Über den Krieg - XXVII | Inhalt | Über den Krieg - XXVIII

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 176-180.

Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.

Friedrich Engels

Befestigte Hauptstädte


["The Pall Mall Gazette" Nr. 1801 vom 21. November 1870]

|176| Wenn es eine militärische Frage gibt, die dank der Erfahrung des jetzigen Krieges endgültig gelöst ist, so ist es die, daß es zweckmäßig ist, die Hauptstadt eines großen Staates zu befestigen. Seit dem Tage, da die Befestigung von Paris beschlossen wurde, ist die Streitfrage, ob es nützlich oder überhaupt möglich ist, eine so riesige Festung zu verteidigen, in der Militärliteratur aller Länder diskutiert worden. Nur durch die praktische Erfahrung konnte diese Frage gelöst werden, durch die wirkliche Belagerung von Paris, der einzigen befestigten Hauptstadt, die es gibt. Obgleich die reguläre Belagerung von Paris noch nicht begonnen hat, haben seine Befestigungen Frankreich bereits so außerordentliche Dienste geleistet, daß die Frage so gut wie zu ihren Gunsten entschieden ist.

Die gefährliche Nähe, in der sich Paris zu der nordöstlichen Grenze Frankreichs befindet - überdies einer Grenze ohne verteidigungsfähige Linie, sei es Fluß oder Gebirge -, führte erstens zur Eroberung der nächsten Grenzländer, zweitens zum Aufbau eines dreifachen Festungsgürtels vom Rhein zur Nordsee, drittens zu jenem unaufhörlichen Verlangen nach dem gesamten linken Rheinufer, das Frankreich schließlich in seine gegenwärtige Lage gebracht hat. Die Eroberungen waren durch die Verträge von 1814 und 1815 beschnitten und die Grenzen festgelegt worden; die Festungen waren, wie die beiden Invasionen derselben zwei Jahre bewiesen hatten, fast nutzlos und völlig außerstande, große Armeen aufzuhalten; schließlich war der Schrei nach dem Rhein 1840 durch eine europäische Koalition gegen Frankreich eine Zeitlang erstickt worden. Als dann Frankreich zur Großmacht wurde, versuchte es, die gefährliche Lage von Paris durch das einzige Mittel auszugleichen, das in seiner Macht stand - durch die Befestigung der Hauptstadt.

In dem jetzigen Krieg war Frankreich an seiner verwundbarsten Seite |177| durch die belgische Neutralität gedeckt. Doch ein einziger Monat genügte, alle seine organisierten Streitkräfte aus dem Felde zu verjagen. Die eine Hälfte hatte sich gefangengegeben, die andere war in Metz hoffnungslos eingeschlossen und ihre Übergabe war nur eine Frage von Wochen. Unter gewöhnlichen Umständen wäre der Krieg zu Ende gewesen. Die Deutschen hätten Paris besetzt und soviel von dem übrigen Frankreich, wie ihnen beliebte; und nach der Kapitulation von Metz, wenn nicht früher, wäre der Friede geschlossen worden. Fast alle französischen Festungen liegen dicht an der Grenze; ist einmal dieser Gürtel von befestigten Städten auf einer Breite, die genügend Bewegungsfreiheit bietet, durchbrochen, dann kann unbesorgt um die übrigen Festungen an der Grenze und der Küste das ganze Innere des Landes besetzt werden, worauf dann die Grenzfestungen eine nach der anderen leicht zur Übergabe gezwungen werden können. Sogar für den Guerillakrieg sind in zivilisierten Ländern Festungen im Innern als sichere Rückzugszentren nötig. Im Peninsularkrieg wurde der Volkswiderstand der Spanier hauptsächlich durch die Festungen ermöglicht. 1809 trieben die Franzosen Sir John Moores englische Truppen aus Spanien hinaus, in offener Schlacht waren sie überall siegreich, und doch eroberten sie niemals das Land. Ihnen hätte die verhältnismäßig kleine englisch-portugiesische Armee bei ihrem Wiedererscheinen nicht Trotz bieten können, wären ihr nicht die unzähligen bewaffneten spanischen Scharen zu Hilfe gekommen. Sie wurden zwar leicht in offener Schlacht geschlagen, belästigten aber die Flanken und den Rücken jeder französischen Kolonne und fesselten den bei weitem größeren Teil der Invasionsarmee. Diese Scharen hätten sich nicht lange halten können, wenn es im Lande nicht eine große Anzahl von Festungen gegeben hätte. Zumeist waren das kleine und veraltete Festungen, die aber, um eingenommen zu werden, eine reguläre Belagerung erforderten, und darum waren sie sichere Zufluchtsorte für jene Scharen, wenn diese im offenen Feld angegriffen wurden. Da in Frankreich solche Festungen fehlen, könnte dort ein Guerillakrieg nie sehr gefährlich werden, gäbe es nicht einige andere Umstände, die das Fehlen der Festungen ausgleichen. Ein solcher Umstand ist die Befestigung von Paris.

