Über den Krieg - XXXIII | Inhalt | Über den Krieg - XXXV

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 227-231.

Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.

Friedrich Engels

Über den Krieg - XXXIV


["The Pall Mall Gazette" Nr. 1842 vom 7. Januar 1871]

|227| Obgleich zahlreiche Gefechte stattgefunden haben, seitdem wir das letztemal die Stellungen der beiden Gegner in den Provinzen untersucht haben, hat sich sehr wenig verändert. Das bestätigt die Richtigkeit unserer Ansicht, daß gegenwärtig die beiderseitigen Kräfte einander fast das Gleichgewicht halten.

Chanzys Westarmee hat sich vor Le Mans behauptet; die Armee des Großherzogs von Mecklenburg steht ihr in einer Linie gegenüber, die sich von Blois über Vendôme bis Verneuil erstreckt. Bei Vendôme haben mehrere zusammenhanglose Gefechte stattgefunden, aber an den Stellungen der beiden Armeen hat sich nichts geändert. Inzwischen hat Chanzy aus dem Lager von Conlie, das abgebrochen worden ist, alle ausgebildeten und bewaffneten Leute zusammengezogen. Es wird berichtet, er habe um Le Mans herum eine starke Stellung als Stützpunkt für einen eventuellen Rückzug ausgebaut; und man erwartet, daß er wieder die Offensive ergreifen werde. Da Herr Gambetta am 5. Januar Bordeaux verließ, um sich nach Le Mans zu begeben, dürfte dies richtig sein. Von der tatsächlichen Stärke und Organisation der Truppen Chanzys haben wir keine Kenntnis außer der Tatsache, daß ihm vor seinem Rückzug auf Le Mans drei Armeekorps zur Verfügung standen. Nicht viel besser sind wir über die Truppen informiert, die ihm unmittelbar gegenüberstehen; die Truppen des Großherzogs von Mecklenburg und die ursprüngliche Armee des Prinzen Friedrich Karl sind so sehr vermischt worden, daß die ursprüngliche Ordre de bataille nicht länger gültig ist. Wir müssen beide als eine Armee behandeln, was sie tatsächlich sind, seit Friedrich Karl das Kommando über das Ganze |228| hat; der einzige Unterschied ist, daß Mecklenburg die Truppen kommandiert, die à cheval |auf beiden Seiten| des Loir-Flusses mit der Front nach Westen stehen, während der Prinz jene Truppen unter seinem unmittelbaren Befehl hat, die längs der Loire von Blois bis Gien mit der Front nach Süden stehen und Bourbaki beobachten. Diese beiden Truppenkörper zusammen zählen insgesamt zehn Infanterie- und drei Kavalleriedivisionen; jedoch sind auf der Marschlinie von Commercy über Troyes bis zur Loire beträchtliche Detachements zurückgelassen worden; diese kommen nur allmählich nach, so, wie sie von frisch eintreffender Landwehr abgelöst werden.

Am 11. Dezember hatte Prinz Friedrich Karl Briare erreicht mit der Absicht, auf Nevers vorzurücken, um Bourbakis rechten Flügel zu umgehen und seine direkte Verbindung mit jenen Truppen abzuschneiden, die gegen Werder operieren. Wir haben aber erst kürzlich erfahren, daß Prinz Friedrich Karl bei Eintreffen der Nachricht von dem entschlossenen und unerwarteten Widerstand, mit dem Chanzy dem Großherzog von Mecklenburg begegnete, seinen Plan plötzlich aufgab und mit der Masse seiner Truppen in Richtung Tours umkehrte; wie wir wissen, kam diese Stadt den Truppen des Prinzen Friedrich Karl zwar in Sichtweite, wurde aber nicht besetzt. So sehen wir jetzt, daß Chanzys geschickter und tapferer Rückzug nicht nur ihn selbst, sondern auch Bourbaki sicherte. Dieser General muß noch in der Umgegend von Bourges und Nevers sein. Wenn er, wie man vermutet hat, nach Osten gegen Werder oder die preußischen Verbindungslinien abmarschiert wäre, würden wir schon von ihm gehört haben. Sehr wahrscheinlich ist er damit beschäftigt, seine Armee zu reorganisieren und zu verstärken, und wenn Chanzy vorrücken sollte, werden wir sicher auch von ihm hören.

