Über den Krieg - XVIII | Inhalt | Über den Krieg - XIX

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 105-108.

Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.

Friedrich Engels

Wie die Preußen zu schlagen sind


["The Pall Mall Gazette" Nr. 1746 vom 17. September 1870]

|105| Nach dem italienischen Krieg von 1859, als die militärische Macht Frankreichs ihren Höhepunkt erreicht hatte, schrieb Prinz Friedrich Karl von Preußen, derselbe, der Bazaines Armee in Metz eingeschlossen hat, eine Broschüre "Wie die Franzosen zu schlagen sind". Heute, wo die ungeheure militärische Stärke der Deutschen, nach dem preußischen System organisiert, alles im Wege Stehende hinwegfegt, beginnt man sich zu fragen, wie die Preußen zu schlagen sind, und wer es tun wird. Da sich der Krieg, in dem sich Deutschland anfangs nur gegen den französischen Chauvinismus verteidigte, langsam aber sicher in einen Krieg für die Interessen eines neuen deutschen Chauvinismus zu verwandeln scheint, lohnt es sich, diese Frage zu untersuchen.

"Gott ist immer mit den stärksten Bataillonen" war ein beliebter Ausspruch der Napoleone, um zu erklären, wodurch Schlachten gewonnen oder verloren werden. Nach diesem Prinzip hat Preußen gehandelt. Es sorgte dafür, daß es die "stärksten Bataillone" hatte. Als ihm Napoleon 1807 verbot, eine Armee von mehr als 40.000 Mann zu halten, entließ man die Rekruten nach sechsmonatiger Ausbildung und stellte neue Mannschaften an ihren Platz. 1813 war man imstande, aus einer Bevölkerung von viereinhalb Millionen 250.000 Soldaten ins Feld zu schicken. Später wurde das gleiche Prinzip des kurzen Dienstes im Regiment und einer langen Verpflichtung für den Dienst in der Reserve weiterentwickelt und außerdem mit den Erfordernissen einer absoluten Monarchie in Einklang gebracht. Die Mannschaften wurden zwei bis drei Jahre in den Regimentern behalten, nicht nur, um sie gut auszubilden, sondern auch, um sie zu unbedingtem Gehorsam abzurichten.

|106| Hier ist aber auch der schwache Punkt des preußischen Systems. Es hat zwei verschiedene und schließlich unvereinbare Aufgaben zu versöhnen. Einerseits besteht es darauf, aus jedem dienstfähigen Mann einen Soldaten zu machen und ein stehendes Heer zu haben, das lediglich als Schule, in der die Bürger den Gebrauch der Waffen erlernen, und als Kern dienen soll, um den sie sich im Falle eines äußeren Angriffs scharen. Soweit ist das System rein defensiver Natur. Andererseits aber soll diese selbe Armee die bewaffnete Stütze, der Hauptpfeiler einer quasi-absolutistischen Regierung sein. Zu diesem Zweck muß die Waffenschule für die Bürger zu einer Schule des blinden Gehorsams gegenüber den Vorgesetzten und der königstreuen Gesinnung werden. Das kann nur durch lange Dienstzeit erreicht werden. Hier wird die Unvereinbarkeit dieser beiden Aufgaben sichtbar. Die Verteidigungspolitik erfordert die Ausbildung vieler Menschen in kurzer Zeit, um bei einem Angriff von außen große Massen in Reserve zu haben. Die Innenpolitik dagegen erfordert das Drillen einer beschränkten Anzahl von Menschen in einer längeren Periode, um im Falle von inneren Revolten über eine zuverlässige Armee zu verfügen. Die quasi-absolutistische Monarchie wählte einen Mittelweg. Sie hielt die Männer volle drei Jahre unter Waffen und beschränkte die Zahl der Rekruten nach ihren finanziellen Mitteln. Die berühmte allgemeine Wehrpflicht besteht in Wirklichkeit nicht. Sie hat sich in eine Aushebung verwandelt, die sich von den Aushebungen in anderen Ländern nur dadurch unterscheidet, daß sie drückender ist. Sie kostet mehr Geld, sie erfordert mehr Menschen, und sie dehnt die Verpflichtung, sich jederzeit zur Einberufung bereitzuhalten, auf eine weit längere Zeit aus als in irgendeinem anderen Lande. Gleichzeitig wird das, was ursprünglich ein zu seiner eigenen Verteidigung bewaffnetes Volk war, jetzt in eine kampfbereite und zuverlässige Angriffsarmee, in ein Instrument der Kabinettspolitik verwandelt.

1861 betrug die Bevölkerung Preußens etwas mehr als achtzehn Millionen, und in jedem Jahre wurden 227.000 junge Männer, die das zwanzigste Lebensjahr erreicht hatten, militärdienstpflichtig. Davon war die Hälfte dienstfähig, wenn auch nicht sofort, so doch im Laufe der nächsten Jahre. Aber statt 114.000 Rekruten wurden jährlich nur 63.000 eingezogen, so daß fast die Hälfte der dienstfähigen männlichen Bevölkerung von der Ausbildung im Waffengebrauch ausgeschlossen wurde. Wer während eines Krieges in Preußen gewesen ist, muß von der riesigen Zahl starker und gesunder Männer zwischen zwanzig und zweiunddreißig Jahren, die ruhig zu Hause geblieben waren, überrascht gewesen sein. Der Zustand des "Scheintodes", den einige Sonderberichterstatter während des Krieges in |107| Preußen festgestellt haben wollen, besteht also nur in ihrer eigenen Einbildung.

