Über den Krieg - XVII | Inhalt | Über den Krieg - XVIII

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 96-100.

Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.

Friedrich Engels

Aufstieg und Niedergang von Armeen


["The Pall Mall Gazette" Nr. 1740 vom 10. September 1870]

|96| Als Louis-Napoleon das Kaiserreich, "das der Friede war", auf den Stimmzetteln der Bauern und den Bajonetten ihrer Söhne, der Soldaten der Armee, begründete, hatte jene Armee keinen besonders hervorragenden Ruf in Europa - außer vielleicht infolge ihrer Tradition. Seit 1815 war Friede gewesen, den nur für einige Armeen die Ereignisse von 1848 und 1849 unterbrochen hatten. Die Österreicher hatten einen erfolgreichen Feldzug in Italien und einen unglücklichen in Ungarn ausgefochten. Weder Rußland in Ungarn noch Preußen in Süddeutschland hatten Lorbeeren geerntet, die der Rede wert wären. Rußland hatte seinen dauernden Krieg im Kaukasus, Frankreich den seinen in Algier. Aber die großen Armeen hatten sich seit 1815 nicht auf dem Schlachtfeld getroffen. Louis-Philippe hatte die französische Armee in einem Zustand zurückgelassen, in dem sie alles andere, nur nicht leistungsfähig war; die algerischen Truppen und besonders die Lieblingskorps, mehr oder weniger für die Kriegführung in Afrika geschaffen - Chasseurs-à-pied, Zuaven, Turkos, Chasseurs d'Afrique -, waren gewiß Gegenstand großer Aufmerksamkeit; aber das Gros der Infanterie, die Kavallerie und das Kriegsmaterial in Frankreich wurden sehr vernachlässigt. Die Republik tat nichts, den Zustand der Armee zu verbessern. Aber das Kaiserreich kam, das der Friede war, und - si vis pacem, para bellum |willst du den Frieden, rüste zum Kriege| - auf einmal wurde die Armee Hauptgegenstand der Aufmerksamkeit. Zu jener Zeit besaß Frankreich eine große Zahl verhältnismäßig junger Offiziere, die in Afrika in hohen Stellungen gedient hatten, als dort noch manch ernster Kampf auszufechten war. Es besaß in den algerischen Spezialkorps Truppen, die zweifelsohne allen |97| anderen Truppen Europas überlegen waren. Es hatte in den zahlreichen Ersatzmännern eine höhere Zahl von gedienten Berufssoldaten - wirklich erprobten Kämpfern - als jede andere Macht auf dem Kontinent. Die einzig notwendige Aufgabe war, soweit wie möglich die Masse der Truppen auf die Höhe der Spezialkorps zu bringen. Dies wurde in großem Ausmaß getan. Der "pas gymnastique" (der "double" der Engländer), der bisher nur bei den Spezialkorps üblich war, wurde in der ganzen Infanterie eingeführt und auf diese Weise eine Manövrierfähigkeit erreicht, wie sie früher in Armeen unbekannt gewesen war. Die Kavallerie wurde soweit wie möglich mit besseren Pferden versehen; das ganze Heeresgut wurde überprüft und vervollständigt. Schließlich wurde der Krimkrieg begonnen. Die Organisation der französischen Armee erwies sich im Vergleich zu der englischen als bedeutend überlegen; dank der zahlenmäßigen Zusammensetzung der verbündeten Armeen fiel der Hauptteil des Ruhms - soweit von Ruhm die Rede sein konnte - den Franzosen zu; die Eigenart dieses Krieges, nämlich daß in seinem Mittelpunkt einzig und allein die Belagerung einer großen Festung stand, gab den Franzosen die Gelegenheit, das ihnen eigene mathematische Genie, wie es ihre Artillerieoffiziere bewiesen, ins beste Licht zu stellen. Alles in allem hat der Krimkrieg die französische Armee wieder in den Rang der ersten Armee Europas gehoben.

Dann kam die Zeit der gezogenen Gewehre und Geschütze. Die unvergleichliche Überlegenheit des gezogenen Gewehrs über die glattgebohrte Muskete führte zur Abschaffung oder - in manchen Fällen - zur Abänderung der letzteren. Preußen hatte seine alten Gewehre in weniger als einem Jahr in gezogene umgeändert; England versah allmählich seine ganze Infanterie mit dem Enfield-Gewehr, Österreich die seine ebenfalls mit einem ganz ausgezeichneten kleinkalibrigen Gewehr (Lorenz). Frankreich allein behielt die alte glattgebohrte Muskete, während das gezogene Gewehr nach wie vor den Spezialkorps vorbehalten blieb. Während das Gros der Artillerie die kurzen Zwölfpfünder - eine Lieblingserfindung des Kaisers - beibehielt, die im Vergleich zu den alten Geschützen infolge ihrer geringeren Ladung weniger wirksam waren, wurden etliche Batterien mit gezogenen Vierpfündern ausgerüstet und in Kriegsbereitschaft gesetzt. Ihre Konstruktion war fehlerhaft, weil es die ersten gezogenen Geschütze waren, die seit dem 15. Jahrhundert gefertigt wurden; aber in ihrer Wirkung waren sie jeder glattgebohrten Feldkanone überlegen.

