Über den Krieg - XXXI | Inhalt | Die Lage der Deutschen in Frankreich

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 214-217.

Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.

Friedrich Engels

Über den Krieg - XXXII


["The Pall Mall Gazette" Nr. 1829 vom 23. Dezember 1870]

|214| Die Kämpfe der letzten Wochen haben gezeigt, wie richtig wir die beiderseitigen Positionen der Gegner beurteilt haben, als wir sagten, daß die Armeen, die von Metz her an der Loire und in der Normandie ankamen, ihre Kräfte größtenteils bereits verbraucht hatten, um noch neue Gebiete zu besetzen. Der Umfang des von den deutschen Truppen besetzt gehaltenen Gebiets ist seitdem kaum noch größer geworden. Der Großherzog von Mecklenburg mit den Bayern von der Tanns (die trotz ihrer Desorganisation und ihres Mangels an Schuhen nicht an der Front entbehrt werden können), mit dem X. Korps und der 17. und 22. Division ist Chanzys langsam zurückweichenden und fortwährend kämpfenden Truppen von Beaugency nach Blois, von Blois nach Vendôme und Epuisay und darüber hinaus gefolgt. Chanzy verteidigte jede Position, die ihm die von Norden zur Loire fließenden Bäche boten; als das IX. Korps (oder wenigstens seine hessische Division), vom linken Flußufer kommend, Chanzys rechten Flügel bei Blois umging, zog er sich nach Vendôme zurück und bezog eine Stellung an der Loire. Diese hielt er am 14. und 15. Dezember gegen die Angriffe des Feindes, gab sie aber am Abend des 15. auf und zog sich langsam, dem Gegner noch immer kühn die Stirn bietend, auf Le Mans zurück. Am 17. hatte er ein weiteres Nachhutgefecht mit von der Tann in Epuisay, wo sich die Wege von Vendôme und Morée nach Saint-Calais vereinigen. Dann zog er sich zurück, anscheinend ohne weiter verfolgt zu werden.

Dieser ganze Rückzug scheint mit großer Umsicht durchgeführt worden zu sein. Nachdem einmal entschieden worden war, daß aus der alten Loire-Armee zwei Armeen zu bilden seien, deren eine unter Bourbaki südlich von Orleans operieren sollte, während die andere unter Chanzy, dem auch die bei Le Mans befindlichen Truppen unterstellt wurden, Westfrankreich |215| nördlich der Loire verteidigen sollte - nachdem diese Anordnung einmal getroffen war, konnte es nicht Chanzys Aufgabe sein, entscheidende Kämpfe herauszufordern. Im Gegenteil, sein Plan mußte sein, jeden Zoll Boden so lange zu verteidigen, wie er es ungefährdet tun konnte, ohne sich in solche Kämpfe verwickeln zu lassen, dem Feinde so schwere Verluste wie nur möglich zuzufügen und seinen eigenen jungen Truppen Ordnung und Festigkeit im Feuer beizubringen. Er würde auf diesem Rückzug natürlich mehr Verluste als der Feind erleiden, besonders an Nachzüglern; aber diese würden die schlechtesten Leute seiner Bataillone sein, ohne die er gut auskommen könnte. Er würde die Moral seiner Truppen aufrechterhalten, während er beim Feinde die Achtung behauptete, welche die Loire-Armee für die republikanischen Truppen bereits erobert hatte. Und er würde bald den Punkt erreichen, wo die Verfolger, durch Gefechtsverluste, Krankheit und Zurücklassen von Detachements auf ihren Nachschublinien geschwächt, die Verfolgung aufgeben oder ihrerseits eine Niederlage riskieren müssen. Dieser Punkt dürfte aller Wahrscheinlichkeit nach Le Mans sein; dort befanden sich zwei Übungslager, in Yvré-l'Evêque und in Conlie, mit Truppen in sehr verschiedenen Stadien der Organisation und Ausrüstung und von unbekannter Stärke; aber es mußten sicher mehr organisierte Bataillone dort sein, als Chanzy brauchen würde, um jeden Angriff des Großherzogs von Mecklenburg zurückzuschlagen. Dies scheint der preußische Befehlshaber gefühlt zu haben oder vielmehr sein Stabschef, General Stosch, der in Wirklichkeit die Bewegungen der Armee des Großherzogs von Mecklenburg leitet. Denn nachdem wir erfahren haben, daß das X. norddeutsche Korps am 18. Chanzy über Epuisay hinaus verfolgt hat, hören wir jetzt, daß General Voigts-Rhetz (der eben dieses X. Korps kommandiert) am 21. eine Abteilung Franzosen bei Monnaie geschlagen und sie über Notre-Dame d'Oé hinaus zurückgeworfen habe. Nun liegt Monnaie etwa fünfunddreißig Meilen südlich von Epuisay auf dem Wege von Vendôme nach Tours, und Notre-Dame d'Oé ein paar Meilen näher an Tours. Es scheint also, daß die Truppen des Großherzogs von Mecklenburg, nachdem sie Chanzys Hauptkräften bis dicht vor Le Mans gefolgt sind, nun wenigstens teilweise in der Richtung nach Tours marschieren, das sie wahrscheinlich inzwischen erreicht haben, aber kaum werden dauernd besetzt halten können.

