Des Kaisers Verteidigung | Inhalt | Über den Krieg - XXVII

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 167-171.

Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.

Friedrich Engels

Der Kampf in Frankreich


["The Pall Mall Gazette" Nr. 1795 vom 11. November 1870]

|167| Während der ersten sechs Wochen des Krieges, als die deutschen Siege einander rasch folgten, als die Kräfte der Angreifer noch nicht vollständig verausgabt waren und französische Armeen noch kampfbereit im Felde standen, war der Kampf, allgemein gesprochen, ein Kampf der Armeen. Die Bevölkerung der betroffenen Gebiete nahm nur wenig Anteil am Kampf. Gewiß, ungefähr ein Dutzend elsässische Bauern waren wegen der Teilnahme an Kämpfen oder wegen Verstümmelung von Verwundeten vor ein Kriegsgericht gestellt und erschossen worden. Aber eine Tragödie wie die von Bazeilles war durchaus eine Ausnahme. Das wird durch nichts besser bewiesen als durch den ungeheuren Eindruck, den sie hervorgerufen hat, und durch den heftigen Streit in der Presse, inwieweit die Handlungen der Deutschen diesem Dorf gegenüber gerechtfertigt gewesen seien oder nicht. Wenn es ratsam wäre, diesen Streit wieder zu eröffnen, so könnten wir durch einwandfreie Augenzeugenberichte beweisen, daß Einwohner von Bazeilles die verwundeten Bayern überfielen, mißhandelten und in die Flammen der in Brand geschossenen Häuser warfen, daß daraufhin General von der Tann den sinnlosen und barbarischen Befehl gab, den ganzen Ort zu zerstören - sinnlos und barbarisch besonders deshalb, weil dabei Häuser, in denen Hunderte seiner eigenen Verwundeten lagen, in Brand gesteckt wurden. Immerhin aber wurde Bazeilles in der Hitze der Schlacht zerstört, in einem höchst erbitterten Straßen- und Häuserkampf, wo man auf Grund von Meldungen handeln und schnelle Entscheidungen treffen muß und die Leute auf beiden Seiten keine Zeit haben, Aussagen zu prüfen und Ratschläge anzuhören.