Seit 1866 hat die Zahl der jährlichen Rekruten im Norddeutschen Bund bei einer Bevölkerung von 30 Millionen 93.000 nicht überschritten. Zöge man die volle Zahl der dienstfähigen jungen Männer ein - selbst nach genauester ärztlicher Untersuchung -, so würden das mindestens 170.000 Mann sein. Dynastische Erfordernisse einerseits und finanzielle Notwendigkeiten andererseits bestimmten diese Beschränkung der Rekrutenzahl. Die Armee blieb ein zuverlässiges Instrument für absolutistische Zwecke im Innern und für Kabinettskriege nach außen. Aber die volle Stärke der Nation wurde nicht annähernd für die Verteidigung ausgenutzt.

Dennoch ist dieses System dem altmodischen Kadersystem der anderen großen kontinentalen Armeen weit überlegen. Mit ihnen verglichen, gewann Preußen zweimal soviel Soldaten aus derselben Bevölkerungsmenge. Auch hat es verstanden, gute Soldaten aus ihnen zu machen, dank einem System, das Preußens Ressourcen ausschöpfte und das vom Volke nicht geduldet worden wäre, wenn nicht Louis-Napoleon ständig seine Finger nach dem Rhein ausgestreckt hätte und die Deutschen nicht instinktiv in dieser Armee das notwendige Instrument für ihr Streben nach nationaler Einheit erblickt hätten. Wenn der Rhein und die deutsche Einheit erst gesichert sind, muß dieses Armeesystem unerträglich werden.

Hier haben wir die Antwort auf die Frage, wie die Preußen zu schlagen sind. Wenn eine ebenso zahlreiche, ebenso befähigte, ebenso tapfere und ebenso zivilisierte Nation tatsächlich das durchführte, was in Preußen nur auf dem Papier steht, das heißt, aus jedem dienstfähigen Bürger einen Soldaten machte; wenn diese Nation die tatsächliche Dienstzeit zur Ausbildung im Frieden so weit beschränkte, wie für diesen Zweck erforderlich; wenn sie die Organisation für den Krieg in der gleichen wirksamen Weise aufrechterhielte, wie es Preußen in letzter Zeit getan hat - dann würde, sagen wir, diese Nation den gleichen ungeheuren Vorteil über das verpreußte Deutschland haben, wie ihn das verpreußte Deutschland offenkundig in diesem Krieg über Frankreich besessen hat. Nach Ansicht erster preußischer Autoritäten (einschließlich des Kriegsministers General von Roon) genügt eine zweijährige Dienstzeit vollauf, aus einem Tölpel einen guten Soldaten zu machen. Mit Erlaubnis der gestrengen Herren Offiziere Seiner Majestät möchten wir sogar sagen, daß für die Masse der Rekruten achtzehn Monate genügen - zwei Sommer und ein Winter. Aber die genaue Länge der |108| Dienstzeit ist eine untergeordnete Frage. Wie wir gesehen haben, erzielten die Preußen mit einem sechsmonatigen Dienst ausgezeichnete Resultate, und zwar mit Männern, die gerade erst aufgehört hatten, Leibeigene zu sein. Die Hauptsache ist, daß das Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht wirklich durchgeführt wird.

Wenn der Krieg bis zu jenem bitteren Ende fortgesetzt werden sollte, nach dem die deutschen Philister jetzt schreien, bis zur Zerstückelung Frankreichs, so können wir uns darauf verlassen, daß die Franzosen dieses Prinzip übernehmen werden. Sie sind bisher zwar eine kriegerische, aber keine militärische Nation gewesen. Sie haben den Dienst in jener Armee gehaßt, die auf dem Kadersystem mit langer Dienstzeit und mit wenigen ausgebildeten Reservemannschaften aufgebaut war. Sie werden aber gern bereit sein, in einer Armee mit kurzer Ausbildungszeit und langer Dienstverpflichtung in der Reserve zu dienen. Sie werden sogar noch mehr tun, wenn es ihnen dadurch ermöglicht wird, die Scharte auszuwetzen und die Unversehrtheit Frankreichs wiederherzustellen. Dann werden die "stärksten Bataillone" auf seiten Frankreichs sein, und sie werden dieselbe Wirkung haben wie in diesem Kriege, wenn nicht die Deutschen dasselbe System annehmen. Aber da wird es folgenden Unterschied geben: Wie das preußische Landwehrsystem gegenüber dem französischen Kadersystem ein Fortschritt war, weil es die Dienstzeit herabsetzte und die Zahl der Männer erhöhte, die fähig sind, ihr Land zu verteidigen, so wird dieses neue System der wirklich allgemeinen Wehrpflicht wieder ein Fortschritt gegenüber dem preußischen System sein. Die Rüstungen für einen Krieg werden immer größer, aber die Friedensarmeen immer kleiner werden; die Bürger eines Landes werden - ein jeder von ihnen - persönlich und nicht durch einen Ersatzmann die Konflikte ihrer Regierenden auskämpfen müssen; die Verteidigung wird stärker und der Angriff schwieriger werden; und der große Umfang der Armeen wird schließlich in eine Verminderung der Ausgaben und eine Garantie für den Frieden umschlagen.