Nördlich der Seine hält Manteuffel mit dem I. Korps Rouen und Umgegend, während er das VIII. Korps in die Picardie gesandt hat. Dieses letztere Korps hat eine schwere Zeit durchgemacht. General Faidherbe gönnt seiner Nordarmee nicht viel Ruhe. Die drei nördlichsten Departements von Frankreich, von der Somme bis zur belgischen Grenze, enthalten etwa zwanzig Festungen verschiedener Größe, die zwar heutzutage gegen einen großen Einfall von Belgien her gänzlich nutzlos sind, aber in dem gegenwärtigen Fall doch eine sehr willkommene und kaum angreifbare Operationsbasis bilden. Als Vauban vor fast zweihundert Jahren den Plan für diesen dreifachen Festungsgürtel entwarf, ahnte er sicher nicht, daß dieser einer französischen Armee gegen einen vom Herzen Frankreichs her |229| vorrückenden Feind als großes verschanztes Lager, als eine Art vergrößerten Festungsvierecks dienen werde. Aber so ist es, und so klein dieses Gebiet auch ist, so ist es doch für den Augenblick uneinnehmbar; außerdem ist es wegen seiner industriellen Hilfsmittel und seiner dichten Bevölkerung ein wichtiges Gebiet. Nachdem Faidherbe durch die Schlacht von Villers-Bretonneux (27. November) in diesen sicheren Zufluchtsort zurückgedrängt worden war, reorganisierte und stärkte er seine Armee; gegen Ende Dezember rückte er wieder auf Amiens vor und lieferte Manteuffel am 23. an der Hallue eine unentschiedene Schlacht. In diesem Kampf führte er vier Divisionen (30.000 Mann nach seiner Zählung) gegen die beiden Divisionen des VIII. preußischen Korps (24.000 Mann nach preußischen Berichten) ins Feld. Daß er bei einem solchen Kräfteverhältnis gegen einen so berühmten General, wie es von Goeben ist, standhalten konnte, ist ein Zeichen dafür, daß seine Mobilgarden und neu eingezogenen Soldaten besser geworden sind. Wegen des Frostes, wegen der Mängel in der Intendantur und beim Train - wie er selbst sagt -, wahrscheinlich aber auch, weil er der Festigkeit seiner Truppen für einen zweiten Tag so harter Gefechte nicht traute, zog er sich fast unbelästigt hinter die Scarpe zurück. Von Goeben folgte, ließ den größeren Teil der 16. Division zurück, um die Verbindungen aufrechtzuerhalten und Péronne einzuschließen, und rückte nur mit der 15. Division und der fliegenden Kolonne von Prinz Albrecht dem Jüngeren (die höchstens einer Brigade gleichkam) nach Bapaume und darüber hinaus vor. Hier bot sich nun eine günstige Gelegenheit für Faidherbes vier Divisionen. Ohne einen Augenblick zu zögern, rückten sie aus ihrer geschützten Stellung vor und griffen die Preußen an. Nach einem Vorgefecht am 2. Januar folgte am nächsten Tage der Hauptkampf vor Bapaume. Die klaren Berichte von Faidherbe, die große zahlenmäßige Überlegenheit der Franzosen (acht Brigaden oder wenigstens 33.000 Mann gegen drei preußische Brigaden oder 16.000 bis 18.000 Mann, wenn man nach den oben für die beiden Armeen gemachten Angaben geht), schließlich Manteuffels ausweichende Reden lassen keinen Zweifel darüber, daß die Franzosen in dieser Schlacht im Vorteil waren. Außerdem ist Manteuffels Prahlsucht in Deutschland gut bekannt: Jedermann erinnert sich dort, wie er als Gouverneur von Schleswig - auf seine ziemlich große Gestalt anspielend - sich erbot, die "sieben Fuß schleswigschen Bodens mit seinem Leibe zu decken". Seine Meldungen, selbst nach der Zensur von Versailles, sind gewiß die unzuverlässigsten unter allen preußischen Berichten. Andererseits nutzte Faidherbe seinen Erfolg nicht aus, sondern zog sich nach der Schlacht auf ein Dorf einige Meilen hinter dem Schlachtfeld zurück, so |230| daß Péronne nicht entsetzt wurde und, wie bereits in diesen Spalten dargelegt, alle Früchte des Kampfes den Preußen zufielen. Es ist unmöglich, Faidherbes Entschuldigungen für seinen Rückzug als ernst gemeint aufzufassen. Aber was auch seine Gründe gewesen sein mögen - wenn er mit seinen Truppen nicht mehr tun kann, als drei preußische Brigaden zu schlagen und sich dann zurückzuziehen, so wird er Paris nicht entsetzen.

