Über den Krieg - XXI | Inhalt | Über den Krieg - XXII

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 125-128.

Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.

Friedrich Engels

Das Prinzip des preußischen Militärsystems


["The Pall Mall Gazette" Nr. 1764 vom 8. Oktober 1870]

|125| Vor einigen Wochen wiesen wir darauf hin, daß das Rekrutierungssystem der preußischen Armee alles andere als vollkommen ist. Es gibt vor, aus jedem Bürger einen Soldaten zu machen. Nach offiziellen preußischen Verlautbarungen ist die Armee nichts anderes als "die Schule, in der das ganze Volk für den Krieg erzogen wird"; und dennoch durchläuft nur ein sehr kleiner Prozentsatz der Bevölkerung diese Schule. Wir kommen heute auf diesen Gegenstand zurück, um ihn durch einige genaue Zahlen zu veranschaulichen.

Nach den Tabellen des preußischen Statistischen Büros wurden von 1831 bis 1854 im Jahresdurchschnitt von den dienstpflichtigen jungen Männern

tatsächlich für die Armee ausgehoben

9,84 Prozent;

blieben verfügbar

8,28 Prozent;

waren wegen körperlicher Gebrechen gänzlich dienstunfähig

6,40 Prozent;

waren zeitweilig untauglich und sollten in einem späteren Jahr erneut gemustert werden

53,28 Prozent.

Der Rest war abwesend oder unter Rubriken zusammengefaßt, die zu unbedeutend sind, um hier erwähnt zu werden. Also während dieser vierundzwanzig Jahre wurde noch nicht ein Zehntel der jungen Bürger in die nationale Schule des Krieges aufgenommen; und das nennt sich "Volk in Waffen"!

Im Jahre 1861 waren die Zahlen wie folgt:

Zwanzigjährige, Jahrgang 1861

217.438

Junge Leute früherer Jahrgänge, die noch eingezogen werden können

 348.364

zusammen

565.802

|126| Von diesen waren abwesend

148.946 oder 26,32 Prozent;

gänzlich unfähig

17.727 oder   3,05 Prozent;

zurückgestellt in die Ersatzreserve |in der "P.M.G" deutsch|, das heißt in Friedenszeiten befreit vom Dienst mit der Verpflichtung, sich in Kriegszeiten zur Verfügung zu stellen

76.590 oder 13,50 Prozent;

wegen zeitweiliger Untauglichkeit zu späterer Nachmusterung zurückgestellt

230.236 oder 40,79 Prozent;

aus anderen Gründen zurückgestellt

22.369 oder   3,98 Prozent;

verfügbar für die Armee

   69.934 oder 12,36 Prozent;

von diesen sind wirklich in die Armee eingereiht worden nur

59.459 oder 10,50 Prozent.

Ohne Zweifel ist der Prozentsatz der jährlich eingezogenen Rekruten seit 1866 größer geworden, aber eine bedeutende Erhöhung dürfte er nicht erfahren haben; wenn jetzt 12 bis 13 Prozent der männlichen Bevölkerung Norddeutschlands durch die Armee gehen, so ist das viel. Dies steht natürlich in starkem Gegensatz zu den hitzigen Schilderungen der "Sonderberichterstatter" während der Mobilmachung in Deutschland. Hiernach zog jeder dienstfähige Mann seine Uniform an, schulterte sein Gewehr oder bestieg sein Pferd; alle Geschäfte standen still; Fabriken wurden geschlossen, Läden zugemacht; das Getreide blieb ungeschnitten auf den Feldern; jede Produktion wurde eingestellt, aller Handel aufgegeben - tatsächlich ein Fall von "Scheintod", eine ungeheure nationale Anstrengung, die, wenn sie nur wenige Monate dauerte, mit der vollständigen nationalen Erschöpfung enden müßte. Die Verwandlung von Zivilisten in Soldaten ging sicherlich in einem Maße vor sich, von dem man außerhalb Deutschlands keine Ahnung hatte; aber wenn dieselben Journalisten jetzt nach Deutschland blicken wollten, nachdem über eine Million Menschen dem zivilen Leben entzogen worden sind, so würden sie die Fabriken in Betrieb, das Getreide eingebracht, die Läden und Kontore offen finden. Wenn die Produktion überhaupt eingestellt worden ist, so aus Mangel an Aufträgen und nicht aus Mangel an Arbeitern; auf den Straßen sieht man zahlreiche kräftige Burschen, die ebenso tauglich wären, ein Gewehr zu schultern, wie jene, die nach Frankreich gezogen sind.

All das erklären die obigen Zahlen. Die Männer, die durch die Armee gegangen sind, machen sicherlich nicht mehr als 12 Prozent der gesamten |127| erwachsenen männlichen Bevölkerung aus. Deshalb können bei einer Mobilmachung nicht mehr als 12 Prozent eingezogen werden; es bleiben also volle 88 Prozent zu Hause. Von diesen wird natürlich ein Teil im weiteren Kriegsverlauf einberufen, um die durch Schlachten und Krankheiten entstandenen Lücken aufzufüllen. Mögen sich diese auf weitere 2 bis 3 Prozent während eines halben Jahres belaufen, so ist doch die überwiegende Mehrheit der männlichen Bevölkerung noch immer nicht einberufen. Das "Volk in Waffen" ist also Lug und Trug.