Am 2. September kapitulierte die letzte französische Armee, die noch im Felde stand. Und heute, am 21. November, fast elf Wochen später, wird beinahe die Hälfte aller in Frankreich stehenden deutschen Truppen noch rings um Paris festgehalten, während der größere Teil der übrigen Truppen von Metz forteilt, um die Einschließungsarmee von Paris gegen die neugebildete Loire-Armee zu schützen. Was diese französische Armee auch wert sein mag, sie hätte ohne die Befestigungen von Paris nicht gebildet |178| werden können. Die befestigte Stadt ist jetzt gerade zwei Monate lang eingeschlossen, und noch sind die Vorbereitungen für die Eröffnung der regulären Belagerung nicht beendet; das heißt also, daß die Belagerung einer Festung von der Größe der Stadt Paris - selbst wenn sie nur von neu ausgehobenen Truppen und einer entschlossenen Bevölkerung verteidigt wird - erst zu einem Zeitpunkt beginnen kann, da die Belagerung einer gewöhnlichen Festung längst zum erfolgreichen Abschluß gebracht worden wäre. Die Tatsachen beweisen, daß eine Stadt von zwei Millionen Einwohnern beinahe leichter verproviantiert werden kann als eine kleinere Festung, die weniger zentrale Anziehungskraft auf die Erzeugnisse der Umgebung ausübt; denn obgleich die Verproviantierung von Paris erst nach dem 4. September, oder nur vierzehn Tage vor der vollständigen Einschließung, ernsthaft in die Hand genommen wurde, ist Paris nach neunwöchiger Blockade noch nicht durch Aushungerung niedergezwungen worden. Tatsächlich leisteten Frankreichs Armeen nur einen Monat Widerstand; aber Paris hat jetzt bereits seit zwei Monaten Widerstand geleistet und fesselt noch das Gros der Angreifer. Das ist sicher mehr, als je zuvor eine Festung fertiggebracht hat, und rechtfertigt durchaus die Ausgaben für die Befestigungen. Und wir dürfen nicht vergessen, was wir bereits mehr als einmal betont haben, daß Paris in diesem Fall unter ganz ungewöhnlichen Bedingungen verteidigt werden muß, nämlich ohne aktive Feldarmee. Wie stark würde der Widerstand erst sein, wie würde er die Einschließung verzögert, wenn nicht gar ganz verhindert haben, wieviel mehr Truppen der Angriffsarmee würde er rings um Paris gebunden haben, wenn Mac-Mahons Armee, statt nach Sedan, nach Paris marschiert wäre?

