Über den Krieg - XXXV | Inhalt | Über den Krieg - XXXVII

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 237-242.

Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.

Friedrich Engels

Über den Krieg - XXXVI


["The Pall Mall Gazette" Nr. 1852 vom 19. Januar 1871]

|237| Seitdem nach Sedan Paris zum erstenmal ernstlich von einem feindlichen Angriff bedroht wurde, haben wir ständig die große Stärke einer befestigten Hauptstadt wie Paris betont, haben aber auch niemals versäumt hinzuzufügen, daß zur vollen Entfaltung ihrer Verteidigungsmacht eine große reguläre Verteidigungsarmee erforderlich ist, eine Armee, die so stark ist, daß man sie weder in die Werke des Platzes einschließen noch sie hindern kann, im offenen Felde außerhalb der Festung zu operieren, die ihr als Stützpunkt und teilweise als Operationsbasis dienen würde.

Unter normalen Bedingungen wäre eine solche Armee selbstverständlich fast immer vorhanden. Die französischen Armeen würden, falls sie nahe an der Grenze geschlagen werden sollten, nach Paris zurückweichen als ihrem letzten und hauptsächlichen Stützpunkt; sie würden unter gewöhnlichen Umständen hier mit genügend Kräften ankommen und ausreichende Verstärkungen finden, um die ihnen gestellte Aufgabe erfüllen zu können. Aber diesmal hatte es die Strategie des Zweiten Kaiserreichs fertiggebracht, alle französischen Armeen aus dem Felde verschwinden zu lassen. Die eine hatte sich in Metz einschließen lassen, offensichtlich ohne Hoffnung auf Entsatz, die andere hatte sich gerade in Sedan ergeben. Als die Preußen vor Paris ankamen, waren ein paar halbgefüllte Depots, eine Anzahl Mobilgarden aus der Provinz (gerade frisch ausgehobene) und die örtliche Nationalgarde (noch nicht zur Hälfte formiert) alles, was für die Verteidigung von Paris bereit war.

Selbst unter diesen Umständen erschien die innere Stärke der Stadt den Angreifern so furchtbar, die Aufgabe, diese große Stadt und ihre Außenwerke lege artis |nach allen Regeln der Kunst| anzugreifen, so riesengroß, daß sie dies sofort auf- |238| gaben und es vorzogen, die Stadt durch Hunger zur Übergabe zu zwingen. Zur selben Zeit bildeten Henri Rochefort und andere eine "Barrikaden-Kommission", die mit der Errichtung einer dritten, inneren Verteidigungslinie beauftragt wurde, um die Vorbereitungen zu der den Parisern eigenen Kampfesweise zu treffen - Barrikadenverteidigung und Kampf um jedes Haus. Die Presse machte sich seinerzeit über diese Kommission sehr lustig; aber die offiziösen Veröffentlichungen des preußischen Generalstabs lassen keinen Zweifel darüber, daß es vor allem die Gewißheit war, einen erbitterten Kampf auf den Barrikaden bestehen zu müssen, die ihn veranlaßte, die Stadt durch Hunger zur Übergabe zu zwingen. Die Preußen verstanden recht gut, daß die Forts und nach ihnen die Umwallung binnen einer gewissen Zeit fallen müßten, wenn sie nur von Artillerie allein verteidigt werden; dann jedoch würde eine Kampfphase kommen, in der eben ausgehobene Truppen und sogar Zivilisten es mit erfahrenen Kriegern aufnehmen könnten, da Haus für Haus, Straße für Straße erobert werden müßten, und zwar bei der großen Zahl der Verteidiger sicherlich mit ungeheuren Menschenverlusten. Wer sich hierüber aus der Presse unterrichten will, wird im "Preußischen Staats-Anzeiger" finden, daß dies der ausschlaggebende Grund gegen eine reguläre Belagerung war.

Die Einschließung begann am 19. September, genau heute vor vier Monaten. Am nächsten Tage machte General Ducrot, der die regulären Truppen in Paris kommandierte, einen Ausfall mit drei Divisionen in Richtung auf Clamart und verlor sieben Geschütze und 3.000 Gefangene. Darauf folgten ähnliche Ausfälle am 23. und 30. September, am 13. und 21. Oktober, die sämtlich mit beträchtlichen Verlusten für die Franzosen endeten, ohne anderen Vorteil als vielleicht den, die jungen Truppen an feindliches Feuer zu gewöhnen. Am 28. wurde ein neuer Ausfall, der besseren Erfolg hatte, gegen Le Bourget gemacht; das Dorf wurde genommen und zwei Tage lang gehalten; am 30. aber eroberte die 2. Division der preußischen Garde - dreizehn Bataillone, damals weniger als 10.000 Mann - das Dorf zurück. Die Franzosen hatten offensichtlich die zwei Tage sehr schlecht ausgenutzt, in denen sie das massiv gebaute Dorf in eine Festung hätten verwandeln können; ebenfalls hatten sie es verabsäumt, Reserven heranzuführen, um die Verteidiger rechtzeitig zu unterstützen, sonst hätte ihnen nicht eine so bescheidene Truppe den Platz entreißen können.