Den Grund dafür haben wir früher dargelegt. Solange die preußische Dynastie und Regierung ihre traditionelle Politik fortsetzen, brauchen sie eine Armee, die ein gehorsames Instrument dieser Politik ist. Nach den preußischen Erfahrungen sind drei Jahre Ausbildungszeit unerläßlich, um den durchschnittlichen Zivilisten für diesen Tätigkeitszweig abzurichten. Es ist niemals ernstlich behauptet worden, selbst nicht von den halsstarrigsten Gamaschenknöpfen in Preußen, daß ein Infanteriesoldat - und die Infanterie bildet das Gros der Armee - seine militärischen Pflichten nicht in zwei Jahren erlernen könne. Jedoch, wie das in den Debatten des Abgeordnetenhauses von 1861 bis 1866 zum Ausdruck kam, der wahre militärische Geist, die Gewohnheit des unbedingten Gehorsams, wird erst im dritten Jahr gelernt. Nun, bei einem gegebenen Geldbetrag für das Militärbudget können desto weniger Rekruten zu Soldaten ausgebildet werden, je länger die Männer dienen. Bei der jetzigen dreijährigen Dienstzeit treten jährlich 90.000 Rekruten in die Armee ein, bei zwei Jahren könnten 135.000 Mann und bei achtzehn Monaten 180.000 Mann jährlich eingezogen und ausgebildet werden. Daß es genügend dienstfähige Männer für diesen Zweck gibt, ist nach den oben gegebenen Zahlen klar und wird aus folgendem noch klarer werden. Wir sehen also, daß sich hinter der Phrase vom "Volk in Waffen" die Schaffung einer großen Armee für die Zwecke der Kabinettspolitik nach außen und der reaktionären Innenpolitik verbirgt. Ein wirkliches "Volk in Waffen" würde nicht das geeignete Werkzeug für Bismarcks Ziele sein.

Die Bevölkerung des Norddeutschen Bundes beträgt etwas weniger als 30.000.000. Die Kriegsstärke seiner Armee beträgt rund 950.000 Mann oder nur 3,17 Prozent der Bevölkerung. Die Zahl der jungen Männer, die alljährlich das Alter von zwanzig Jahren erreichen, liegt bei 1,23 Prozent der Bevölkerung, beträgt also rund 360.000. Davon ist nach den Erfahrungen der deutschen Mittelstaaten gerade die Hälfte entweder sogleich oder innerhalb der beiden folgenden Jahre kriegsdienstfähig; das würde 180.000 Mann ausmachen. Von den übrigen ist ein guter Teil für den Garnisondienst geeignet; aber diese wollen wir hier gar nicht rechnen. Die preußischen |128| Statistiken scheinen hiervon abzuweichen, aber aus begreiflichen Gründen müssen diese statistischen Daten in Preußen so gruppiert werden, daß das Resultat mit der Vorspiegelung des "Volkes in Waffen" scheinbar übereinstimmt. Doch die Wahrheit sickert auch dort durch. Im Jahre 1861 hatten wir, außer den 69.934 Mann, die für die Armee verfügbar waren, 76.590 Mann in der Ersatzreserve, so daß insgesamt 146.524 Mann diensttauglich waren, von denen aber nur 59.459 oder 40 Prozent eingezogen wurden. Jedenfalls werden wir vollkommen sicher gehen, wenn wir die Hälfte der jungen Leute für dienstfähig halten. In diesem Fall könnten also jährlich 180.000 Rekruten in die Linientruppen eintreten, unter der Verpflichtung, sich, wie gegenwärtig, zwölf Jahre lang für eine Wiedereinberufung zur Verfügung zu halten. Das würde eine Streitmacht von 2.160.000 ausgebildeten Leuten ergeben und würde selbst dann noch mehr als das Doppelte der jetzigen Heeresstärke bedeuten, wenn man einen reichlichen Abzug für alle Abgänge durch Tod und andere Zwischenfälle macht. Wenn die andere Hälfte der jungen Leute in ihrem fünfundzwanzigsten Lebensjahr wieder untersucht würde, so fänden sich dabei Rekruten für weitere 500.000 oder 600.000 Mann oder noch mehr brauchbare Garnisontruppen. 6 bis 8 Prozent der Bevölkerung, fertig ausgebildet und diszipliniert, um im Fall eines Angriffs einberufen zu werden, die Kader dazu auch im Frieden aufrechterhalten, wie das gegenwärtig geschieht - das wäre wirklich ein "Volk in Waffen". Aber es wäre keine Armee, die sich für Kabinettskriege, für Eroberungen oder für eine reaktionäre Innenpolitik verwenden ließe.

Und doch hieße das nur die preußische Phrase in die Wirklichkeit umsetzen. Wenn schon der Schein eines "Volkes in Waffen" eine solche Macht darstellt, was würde erst die Wirklichkeit sein? Und wir können uns darauf verlassen, daß Frankreich in dieser oder jener Form dazu gezwungen wird, diesen Schein in Wirklichkeit zu verwandeln, wenn Preußen auf seiner Eroberungspolitik beharrt. Frankreich wird sich in eine Nation von Soldaten verwandeln und kann in einigen Jahren durch die überwältigenden Zahlen seiner Soldaten Preußen ebenso in Erstaunen setzen, wie Preußen die Welt in diesem Sommer in Erstaunen gesetzt hat. Aber kann Preußen nicht dasselbe tun? Gewiß, aber dann wird es aufhören, das heutige Preußen zu sein. Es gewänne an Stärke in der Verteidigung, während es im Angriff an Kraft verlöre; es hätte mehr Soldaten, aber keine, die bei Beginn eines Krieges für Invasionen so brauchbar wären; es müßte jeden Gedanken an Eroberung aufgeben, und seine Innenpolitik würde es ernstlich aufs Spiel setzen.