So lagen die Dinge bei Ausbruch des italienischen Krieges. Die österreichische Armee liebte ihre Bequemlichkeit, außerordentliche Leistungen sind selten ihre Stärke gewesen; in Wahrheit war sie respektabel und sonst |98| nichts. Zu ihren Führern gehörten einige der besten und ein großer Teil der schlechtesten Generale jener Zeit. Der Einfluß des Hofes brachte die Mehrzahl der letzteren in hohe Stellen. Die Schnitzer der österreichischen Generale sowie der größere Ehrgeiz der französischen Soldaten verschafften der französischen Armee einen ziemlich hart erkämpften Sieg. Magenta brachte überhaupt keine Trophäen, Solferino nur wenige. Politische Ursachen ließen den Vorhang fallen, ehe die eigentliche Schwierigkeit des Krieges, der Kampf um das Festungsviereck, eine Rolle spielen konnte.

Nach diesem Feldzug war das französische Heer das Vorbild für Europa geworden. Wenn nach dem Krimkrieg der französische Chasseur-à-pied zum "beau ideal" |"Vorbild"| eines Fußsoldaten geworden war, so wurde diese Bewunderung jetzt auf die ganze französische Armee ausgedehnt. Ihre Einrichtungen wurden studiert, ihre Lager wurden Unterrichtsschulen für Offiziere aller Nationen. Fast ganz Europa glaubte fest an die Unbesiegbarkeit der französischen Armee. In der Zwischenzeit hatte Frankreich seine alten Gewehre in gezogene umgeändert und seine gesamte Artillerie mit gezogenen Kanonen ausgerüstet.

Aber derselbe Feldzug, der die französische Armee in den Rang der ersten Armee in Europa gehoben hatte, rief Bestrebungen hervor, die dazu führten, daß ihr erst ein Rivale, dann ein Bezwinger erstand. Die preußische Armee war von 1815 bis 1850 genauso eingerostet wie alle andern europäischen Heere. Aber für Preußen wurde dieses Rostansetzen in Friedenszeiten ein größeres Hemmnis seiner Kriegsmaschinerie als für die andern. Das preußische System vereinigte damals in jeder Brigade ein Linien- und ein Landwehrregiment, so daß bei der Mobilmachung eine Hälfte der Feldtruppen neu formiert werden mußte. Das Heeresgut für die Linientruppen und für die Landwehr war völlig unzureichend geworden. Bei den verantwortlichen Leuten waren viele kleine Diebereien gang und gäbe. Als 1850 der Konflikt mit Österreich zu einer Mobilmachung zwang, brach alles elend zusammen, und Preußen mußte durch das Kaudinische Joch gehen. Das Heeresgut wurde sofort unter großen Kosten ersetzt und die ganze Organisation revidiert, jedoch nur in Einzelheiten. Als 1859 der italienische Krieg eine neue Mobilmachung erforderte, war das Material in besserer Ordnung, aber immer noch nicht vollständig. Der Geist der Landwehr, der für einen Nationalkrieg glänzend war, erwies sich als vollständig unlenkbar während einer militärischen Demonstration, die zum Krieg mit der |99| einen oder anderen kämpfenden Seite führen konnte. Die Reorganisation der Armee wurde beschlossen.

