Der Kampf in Frankreich | Inhalt | Befestigte Hauptstädte

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 172-175.

Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.

Friedrich Engels

Über den Krieg - XXVII


["The Pall Mall Gazette" Nr. 1797 vom 16. November 1870]

|172| Wer mit Herrn Gambetta glaubte, den geschickten und gut kombinierten Bewegungen, durch die die Loire-Armee die Bayern von der Tanns aus Orléans herausmanövrierte, werde sogleich ein Vorrücken auf Paris folgen, ist sehr enttäuscht worden. Das Treffen von Coulmiers, oder wie es später benannt werden mag, fand am 9. November statt, und bis zum Abend des 13. scheinen die bayrischen Vorposten vor Toury, nur 25 Meilen von Orléans entfernt, unbehelligt geblieben zu sein.

Es gereicht dem General d'Aurelle de Paladines sehr zum Ruhm, daß er nach seinem ersten Erfolg nicht nur die Klugheit, sondern auch die moralische Stärke hatte, zur rechten Zeit innezuhalten. Mit Herrn Gambetta hinter sich, der den Truppen verkündete, sie seien auf dem Wege nach Paris, das sie erwarte und von den Barbaren befreit werden müsse, wird es keine leichte Sache gewesen sein, diese jungen und halbdisziplinierten Truppen zurückzuhalten, die nur allzuleicht bereit sind, "Verrat!" zu schreien, wenn sie nicht sofort gegen den Feind geführt werden, und wegzulaufen, wenn sie die Gegenwart des Feindes ernstlich zu fühlen bekommen. Daß d'Aurelle sie auf dem Wege nach Paris zurückgehalten hat, zeigt, daß seine Bemühungen, sie zu disziplinieren, nicht ohne Erfolg geblieben sind und daß ihm sein erster Erfolg ihr Vertrauen gewonnen hat. Seine Dispositionen für diesen ersten französischen Sieg waren in jeder Weise mustergültig. Von der Tann kann nicht mehr als 25.000 Mann in der Umgebung von Orléans gehabt haben; längere Zeit konnte er diese exponierte Stellung nur in dem Bewußtsein halten, daß seine geschulten Truppen unter allen Umständen fähig sein würden, sich durch jedes noch so zahlreiche Heer neu ausgehobener Soldaten durchzuschlagen, die sich ihnen entgegenstellten. D'Aurelle konnte gegen die Bayern mit wenigstens der vierfachen Zahl operieren, und er tat, |173| was in einem solchen Fall üblich ist: Er umging ihre Flanken und stellte besonders hinter ihrer rechten Flanke so viele Truppen auf, daß von der Tann sofort gezwungen war, sich auf seine Reserven zurückzuziehen. Diese vereinigten sich mit ihm in Toury am 11. oder spätestens am 12.; sie bestanden aus Wittichs 22. norddeutscher Infanteriedivision, Prinz Albrechts Kavalleriedivision und dem XIII. Armeekorps (der 17. norddeutschen und der württembergischen Division). So sind mindestens 65.000 bis 70.000 Mann unter dem Kommando des Großherzogs von Mecklenburg in Toury vereinigt; und General d'Aurelle mag es sich zweimal überlegen, bevor er einen Angriff auf sie wagt, obgleich sie einem recht mittelmäßigen Befehlshaber unterstehen.

Außerdem gibt es noch andere Motive, die General d'Aurelle abzuwarten zwingen, bevor er neue Schritte unternimmt. Wenn es wirklich seine Absicht ist, zum Entsatz von Paris zu schreiten, muß er ganz genau wissen, daß seine eigenen Truppen nicht genügen, diesen Plan auszuführen, sofern nicht gleichzeitig von innen heraus starke Anstrengungen gemacht werden, ihn zu unterstützen. Wir wissen, daß General Trochu den diszipliniertesten und bestorganisierten Teil seiner Truppen ausgesucht und aus ihnen das, was man die aktive Armee von Paris nennen kann, gebildet hat. Unter dem Kommando des Generals Ducrot scheint sie für jene großen Ausfälle bestimmt zu sein, ohne die die Verteidigung einer Festung wie Paris einem Soldaten gliche, der mit verbundenem rechten Arm kämpft.