Aber das ist noch nicht alles. Die Verteidigung von Paris hat Frankreich nicht nur zwei Monate Atempause gegeben, die unter minder verzweifelten Umständen unschätzbar gewesen wäre und sich selbst jetzt noch als unschätzbar erweisen könnte, sondern sie hat Frankreich auch die günstige Möglichkeit gegeben, die Chancen auszunutzen, die durch politische Wandlungen während der Belagerung vielleicht hervorgerufen werden können. Wir können sagen, sooft wir wollen, daß Paris eine Festung wie jede andere ist; das ändert jedoch nichts an der Tatsache, daß die Belagerung einer Festung wie Paris weit mehr Erregung in der ganzen Welt erzeugen wird als hundert Belagerungen kleinerer Festungen. Die Gesetze der Kriegführung mögen lauten, wie sie wollen, unser modernes Bewußtsein lehnt sich dagegen auf, daß Paris wie Straßburg behandelt werde. Die neutralen Mächte werden unter solchen Umständen ziemlich sicher zu vermitteln suchen; politisches Mißtrauen gegen den Eroberer wird mit großer Wahr- |179| scheinlichkeit auftauchen, ehe die Festung endgültig bezwungen ist. In der Tat ist es ebenso wahrscheinlich, daß eine Operation von der Größe und Dauer der Belagerung von Paris im Kabinett irgendeiner nicht am Kampf beteiligten Macht, das heißt durch Bündnisse und Gegenbündnisse, entschieden wird, wie in den Gräben durch Demontier- und Breschbatterien. Ein solches Beispiel werden wir vielleicht erleben. Es ist durchaus möglich, daß das plötzliche Wiederauftauchen der orientalischen Frage in Europa für Paris das tun wird, was die Loire-Armee nicht tun kann - Paris vor der Übergabe retten und von der Blockade befreien. Wenn, wie es nur zu wahrscheinlich ist, Preußen unfähig sein sollte, sich von dem Vorwurf zu reinigen, in größerem oder geringerem Grade Rußlands Komplice zu sein, und wenn Europa entschlossen ist, den russischen Vertrauensbruch nicht zu dulden, dann ist es von größter Wichtigkeit, daß Frankreich nicht vollständig niedergeworfen und Paris nicht von den Preußen besetzt wird. Es ist deshalb absolut notwendig, daß Preußen sofort gezwungen wird, eine eindeutige Erklärung abzugeben, und daß sofort, wenn es versucht, Ausflüchte zu machen, Schritte unternommen werden, die Zuversicht und damit die Widerstandskraft von Paris zu stärken. Dreißigtausend britische Soldaten, in Cherbourg oder Brest gelandet und mit der Loire-Armee vereinigt, würden einen Kern bilden, der ihr einen bisher unbekannten Grad von Festigkeit geben würde. Die britische Infanterie ist wegen ihrer ungewöhnlichen Zuverlässigkeit und sogar wegen ihres damit verbundenen Mangels, ihrer Schwerfalligkeit in leichten Infanteriebewegungen, ganz besonders geeignet, frisch ausgehobene Formationen zu festigen. Sie bewältigte diese Aufgabe bewundernswürdig in Spanien unter Wellington; sie leistete ähnliche Dienste in allen indischen Kriegen in bezug auf die weniger verläßlichen Eingeborenentruppen. Unter den gegebenen Umständen könnte der Einfluß solch eines britischen Armeekorps den rein zahlenmäßigen Wert weit übertreffen, wie das stets der Fall gewesen ist, wenn ein britisches Armeekorps derart eingesetzt wurde. Ein paar italienische Divisionen, als Vorhut einer italienischen Armee nach Lyon und dem Saône-Tal geworfen, würden den Prinzen Friedrich Karl bald herbeiziehen. Da ist ferner Österreich. Da sind weiter die skandinavischen Königreiche, die Preußen an anderen Fronten bedrohen und seine Truppen beschäftigen könnten. Paris selbst würde gewiß, wenn es solche Nachrichten erhielte, eher jeden Grad von Aushungerung erdulden, als sich ergeben - und Brot scheint ja noch reichlich vorhanden zu sein. So könnten die Befestigungen der Stadt, sogar in der gegenwärtigen Notlage, das Land dadurch retten, daß sie ihm das Aushalten ermöglichen, bis Hilfe kommt.