Über den Krieg - XX | Inhalt | Das Prinzip des preußischen Militärsystems

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 121-124.

Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.

Friedrich Engels

Über den Krieg - XXI


["The Pall Mall Gazette" Nr. 1762 vom 6. Oktober 1870]

|121| Wenn wir den Meldungen, die per Luftballon aus Paris gesandt werden, glauben sollen, wird die Stadt von unzählbaren Truppen verteidigt: es befinden sich 100.000 bis 200.000 Mann Mobilgarden aus den Provinzen dort; ferner 250 Bataillone Pariser Nationalgarde, von denen jedes 1.500 oder, wie andere Berichte behaupten, 1.800 bis 1.900 Mann zählen soll, also bei niedrigster Berechnung 375.000 Mann; weiter mindestens 50.000 Mann Linientruppen, außerdem Marineinfanterie, Matrosen, Franktireurs usw. Die letzten Informationen besagen sogar, wenn alle diese Truppen kampfunfähig würden, ständen hinter ihnen noch 500.000 Bürger, die tauglich und bereit seien, Waffen zu tragen und, wenn Not am Mann sei, an ihre Stelle zu treten.

Vor Paris steht eine deutsche Armee, die aus sechs norddeutschen Armeekorps (dem IV., V., VI., XI., XII. und der Garde), aus zwei bayrischen Korps und der württembergischen Division besteht, alles in allem achteinhalb Korps, die etwa 200.000 bis 230.000 Mann - gewiß nicht mehr - zählen. Obgleich diese deutsche Armee auf eine Einschließungslinie von mindestens 80 Meilen auseinandergezogen ist, hält sie jene unzählbaren Truppen innerhalb der Stadt offenkundig in Schach, schneidet ihre Zufuhrwege ab, bewacht jeden Weg und Pfad, der aus Paris herausführt, und hat bis jetzt alle Ausfälle der Garnison siegreich zurückgeschlagen. Wie ist das möglich?

Erstens kann wenig Zweifel darüber bestehen, daß die Nachrichten über die Riesenzahl von Bewaffneten in Paris Phantasien sind. Wenn wir die Zahl von 600.0000 Mann unter Waffen, wovon wir soviel hören, auf 350.000 oder 400.000 Mann herabsetzen, werden wir der Wahrheit näherkommen. Aber es kann nicht geleugnet werden, daß weit mehr bewaffnete |122| Männer in Paris sind, um es zu verteidigen, als vor Paris, um es anzugreifen.

Zweitens ist die Qualität der Verteidiger von Paris außerordentlich verschiedenartig. Unter all diesen Truppen möchten wir nur die Marinesoldaten und Matrosen, die jetzt die Außenforts verteidigen, als wirklich zuverlässig betrachten. Die Linientruppen - die Überbleibsel von Mac-Mahons Armee, verstärkt durch Reserven, von denen die meisten neu ausgehobene Rekruten sind - haben in dem Treffen vom 19. September bei Meudon bewiesen, daß sie demoralisiert sind. Die Mobilgarden, an sich brauchbare Männer, stehen jetzt gerade erst mitten in der Ausbildung; sie sind schlecht mit Offizieren versehen und mit drei verschiedenen Arten von Gewehren bewaffnet: dem Chassepot, dem umgeänderten Minié- und dem nicht geänderten Minié-Gewehr. Keine Anstrengung, kein Scharmützel mit dem Feind vermag ihnen in der kurzen Zeit, die ihnen noch zur Verfügung steht, jene Festigkeit zu geben, die allein sie befähigen könnte, das einzig Notwendige zu tun: dem Feind im offenen Felde entgegenzutreten und ihn zu schlagen. Der Grundfehler ihrer Organisation, der Mangel an geschulten Instrukteuren, Offizieren und Sergeanten, hindert sie, gute Soldaten zu werden. Doch scheinen sie das beste Element bei der Verteidigung von Paris zu sein; sie fügen sich offenbar wenigstens der Disziplin. Die sedentäre Nationalgarde ist eine sehr gemischte Truppe. Die Bataillone der Vorstädte, die aus Arbeitern bestehen, sind gewillt und entschlossen zu kämpfen; sie werden gehorchen und eine Art instinktive Disziplin zeigen, sofern sie von Männern geführt werden, die persönlich und politisch ihr Vertrauen besitzen; gegen alle anderen Führer werden sie aufsässig sein. Übrigens sind sie unausgebildet und ohne geschulte Offiziere; und wenn es nicht zum Endkampf auf den Barrikaden kommt, werden sie ihre besten Kampfqualitäten nicht unter Beweis stellen können. Aber das Gros der Nationalgarde, jene von Palikao bewaffneten Männer, besteht aus der Bourgeoisie, vorwiegend aus kleinen Händlern, und diese Leute sind grundsätzlich gegen das Kämpfen. Ihr Geschäft unter Waffen besteht darin, ihre Läden und ihre Häuser zu bewachen; und wenn diese von feindlichen Granaten aus der Entfernung angegriffen werden, so wird ihre kriegerische Begeisterung wahrscheinlich dahinschwinden. Sie sind überdies eine Truppe, die weniger zum Kampf gegen den Feind von außen, sondern vielmehr zum Kampf gegen den inneren Feind organisiert ist. All ihre Traditionen beweisen das, und neun unter zehn von ihnen sind überzeugt, daß solch ein innerer Feind in diesem Augenblick mitten im Herzen von Paris lauere und nur auf die Gelegenheit warte, sie zu überfallen. Zumeist sind sie verheiratete Leute, ungewohnt |123| der Strapazen und Gefahren, und tatsächlich murren sie bereits über die Härte der Pflicht, jede dritte Nacht auf den Wällen der Stadt im Freien zuzubringen. In einer solchen Truppe mag man Kompanien und sogar Bataillone finden, die sich unter besonderen Umständen tapfer halten; aber in ihrer Gesamtheit und besonders bei einem regelmäßigen und ermüdenden Dienst kann man sich nicht auf sie verlassen.

