mann, in die Zitadelle zu werfen, dort die Verteidigung fortzusetzen und seinerseits die Stadt zu beschießen. Und der Charakter General Uhrichs (dies und nicht Ulrich ist der Name des tapferen alten Soldaten) war bekannt genug, um nirgends den Gedanken aufkommen zu lassen, er würde sich durch eine Anzahl von Granaten, die auf Stadt und Zitadelle abgeschossen werden, bis zur Übergabe beider einschüchtern lassen. Eine Stadt zu beschießen, die eine selbständige, sie beherrschende Zitadelle besitzt, ist an sich eine Absurdität und eine nutzlose Grausamkeit. Gewiß richten abirrende Granaten und das allmähliche Brescheschießen stets Schaden in einer belagerten Stadt an; aber das ist nichts gegen die Vernichtung und die Opfer unter der Zivilbevölkerung während eines regulären und systematischen sechstägigen Bombardements, dem diese unglückliche Stadt unterworfen war.

Die Deutschen sagen, sie müßten die Stadt aus politischen Gründen bald haben. Sie beabsichtigen, sie bei Friedensschluß zu behalten. Wenn dem so ist, so war die Beschießung, deren Härte beispiellos ist, nicht nur ein Verbrechen, sondern auch eine Dummheit. Tatsächlich ein ausgezeichneter Weg, sich die Sympathien einer Stadt zu erwerben, die der Annexion verfallen ist, daß man sie durch platzende Granaten in Brand schießt und zahlreiche Einwohner tötet! Und hat die Beschießung die Übergabe um einen einzigen Tag beschleunigt? Nicht im mindesten! Wenn die Deutschen die Stadt annektieren und die Sympathien der Einwohner für Frankreich brechen wollen, dann hätte ihr Plan folgender sein müssen: die Stadt durch eine möglichst kurze reguläre Belagerung zu nehmen, dann die Zitadelle zu belagern und den Kommandanten vor die qualvolle Wahl zu stellen, |95| entweder einige Verteidigungsmöglichkeiten aufzugeben oder die Stadt zu beschießen.

Tatsächlich haben die ungeheuren Mengen von Granaten, mit denen Straßburg beschossen wurde, die Notwendigkeit einer regulären Belagerung nicht aufgehoben. Am 29. August mußte die erste Parallele an der Nordwestseite der Festung in der Nähe von Schiltigheim eröffnet werden, 500 bis 650 Yard von den Festungswerken entfernt. Am 3. September wurde die zweite Parallele (einige Korrespondenten nennen sie irrtümlicherweise die dritte) in einer Entfernung von 330 Yard eröffnet. Der nutzlosen Beschießung wurde auf Befehl des Königs von Preußen Einhalt geboten, und es wird noch bis zum 17. oder 20. dauern, ehe eine brauchbare Bresche in die Festungswälle geschlagen werden kann. Doch in diesem Fall sind alle Schätzungen sehr gewagt. Ist es doch die erste Belagerung, in der Granaten mit Perkussionszündern aus modernen gezogenen Geschützen gegen Mauerwerk gebraucht werden. Bei ihren Versuchen während der Schleifung von Jülich erreichten die Preußen außergewöhnliche Ergebnisse; auf große Entfernungen wurden Mauern durchbrochen und Blockhäuser zerstört, und zwar durch indirektes Feuer (das heißt durch Batterien, von denen aus man das Ziel, auf das sie schossen, nicht sehen konnte); aber das war bloß ein Versuch im Frieden und wird sich in diesem Krieg noch bewähren müssen. Straßburg wird dazu dienen, uns eine ausgezeichnete Vorstellung von der Wirkung der modernen schweren gezogenen Geschütze bei Belagerungsoperationen zu vermitteln; und deswegen verdient diese Belagerung, daß man sie mit besonderem Interesse verfolgt.