Inzwischen hat Manteuffel eine bedeutende Verstärkung in Aussicht. Seinem Kampfgebiet nähert sich die 14. Division (Kameke) des VII. Korps - nachdem sie Montmedy und Mézières genommen hat -, begleitet von ihrem Belagerungstrain. Der Kampf bei Guise scheint eine Etappe auf diesem Vormarsch zu sein. Guise liegt an der direkten Straße von Mézières nach Péronne, das vermutlich die nächste Festung sein wird, die unter Bombardement gesetzt wird. Nach Péronne kommt wahrscheinlich Cambrai an die Reihe, wenn für die Preußen alles gut geht.

Im Südosten ist Werder seit dem 27. Dezember, dem Tag, da er Dijon räumte, in vollem Rückzug begriffen. Es dauerte einige Zeit, ehe die Deutschen ein Wort davon erwähnten, und selbst dann blieben die Preußen ganz still: Es sickerte durch in einer unauffälligen Ecke der "Karlsruher Zeitung". Am 31. räumte er nach einem Treffen auch Gray. Jetzt deckt er die Belagerung von Belfort bei Vesoul. Die Lyon-Armee unter Crémer (angeblich ein ausgewanderter Hannoverscher Offizier) folgt ihm, während Garibaldi weiter westlich gegen die preußische Hauptverbindungslinie tätig zu sein scheint. Über Werder heißt es, er erwarte eine Verstärkung von 36.000 Mann. Er wird in Vesoul ziemlich sicher sein; dagegen scheint die Verbindungslinie durchaus nicht verläßlich zu sein. Wir erfahren jetzt, daß General Zastrow, der Befehlshaber des VII. Korps, dorthin gesandt wurde und mit Werder in Verbindung getreten ist. Wenn ihm nicht ein ganz neues Kommando zugeteilt worden ist, wird er die 13. Division, die in Metz von Landwehr abgelöst worden ist, unter sich haben und über noch weitere Truppen für aktive Operationen verfügen. Es muß eines von seinen Bataillonen gewesen sein, das bei Saulieu auf der Straße von Auxerre nach Châlon-sur-Saône angegriffen und angeblich in die Flucht geschlagen worden ist. Wie der Zustand der Verbindungen auf den Nebenlinien der Eisenbahn ist (immer mit Ausnahme der Hauptlinie Nancy - Paris, die gut bewacht und daher sicher ist), zeigt sich in einem Brief aus Chaumont (Haute-Marne) an die "Kölnische Zeitung"; darin wird geklagt, nun hätten die Franktireurs schon dreimal die Eisenbahn von Chaumont nach Troyes zerstört; beim letzten Mal, am 24. Dezember, hätten sie die Schienen abgerissen und sodann locker wieder aufgelegt, so daß ein Zug mit 500 Mann Land- |231| wehr entgleist sei und so gestoppt wurde, woraufhin die Franktireurs aus einem Walde das Feuer eröffnet hätten, aber zurückgeschlagen worden seien. Der Berichterstatter hält das nicht nur für unfair, sondern für "nichtswürdig". Ganz wie jener österreichische Kürassier in Ungarn im Jahre 1849: "Sind diese Husaren nicht nichtswürdige Schufte? Sie sehen meinen Küraß, und doch hauen sie mir ins Gesicht."

Der Zustand dieser Verbindungen ist eine Frage von Leben und Tod für die Armee, die Paris belagert. Eine Unterbrechung von einigen Tagen würde sich wochenlang auswirken. Die Preußen wissen das und konzentrieren darum jetzt ihre gesamte Landwehr in Nordostfrankreich, damit diese einen genügend breiten Gebietsgürtel in Schach halte, um die Sicherheit ihrer Eisenbahnen zu gewährleisten. Der Fall von Mézières eröffnet ihnen eine zweite Eisenbahnlinie von der Grenze über Thionville, Mézières und Reims; aber diese Linie ist in ihrer Flanke durch die Nordarmee gefährdet. Wenn Paris entsetzt werden soll, so ließe sich das vielleicht am leichtesten dadurch bewirken, daß man diese Verbindungslinie unterbricht.