Nach dieser Anstrengung folgte ein Monat Ruhe. Trochu hatte wahrscheinlich die Absicht, bevor er wieder große Ausfälle wagte, die Ausbildung und Disziplin seiner Truppen zu verbessern; und das war richtig so. Aber gleichzeitig unterließ er es, jenen Krieg von Vorposten, Erkundungen und |239| Patrouillen, von Überfällen und Überraschungen in Gang zu bringen, wie er jetzt zum täglichen Dienst der Truppen an der französischen Front rund um Paris gehört - eine Art Kriegführung, die wie keine andere geeignet ist, jungen Truppen Vertrauen zu ihren Offizieren und zu sich selbst zu geben und sie daran zu gewöhnen, dem Feind kaltblütig entgegenzutreten. Truppen, die begriffen haben, daß sie in kleinen Abteilungen - einem einzelnen Zug, einer halben oder ganzen Kompanie - ähnliche kleine Abteilungen des Feindes überraschen, schlagen oder gefangennehmen können, werden auch bald lernen, ihm Bataillon gegen Bataillon gegenüberzutreten. Außerdem werden sie dadurch wirklichen Vorpostendienst lernen, der vielen von ihnen offenbar bis Ende Dezember unbekannt war.

Endlich, am 28. November, wurde die Reihe von Ausfällen begonnen, die ihren Höhepunkt in dem großen Ausfall über die Marne am 30. November und dem Vormarsch an der gesamten östlichen Front von Paris erreichte. Am 2. Dezember nahmen die Deutschen erneut Brie und einen Teil von Champigny ein; am folgenden Tage gingen die Franzosen über die Marne zurück. Als Versuch, die von den Belagerern aufgeworfenen verschanzten Umwallungslinien zu durchbrechen, schlug der Angriff vollkommen fehl, weil er ohne die nötige Energie ausgeführt worden war. Aber er ließ den Franzosen einen beträchtlichen Teil des vorherigen Niemandslandes vor ihren Linien. Ein Streifen Landes von etwa zwei Meilen Breite, von Drancy bis zur Marne bei Neuilly, kam in ihren Besitz, ein Gebiet mit massiv gebauten und leicht zu verteidigenden Dörfern, das vom Feuer der Forts völlig beherrscht wird und in dem Plateau von Avron eine neue, überragende Stellung besitzt. Hier also war die Gelegenheit, den Ring der Verteidigung ständig zu erweitern: Von diesem Gelände aus hätte man bei guter Verschanzung ein weiteres Vorrücken versuchen können; entweder man hätte die Linie der Belagerer derart "ausbauchen" können, daß ein erfolgreicher Angriff auf ihre Linien möglich geworden wäre, oder man hätte hier starke Kräfte konzentriert und dadurch die Deutschen gezwungen, ihre Linie an anderen Punkten zu schwächen, und so einen französischen Angriff erleichtert. Nun, dieses Gelände blieb einen vollen Monat in den Händen der Franzosen. Die Deutschen sahen sich gezwungen, gegen Avron Belagerungsbatterien aufzufahren; sodann genügte ein zweitägiges Feuer aus diesen Batterien, die Franzosen wegzutreiben. Nachdem Avron einmal verloren war, wurden auch die anderen Stellungen aufgegeben. Am 21. Dezember wurden neue Angriffe an der gesamten Nordost und Ostfront gemacht; Le Bourget wurde halb erobert, Maison-Blanche und Ville-Evrart genommen; aber in derselben Nacht gingen alle diese günstigen |240| Positionen wieder verloren. Die Truppen wurden auf dem Gelände außerhalb der Forts gelassen, wo sie bei einer Temperatur von 9 bis 21 Grad unter Null biwakierten, so daß sie zuletzt ins Quartier zurückgezogen werden mußten, weil sie natürlich diese Witterung nicht aushalten konnten. Diese ganze Episode charakterisiert deutlicher als jede andere den Mangel an Entschlossenheit und Energie - die mollesse |Schlaffheit|, wir möchten fast sagen Schlafmützigkeit -, mit der diese Verteidigung von Paris geführt wird.

Der Avron-Vorfall veranlaßte schließlich die Preußen, die Einschließung in eine wirkliche Belagerung umzuwandeln und von der Belagerungsartillerie, die für unvorhergesehene Fälle herangeschafft worden war, Gebrauch zu machen. Am 30. Dezember begann das reguläre Bombardement der nordöstlichen und östlichen Forts, am 5. Januar das der südlichen Forts. In beiden Fällen ging das Bombardement ununterbrochen vor sich. Dann wurde sogar die Stadt bombardiert - eine unerhörte Grausamkeit. Niemand weiß es besser und niemand hat es öfter in der Presse versichern lassen, daß das Bombardement einer so ausgedehnten Stadt wie Paris ihre Übergabe um keinen Deut beschleunigen kann, als der Generalstab in Versailles. Der Kanonade auf die Forts folgt jetzt die Eröffnung regulärer Parallelen, wenigstens gegen Issy; und wir hören, daß die Geschütze näher an die Forts herangebracht werden. Wenn nicht endlich die Verteidigung ihr Zaudern aufgibt und mehr als bisher zur Offensive übergeht, werden wir bald von ernstlichen Schäden eines oder mehrerer Forts hören.