Es ist vielleicht kein Zufall, daß diese Reorganisation der Armee von Paris mit dem Vorrücken der Loire-Armee zeitlich zusammenfällt. General Trochu und General d'Aurelle haben zweifelsohne mittels Ballons und Brieftauben eine kombinierte Aktion vorzubereiten versucht, die zu einer vorher verabredeten Zeit unternommen werden soll; und sofern die Deutschen die Loire-Armee nicht vorher angreifen, dürfen wir einen Ausfall aus Paris in großem Maßstab ungefähr zur gleichen Zeit mit d'Aurelles nächstem Vorstoß erwarten. Dieser Ausfall dürfte mindestens mit Ducrots gesamten drei Korps von der Südseite der Stadt her gemacht werden, wo im Falle des Erfolgs die Verbindung mit der Loire-Armee hergestellt werden könnte; unterdessen dürfte im Nordosten und Nordwesten Trochus "Dritte Armee", unterstützt durch das Feuer der Forts, Scheinangriffe und Ablenkungsmanöver unternehmen, um die Belagerungsarmee daran zu hindern, Verstärkungen nach dem Süden zu senden. Andererseits dürfen wir sicher sein, daß General Moltke all das in Rechnung gezogen hat und sich nicht überrumpeln lassen wird. Trotz der hohen zahlenmäßigen Überlegenheit, die die Franzosen im Feld aufbieten könnten, sind wir fest überzeugt, |174| daß diese durch den Unterschied in der Qualität der Truppen und ihrer Führung mehr als aufgewogen wird.

Dieser Versuch, Paris aus den Klauen der "Barbaren" zu befreien, wird sehr bald gemacht werden müssen, wenn er Aussicht auf Erfolg haben soll. Außer den fünf Divisionen Infanterie, die der Loire-Armee gegenüberstehen, liegen jetzt sechzehn Divisionen Infanterie (das II., IV., V., VI. und XII. Korps, die Garde, das II. bayrische Korps, die 21. Division und die Gardelandwehrdivision) vor Paris. Diese Truppen müssen nach Moltkes Ansicht genügen, Paris wirksam zu blockieren; andernfalls hätte er aus den Truppen, die durch die Übergabe von Metz frei geworden sind, nicht nur das II. Korps nach Paris gezogen. Und wenn wir bedenken, daß die deutschen Stellungen vor Paris überall stark befestigt sind und bald unter dem Schutz der gewaltigen Belagerungsbatterien stehen werden, so wird diese Meinung zweifellos richtig sein. Nach und nach erhalten wir jetzt Nachrichten über den Prinzen Friedrich Karl, der nach der Kapitulation von Metz mit drei Armeekorps (dem III., IX. und X.) dem Gesichtsfeld entschwunden war. Das erste Zeichen, das wir seitdem von seinen Truppen erhalten haben, war die kurze Nachricht, das "9. Regiment" habe am 7. November dicht vor Chaumont im Departement Haute-Marne ein Scharmützel mit Mobilgarden gehabt. Das 9. Regiment gehört zur 7. Brigade (des II. Korps), das bereits vor Paris angekommen war, so daß die ganze Geschichte unverständlich wurde. Seitdem ist festgestellt worden, daß das Telegramm irrtümlich das 9. Regiment statt der 9. Brigade nannte, und das klärt die Sache auf. Die 9. Brigade ist die erste des III. Armeekorps und gehört daher zur Armee des Prinzen Friedrich Karl. Der Ort des Treffens in Verbindung mit dem in Berliner militärischen Kreisen allgemein für glaubhaft geltenden Bericht, wonach der Prinz auf Troyes marschiert ist, das er, wie verlautet, am 7. oder 8. erreicht hat, läßt nur wenig Zweifel, daß er den Weg eingeschlagen hat, den unserer Meinung nach das Gros seiner Truppen nehmen würde, nämlich "von Metz aus über Chaumont und Auxerre marschieren und in der Richtung auf Bordeaux vorstoßen, nachdem es die Loire-Linie von Tours bis Nevers gesäubert hat". Wir erfahren jetzt, daß diese Armee die Yonne-Linie in Sens besetzt hat, ungefähr 50 Meilen von Gien an der Loire und nur 30 Meilen von Montargis entfernt, von wo aus durch einen guten Tagesmarsch jede französische Position im Norden von Orléans in der Flanke angegriffen werden könnte. Die in Malesherbes und Nemours gemeldeten Detachements dürften vom Prinzen Friedrich |175| Karl ausgesandt worden sein, um mit von der Tanns linkem Flügel Fühlung zu nehmen; oder es mögen flankierende Teile der äußersten linken Marschlinie des XIII. Armeekorps sein. Auf jeden Fall können wir jetzt damit rechnen, daß der Prinz sehr bald durch fliegende Kolonnen Verbindungen mit von der Tann in Toury einerseits und mit Werder in Dijon andererseits herstellen wird. Wenn die Loire-Armee ihren Angriff verzögert, bis Prinz Friedrich Karl innerhalb ihres Bereichs erscheint, wird sie außer den 70.000 Mann vor sich weitere 75.000 Mann in der rechten Flanke und im Rücken haben und wird jeden Gedanken an den Entsatz von Paris aufgeben müssen. Sie wird genug zu tun haben, für ihre eigene Sicherheit zu sorgen, und ihr wird nichts andres übrigbleiben, als sich vor dieser breiten Flutwelle der Eindringlinge zurückzuziehen, die dann Zentralfrankreich bis zur Linie Chartres - Dijon verschlingen wird.