Diese Reorganisation, die hinter dem Rücken des Parlaments durchgeführt wurde, hielt alle zweiunddreißig Landwehr-Infanterieregimenter unter den Waffen und füllte die Reihen durch verstärkte Rekrutenaushebung allmählich auf, bildete sie in Linienregimenter um und erhöhte dadurch deren Zahl von vierzig auf zweiundsiebzig. Die Artillerie wurde im gleichen Verhältnis, die Kavallerie dagegen in einem viel geringeren vergrößert. Diese Vergrößerung des Heeres entsprach ungefähr dem Wachstum der Bevölkerung Preußens von 10,5 Millionen im Jahre 1815 auf 18,5 Millionen im Jahre 1860. Trotz der Opposition des Abgeordnetenhauses blieb diese Reorganisation praktisch in Kraft. Außerdem wurde die Armee noch in jeder Beziehung kriegstüchtiger gemacht. Sie war die erste, in der die ganze Infanterie mit gezogenen Gewehren versehen war. Dann wurden die Zündnadel-Hinterlader, die man bisher nur an einen geringen Teil der Infanterie gegeben hatte, an die ganze Infanterie geliefert, und ein Reservevorrat angelegt. Die Versuche mit gezogenen Geschützen, die einige Jahre hindurch unternommen worden waren, wurden zu Ende geführt und die glattgebohrten Geschütze allmählich durch die angenommenen neuen Modelle ersetzt. Der übertriebene Paradedrill, der von dem pedantischen alten Friedrich Wilhelm III. stammte, machte mehr und mehr einem besseren Ausbildungssystem Platz, in dem besonders Vorpostendienst und Scharmützel geübt wurden; das Vorbild für beides waren in weitem Maße die französischen algerischen Truppen. Für die detachierten Bataillone wurde die Kompaniekolonne als Hauptgefechtsformation eingeführt. Dem Scheibenschießen wurde große Aufmerksamkeit geschenkt, und man erreichte dabei ausgezeichnete Resultate. Die Kavallerie wurde in gleicher Weise verbessert. Man hatte besonders in Ostpreußen, dem Lande der Pferdezucht, jahrelang Pferde gezüchtet, arabisches Blut eingeführt, und nun begannen sich die Ergebnisse zu zeigen. Das ostpreußische Pferd, zwar an Größe und Schnelligkeit dem englischen Kavalleriepferd unterlegen, ist aber ein weit besseres Kriegspferd und wird in einem Feldzug fünfmal soviel aushalten. Die Berufsausbildung der Offiziere, die sehr lange stark vernachlässigt worden war, wurde wieder auf den vorgeschriebenen sehr hohen Stand gebracht. Alles in allem machte die preußische Armee eine vollständige Wandlung durch. Der dänische Krieg zeigte jedem, der sehen wollte, diese Tatsache zur Genüge; aber man wollte es nicht sehen. Dann kam der Donnerschlag von 1866; nun konnte man nicht mehr umhin, es zu sehen. Das nächste war die Ausdehnung des preußischen Systems auf |100| die norddeutsche Armee und im wesentlichen auch auf die süddeutschen Heere; wie leicht es eingeführt werden kann, hat das Ergebnis bewiesen. So kam 1870 heran.

Aber 1870 war die französische Armee nicht mehr die von 1859. Die Unterschlagungen, Börsenschwindeleien und der allgemeine Mißbrauch öffentlicher Gelder für private Zwecke, die den Grundzug des Systems des Zweiten Kaiserreichs bildeten, hatten auch die Armee ergriffen. Wenn Haussmann und seine Bande Millionen aus dem ungeheuren Pariser Geschäft herauszogen; wenn das ganze Ressort für öffentliche Arbeiten, wenn jeder von der Regierung abgeschlossene Kontrakt, jedes Zivilamt schamlos und offen zu einem Mittel gemacht wurde, das Volk zu bestehlen, wie konnte da die Armee allein tugendhaft bleiben, die Armee, der Louis-Napoleon alles verdankte, die Armee, die von Leuten kommandiert wurde, die Reichtum ebenso liebten wie die glücklicheren Zivilschmarotzer am kaiserlichen Hof? Und als bekannt wurde, daß die Regierung das Geld für die Ersatzmänner einzustecken pflegte, ohne sie tatsächlich einzuziehen - was selbstverständlich jeder Regimentsoffizier wußte; als jene anderen Veruntreuungen in Proviantämtern u.a. begannen, mit denen die Fonds gespeist werden sollten, die das Kriegsministerium insgeheim dem Kaiser überwies; als deswegen die höchsten Ämter mit eingeweihten Leuten besetzt werden mußten, die, was immer sie taten oder verabsäumten, nicht abgesetzt werden konnten - da griff die Demoralisierung auch auf die Regimentsoffiziere über. Wir sind weit davon entfernt, zu behaupten, daß Veruntreuungen von öffentlichen Geldern unter ihnen Platz griffen; aber Verachtung gegenüber den Vorgesetzten, Vernachlässigung des Dienstes und Verfall der Disziplin waren die unausbleiblichen Folgen. Hätten die Vorgesetzten wirklich Autorität gehabt, hätten es dann die Offiziere gewagt - wie es allgemein üblich war -, während des Marsches in Kutschen zu fahren? Das ganze System war verrottet; die Atmosphäre der Korruption, in der das Zweite Kaiserreich lebte, breitete sich schließlich auch auf die Hauptstütze dieses Kaiserreichs aus - auf die Armee. Und in der Stunde der Prüfung konnte man dem Feind nichts anderes entgegenstellen als die ruhmreiche Tradition der Armee und die urwüchsige Tapferkeit der Soldaten. Aber das allein genügt nicht, um eine Armee ersten Ranges zu bleiben.