Preußische Kritiker haben den exzentrischen Rückzug der Loire-Armee nach den Schlachten vor Orleans getadelt und erklärt, daß die Franzosen zu einem solch fehlerhaften Schritt nur durch das kraftvolle Handeln des Prinzen Friedrich Karl gezwungen werden konnten, durch das er "ihr |216| Zentrum zerbrach". Daß die schlechte Führung d'Aurelles gerade in dem Augenblick, da er den feindlichen Stoß erhielt, ein gut Teil zu tun hatte mit diesem exzentrischen Rückzug und sogar mit der folgenden Teilung der Armee in zwei verschiedene Kommandos, möchten wir durchaus glauben. Aber es gab noch ein anderes Motiv dafür. Frankreich braucht vor allen Dingen Zeit, um Truppen aufzustellen; und es braucht Raum - das heißt soviel Territorium wie möglich -, um darin Menschen und Material zu sammeln. Da es noch nicht in der Lage ist, sich auf entscheidende Schlachten einzulassen, muß es versuchen, soviel Territorium wie möglich vor der Besetzung des Feindes zu bewahren. Und weil die Invasion jetzt jene Linie erreicht hat, wo die Angriffs und die Verteidigungstruppen einander fast die Waage halten, besteht keine Notwendigkeit, die Verteidigungstruppen wie für eine entscheidende Aktion zu konzentrieren. Im Gegenteil: Sie können ohne nennenswertes Wagnis in mehrere große Truppenkörper geteilt werden, um soviel Territorium wie möglich zu decken und dem Feind, einerlei, aus welcher Richtung er vorrücke, Truppen entgegenzustellen, die stark genug sind, eine längere Besetzung zu verhindern. Da noch etwa 60.000 oder vielleicht 100.000 Mann bei Le Mans vorhanden sind (allerdings sind Ausrüstung, Ausbildung und Disziplin in sehr schlechtem Zustand, was sich aber täglich bessert) und da die Mittel, sie auszurüsten, zu bewaffnen und zu versorgen, beschafft und in Westfrankreich zusammengebracht worden sind, wäre es ein grober Fehler, dies alles aufzugeben, bloß weil die strategische Theorie fordert, unter gewöhnlichen Umständen habe sich eine geschlagene Armee geschlossen zurückzuziehen, was in diesem Falle nur hätte erreicht werden können, wenn die Armee nach Süden gegangen wäre und den Westen ungeschützt gelassen hätte. Im Gegenteil, die Lager bei Le Mans enthalten alles Erforderliche, um im Lauf der Zeit die neue Westarmee stärker zu machen, als es die alte Loire-Armee war, während der ganze Süden Verstärkung für Bourbakis Heeresgruppe aufbringt. Was auf den ersten Blick als Fehler erschien, war also in Wirklichkeit eine sehr richtige und notwendige Maßnahme, die in keiner Weise die Möglichkeit ausschließt, daß zu einer etwas späteren Zeit die gesamten französischen Streitkräfte imstande sein werden, für eine entscheidende Aktion zusammenzuwirken.

Die Bedeutung von Tours liegt darin, daß es der westlichste Eisenbahnknotenpunkt zwischen dem Nordwesten und dem Süden Frankreichs ist. Sollte Tours auf die Dauer von den Preußen gehalten werden, so würde Chanzy weder mit der Regierung in Bordeaux noch mit Bourbaki in Bourges eine Eisenbahnverbindung haben. Aber mit den im Augenblick zur Ver- |217| fügung stehenden Truppen haben die Preußen keine Aussicht, Tours zu halten. Sie dürften dort schwächer sein, als von der Tann Anfang November in Orléans war. Ein zeitweiliger Verlust von Tours, obgleich unangenehm, müßte ertragen werden.

Von den anderen deutschen Heeresverbänden hören wir wenig. Prinz Friedrich Karl mit dem III. Korps und vielleicht der Hälfte des IX. ist vollständig aus dem Gesichtsfeld entschwunden; das scheint uns ein Zeichen zu sein, das nicht sehr für seine Offensivkraft spricht. Manteuffel spielt mit seinen Truppen die unwürdige Rolle einer riesigen fliegenden Requisitionskolonne und scheint nicht die Kraft zur ständigen Besetzung weiteren Gebiets über Rouen hinaus zu haben. Werder ist auf allen Seiten von Kleinkrieg umgeben; er kann sich bei Dijon nur durch dauernde Aktivität halten und hat jetzt herausgefunden, daß er auch Langres einschließen muß, wenn er sich rückwärts sichern will. Wo er die Truppen dafür hernehmen soll, erfahren wir nicht; er selber hat keine übrig, und die Landwehr um Belfort und im Elsaß hat gerade genug zu tun. So scheinen sich überall die Kräfte beinahe auszugleichen. Jetzt beginnt ein Wettrennen um Verstärkungen, aber ein Wettrennen, bei dem die Aussichten für Frankreich beträchtlich günstiger sind als vor drei Monaten. Wenn wir als sicher annehmen könnten, daß Paris bis Ende Februar aushält, so möchten wir beinahe glauben, daß Frankreich das Rennen gewinnen wird.