Während der letzten sechs Wochen hat sich der Charakter des Krieges in bemerkenswerter Weise geändert. Die regulären Armeen Frankreichs |168| sind verschwunden. Den Kampf setzen Neuausgehobene fort, die durch ihre Unerfahrenheit mehr oder weniger zu den irregulären Truppen gehören. Wo immer sie versuchen, in Massen im offenen Feld zu kämpfen, werden sie mühelos geschlagen; wo sie jedoch in Dörfern und Städten unter dem Schutz von Barrikaden und aus Häusern schießend kämpfen, zeigt es sich, daß sie ernsten Widerstand leisten können. Zu dieser Kampfweise, zu nächtlichen Überfällen und anderen Überrumpelungen des Kleinkriegs werden sie ermutigt durch Proklamationen und Befehle der Regierung, die auch die Bevölkerung des Gebiets, in dem sie operieren, anweist, sie auf jede Weise zu unterstützen. Dieser Widerstand ließe sich leicht brechen, wenn der Feind über genügend Truppen zur Besetzung des ganzen Landes verfügen würde. Aber dazu war er bis zur Übergabe von Metz nicht imstande. Die Kräfte der Angreifer waren verausgabt, bevor Amiens, Rouen, Le Mans, Blois, Tours und Bourges auf der einen sowie Besançon und Lyon auf der anderen Seite erreicht werden konnten. Daß diese Kräfte so schnell verausgabt wurden, ist in nicht geringem Grade dieser erheblichen Verstärkung des Widerstands zuzuschreiben. Die ewigen "vier Ulanen" können jetzt nicht mehr in ein Dorf oder eine Stadt weit außerhalb ihrer eigenen Linien reiten und dort absolute Unterwerfung unter ihre Befehle fordern, ohne Gefahr zu laufen, gefangengenommen oder getötet zu werden. Requisitionskolonnen müssen von achtunggebietenden Truppenteilen begleitet werden, und einzelne Kompanien oder Schwadronen müssen, wenn sie in einem Dorf einquartiert sind, vor nächtlichen Überfällen auf der Hut sein, ebenso vor Angriffen aus dem Hinterhalt, wenn sie auf dem Marsch sind. Rund um jede deutsche Stellung zieht sich ein Gürtel Niemandsland, und gerade dort macht sich der Volkswiderstand am meisten bemerkbar. Um diesen Volkswiderstand zu brechen, haben die Deutschen zu einem Kriegsrecht Zuflucht genommen, das ebenso veraltet wie barbarisch ist. Sie handeln nach dem Prinzip, jede Stadt und jedes Dorf, wo ein oder mehrere Einwohner an der Verteidigung teilnehmen, auf deutsche Truppen feuern oder allgemein die Franzosen unterstützen, einzuäschern; jeden Mann, der mit der Waffe in der Hand angetroffen wird und nach ihrer Meinung kein regulärer Soldat ist, auf der Stelle zu erschießen; und dort, wo der Verdacht besteht, daß ein nennenswerter Bevölkerungsanteil einer Stadt sich solcher Vergehen schuldig gemacht hat, alle waffenfähigen Männer unverzüglich niederzumetzeln. Dieses System wird seit beinahe sechs Wochen erbarmungslos durchgeführt und ist noch heute in voller Kraft. Man kann keine deutsche Zeitung aufschlagen, ohne über ein halbes Dutzend Berichte von solchen militärischen Exekutionen zu stolpern, die dort als Selbstverständlich- |169| keiten erscheinen, als einfache Maßnahmen der Militärjustiz, die mit heilsamer Strenge von "ehrlichen Soldaten" gegen "feige Meuchelmörder und Räuber" ausgeführt werden. Es gibt keinerlei Unordnung, keine wilde Plünderung, keine Vergewaltigung, keine Unregelmäßigkeit. Nichts davon. Alles geht nach einem bestimmten System und auf Befehl vor sich: Das verurteilte Dorf wird umstellt, die Einwohner hinausgejagt, die Lebensmittel beschlagnahmt und die Häuser angezündet, während die wirklichen oder vermeintlichen Schuldigen vor ein Kriegsgericht gebracht werden, wo sie mit unfehlbarer Sicherheit einer kurzen, letzten Beichte und einem halben Dutzend Flintenkugeln entgegensehen. In Ablis, einem Dorf von 900 Einwohnern, an der Straße nach Chartres, wurde eine Schwadron der 16. (schleswig-holsteinischen) Husaren in der Nacht von irregulären Franzosen überfallen und verlor die Hälfte ihrer Leute; um diese Verwegenheit zu bestrafen, ritt die gesamte Kavalleriebrigade nach Ablis und brannte den ganzen Ort nieder; zwei verschiedene Berichte, beide von Beteiligten, versichern, daß alle waffenfähigen männlichen Einwohner herausgeholt und sämtlich ohne Ausnahme niedergeschossen oder in Stücke gehauen wurden. Dies ist nur einer von vielen Fällen. Ein bayrischer Offizier schreibt aus der Umgegend von Orléans, sein Truppenteil habe in zwölf Tagen fünf Dörfer niedergebrannt. Es ist keine Übertreibung: Wo immer die deutschen fliegenden Kolonnen in das Herz Frankreichs einmarschieren, ist ihr Weg allzuoft mit Feuer und Blut gezeichnet.

Heute, im Jahre 1870, kann man nicht einfach behaupten, daß dies eine legitime Kriegführung sei und daß die Einmischung der Zivilbevölkerung oder anderer nicht unmittelbar als Soldaten kenntlicher Leute gleichbedeutend mit Banditentum sei und mit Feuer und Schwert niedergeworfen werden müsse. All das mochte zur Zeit Ludwigs XIV. oder Friedrichs II. anwendbar sein, als der Kampf nur zwischen den Armeen geführt wurde. Aber vom amerikanischen Unabhängigkeitskrieg bis zum amerikanischen Sezessionskrieg ist in Europa sowohl wie in Amerika die Teilnahme der Bevölkerung am Krieg nicht die Ausnahme gewesen, sondern zur Regel geworden. Wo immer ein Volk seine Unterwerfung zuließ, nur weil seine Heere zum Widerstand unfähig geworden waren, war es der allgemeinen Verachtung als eine Nation von Feiglingen ausgesetzt; und wo immer ein Volk diesen irregulären Widerstand energisch leistete, fanden die Eindringlinge sehr bald, daß es unmöglich sei, den veralteten Kodex von Blut und Feuer anzuwenden. Die Engländer in Amerika, die Franzosen unter Napoleon in Spanien, die Österreicher 1848 in Italien und Ungarn waren sehr bald gezwungen, den Volkswiderstand als vollkommen legitime Krieg- |170| führung zu behandeln, und zwar aus Furcht vor Vergeltung an ihren eigenen Gefangenen. Nicht einmal die Preußen 1849 in Baden und der Papst nach Mentana hatten den Mut, ihre Kriegsgefangenen ohne Unterschied niederzuschießen, obwohl diese Irreguläre und "Rebellen" waren. Es gibt nur zwei moderne Beispiele der unbarmherzigen Anwendung dieses veralteten Prinzips der "Ausrottung": die Unterwerfung des Sepoy-Aufstands in Indien durch die Engländer und das Auftreten Bazaines und seiner Franzosen in Mexiko.