Indessen verharrt Trochu in seiner Untätigkeit, willig oder unwillig. Die paar Ausfälle der letzten Tage scheinen nur allzu "platonisch" gewesen zu sein, wie Trochus Ankläger im "Siécle" sie sämtlich nennt. Es wird erzählt, daß die Soldaten ihren Offizieren den Gehorsam verweigerten. Wenn das stimmt, beweist es nichts anderes, als daß sie jedes Vertrauen zur obersten Führung verloren haben. Wir können uns der Schlußfolgerung wirklich nicht verschließen, daß ein Wechsel im Oberkommando von Paris eine Notwendigkeit geworden ist. Alle Maßnahmen der Verteidigung zeugen von Unentschlossenheit, Trägheit und Mangel an nachhaltiger Energie, was nicht allein der Qualität der Mannschaften zur Last gelegt werden kann. Daß die Stellungen, die einen Monat gehalten worden waren - in welchem es nur etwa zehn Tage strengen Frost gab -, nicht richtig verschanzt wurden, dafür kann niemand anders als Trochu getadelt werden, dessen Aufgabe es war, dafür zu sorgen. Dieser Monat war auch die kritische Periode der Belagerung; als er zu Ende ging, mußte es sich entscheiden, welche |241| Seite, die Belagerer oder die Belagerten, an Gelände gewinnen werde. Die Untätigkeit und Unentschlossenheit, nicht der Truppen, sondern des Oberbefehlshabers, haben zuungunsten der Belagerten entschieden.

Und warum wird diese Untätigkeit und Unentschlossenheit noch immer fortgesetzt? Die Forts stehen unter feindlichem Feuer; die Batterien der Belagerer werden immer näher herangebracht; die französische Artillerie ist, wie Trochu selber zugibt, schwächer als die der Angreifer. Wenn die Wälle der Forts nur durch Artillerie verteidigt werden, so läßt sich heute schon der Tag berechnen, wo unter diesen Umständen die Wälle - Mauerwerk und alles - nachgeben werden. Untätigkeit und Unentschlossenheit können sie nicht retten. Es muß etwas getan werden; und wenn Trochu das nicht kann, so täte er besser, es einen anderen versuchen zu lassen.

Kinglake hat eine Begebenheit festgehalten, in der Trochus Charakter in demselben Licht erscheint wie bei dieser Verteidigung von Paris. Nach dem der Vormarsch auf Varna sowohl von Lord Raglan als auch von Saint-Arnaud beschlossen und die British Light Division bereits in Marsch gesetzt worden war, wandte sich Oberst Trochu -

"ein vorsichtig überlegender und in der Strategie recht beschlagener Mann", dessen "Aufgabe, wie man argwöhnte, es zum Teil war, jede Art Draufgängertum in den Bewegungen des französischen Marschalls zu hemmen" -

an Lord Raglan und begann Verhandlungen, die dazu führten, daß Saint-Arnaud erklärte - dabei forderte er Lord Raglan auf, seinem Beispiel zu folgen, er habe beschlossen,

"nur eine Division nach Varna zu senden und den Rest seiner Armee in Stellung zu bringen, nicht im Vorgelände, sondern im Rücken der Balkankette".

Und das in einem Augenblick, da die Türken an der Donau ohne fremde Hilfe nahezu siegreich waren!

Man könnte vielleicht sagen, die Truppen in Paris hätten den Mut verloren und seien zu großen Ausfällen nicht mehr fähig, es sei zu spät, gegen die preußischen Belagerungswerke vorzustoßen, Trochu wolle seine Truppen für eine einzige große Anstrengung im letzten Augenblick aufsparen, und so fort. Wenn aber die 500.000 bewaffneten Männer in Paris sich einem nicht halb so zahlreichen Feind ergeben sollen, der sich überdies in einer sehr ungünstigen Verteidigungsstellung befindet, so werden sie das sicherlich nicht eher tun, als bis ihre Unterlegenheit der ganzen Welt und ihnen selbst eindringlich zu Gemüte geführt worden ist. Sicherlich werden sie sich nicht ruhig hinsetzen, den letzten Bissen ihres Proviants verzehren und sich dann ergeben! Und wenn sie den Mut verloren haben, so etwa |242| darum, weil sie sich geschlagen fühlen und keine Hoffnung mehr haben - oder weil sie jedes Vertrauen zu Trochu verloren haben? Wenn es jetzt schon zu spät ist, Ausfälle zu machen - so wird es nach einem Monat noch unmöglicher sein. Und was Trochus großes Finale anbelangt - je früher, desto besser: Heute sind seine Leute noch einigermaßen ernährt und kräftig, aber was im Februar sein wird, ist schwer zu sagen.