Mit einer solchen Streitmacht innerhalb von Paris ist es kein Wunder, daß sich die viel weniger zahlreichen und noch dazu weit zerstreuten Deutschen außerhalb der Stadt vor Angriffen aus Paris sicher fühlen. In der Tat zeigen alle Treffen, die bisher stattgefunden haben, die Unfähigkeit der Armee von Paris (wenn wir sie überhaupt so nennen können), im offenen Felde zu kämpfen. Der erste große Angriff auf die blockierenden Truppen am 19. war charakteristisch genug. General Ducrots Korps von ungefähr 30.000 oder 40.000 Mann wurde anderthalb Stunden lang von zwei preußischen Regimentern (dem 7. und 47.) aufgehalten, bis diesen zwei bayrische Regimenter zu Hilfe eilten und eine weitere bayrische Brigade den Franzosen in die Flanke fiel. Als sich diese in Verwirrung zurückzogen, ließen sie eine Feldschanze, die mit acht Geschützen bestückt war, und zahlreiche Gefangene in den Händen des Feindes. Die Zahl der bei dem Gefecht eingesetzten Deutschen dürfte 15.000 nicht überschritten haben. Seitdem sind die Ausfälle der Franzosen ganz anders geführt worden. Sie haben alle Absichten, regelrechte Schlachten zu liefern, aufgegeben und senden kleinere Truppeneinheiten aus, um Vorposten und andere kleine Detachements zu überraschen; wenn eine Brigade, eine Division oder eine größere französische Truppeneinheit über die Linie der Forts hinaus vorrückt, so gibt sie sich mit einer bloßen Demonstration zufrieden. Diese Kämpfe zielen weniger darauf ab, den Feind empfindlich zu treffen, als vielmehr die jungen französischen Truppen in der praktischen Kriegführung zu üben, was sie ohne Zweifel allmählich verbessern wird; aber nur ein kleiner Teil der schwerfälligen Menschenmasse in Paris kann aus einer so begrenzten Praxis Nutzen ziehen.

Daß sich General Trochu nach dem Kampf vom 19. über den Charakter der Truppen unter seinem Kommando völlig klar war, zeigt seine Proklamation vom 20. September ganz deutlich. Er schiebt die Schuld fast ausschließlich auf die Linientruppen und klopft der Mobilgarde ein wenig auf die Schulter; aber das beweist nur, daß er diese als den besten Teil der Truppen unter seinem Kommando betrachtet (und mit Recht). Sowohl diese Proklamation als auch der seither vollzogene Wechsel in der Taktik beweisen eindeutig, daß er sich über die Untauglichkeit seiner Truppen für Opera- |124| tionen im offenen Felde nicht täuscht. Er sollte überdies wissen, daß alle andern Truppen, die Frankreich noch verblieben sind, unter Namen wie Lyon-Armee, Loire-Armee usw., genau dieselbe Zusammensetzung aufweisen wie seine eigenen Truppen und daß er deshalb nicht darauf zu rechnen braucht, eine Entsatzarmee werde die Blockade oder Belagerung von Paris aufheben. Darum scheint uns die Nachricht, daß Trochu sich im Ministerrat dem Vorschlag, Friedensverhandlungen anzuknüpfen, widersetzt haben soll, sehr merkwürdig. Diese Nachricht kommt sicher aus Berlin, also aus keiner zuverlässigen Quelle für unparteiische Informationen über die Vorgänge in Paris. Wie dem auch sei, wir können nicht glauben, daß Trochu Hoffnung auf Erfolg hat. 1867 neigte er in seinen Ansichten über die Armeeorganisation stark zu einer vollen vierjährigen Dienstzeit im Regiment mit dreijähriger Verpflichtung in der Reserve, wie das unter Louis-Philippe die Regel gewesen war; er hielt sogar die Dienstzeit der Preußen - "zwei bis drei Jahre - für völlig unzulänglich, gute Soldaten hervorzubringen. Die Ironie der Geschichte bringt ihn jetzt in eine Lage, wo er mit ganz unerfahrenen, fast unausgebildeten und undisziplinierten Männern Krieg gegen diese selben Preußen führt, die er gestern noch als nur halbausgebildete Soldaten bezeichnete; und das, nachdem eben diese Preußen in einem Monat die gesamte reguläre Armee Frankreichs außer Gefecht gesetzt haben.