Von allen Armeen der Welt ist die preußische die letzte, die solche Praktiken erneuern sollte. 1806 brach Preußen nur deshalb zusammen, weil nirgends im Lande eine Spur dieses nationalen Widerstandsgeistes vorhanden war. Nach 1807 taten die Reorganisatoren der Staatsverwaltung und der Armee alles, was in ihrer Macht stand, diesen Geist wiederzubeleben. Zu dieser Zeit gab Spanien das ruhmvolle Beispiel, wie eine Nation einer einfallenden Armee widerstehen kann. Alle militärischen Führer Preußens wiesen ihre Landsleute auf dieses Beispiel als nachahmenswert hin; in dieser Beziehung waren Scharnhorst, Gneisenau, Clausewitz sämtlich einer Meinung; Gneisenau ging sogar nach Spanien, um selber am Kampf gegen Napoleon teilzunehmen. Das neue Militärsystem als Ganzes, das dann in Preußen eingeführt wurde, war ein Versuch, den Volkswiderstand gegen den Feind zu organisieren, soweit das in einer absoluten Monarchie überhaupt möglich war. Es sollte nicht nur jeder waffenfähige Mann den Heeresdienst mitmachen und bis zu seinem 40. Lebensjahr in der Landwehr dienen; auch die Burschen zwischen 17 und 20 Jahren und die Männer von 40 bis 60 Jahren mußten am Landsturm, an der levée en masse, teilnehmen, der im Rücken und in den Flanken des Feindes sich erheben, seine Bewegungen stören, seine Zufuhren und Kuriere abschneiden sollte; er sollte dabei Waffen aller Art benutzen, die er finden konnte, unterschiedslos alle nur aufzubietenden Mittel anwenden, die Eindringlinge zu beunruhigen "je wirksamer diese Mittel, um so besser" - und vor allem

"keine Uniform irgendwelcher Art tragen, damit die Landstürmer jederzeit ihren Charakter als Zivilisten wiederaufnehmen und dem Feinde unbekannt bleiben konnten".

Diese ganze "Landsturm-Ordnung" |"Landsturm-Ordnung" in der "P.M.G" deutsch|, wie das darauf bezügliche Gesetz von 1813 genannt wurde - ihr Autor ist kein anderer als Scharnhorst, der Organisator der preußischen Armee -, ist in diesem Geist unversöhnlichen nationalen Widerstands abgefaßt, dem alle Mittel recht und die |171| wirksamsten die besten sind. Aber all das sollte damals von den Preußen gegen die Franzosen angewandt werden; wenn jedoch die Franzosen dieselbe Methode gegen die Preußen anwenden, so ist das ganz etwas anderes. Was in dem einen Fall Patriotismus war, wird in dem anderen zu Banditentum und feigem Meuchelmord.

Tatsache ist, daß sich die jetzige preußische Regierung dieser alten, halbrevolutionären "Landsturm-Ordnung" schämt und sie durch ihr Vorgehen in Frankreich vergessen zu machen sucht. Aber all die zügellosen Greuel, die sie in Frankreich verüben läßt, werden diese "Landsturm-Ordnung" mehr und mehr ins Gedächtnis zurückrufen; und die Rechtfertigung einer so gemeinen Art von Kriegführung dient nur als Beweis dafür, daß sich zwar die preußische Armee seit Jena ungeheuer verbessert hat, die preußische Regierung aber rasch dem Zustand entgegenreift, der Jena möglich machte.