Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1871

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 291-294.

1. Korrektur.
Erstellt am 13.12.1998.

Friedrich Engels

Die Lage in Rußland

Aus dem Englischen.


["The Pall Mall Gazette" Nr. 1900 vom 16. März 1871]

|291| An den Redakteur der "Pall Mall Gazette"

Sir,

die englische Regierung erklärt, daß sie von einem Bündnis zwischen Rußland und Preußen nichts wisse. In Deutschland bestreitet niemand das Bestehen eines solchen Bündnisses, im Gegenteil, die preußenfreundliche Presse frohlockt über diese Tatsache; die antipreußischen Zeitungen sind darüber entrüstet. Eine der letzteren, "Der Volksstaat", glaubt, daß Herr Gladstone durch diese Ableugnung nur zu verstehen geben wollte, daß hier kein Bündnisvertrag, sondern eher ein Vasallenverhältnis vorliegt, und daß er in diesem Fall im Recht sei. Die Telegramme, die zwischen Versailles und St. Petersburg, zwischen dem "Ihr bis in den Tod getreuer Wilhelm" und seinem zurückhaltenderen Neffen Alexander gewechselt wurden, lassen wirklich keinen Zweifel mehr über die Verbindungen zwischen den beiden großen Militärmonarchien des Kontinents bestehen. Diese Telegramme wurden, nebenbei gesagt, zuerst im "Journal de St. Petersbourg" veröffentlicht. Ebenso bezeichnend ist die Tatsache, daß sie in der deutschen Presse nicht in ihrem vollen Wortlaut abgedruckt worden sind; unterdrückt wurde vor allem Kaiser Wilhelms Versicherung, dem Zaren bis in den Tod ergeben zu sein. Auf alle Fälle läßt der volle Wortlaut der Korrespondenz keinen Zweifel darüber, daß Kaiser Wilhelm das tiefe Gefühl der Verpflichtung ausdrücken will, das er Rußland gegenüber hegt, und seine Bereitwilligkeit, Rußland als Gegenleistung seine Dienste zur Verfügung zu stellen. Daß der Kaiser bereits die Siebzig überschritten hat und die Gesinnung seines mutmaßlichen Erben |Kronprinz Friedrich Wilhelm| zweifelhaft ist, bedeutet selbst- |292| verständlich für Rußland einen starken Antrieb, das Eisen zu schmieden, solange es heiß ist.

Überdies ist die innere Lage in Rußland alles andere als zufriedenstellend. Die Finanzen sind fast hoffnungslos zerrüttet; die besondere Form, in der die Befreiung der Leibeigenen und die anderen damit verbundenen sozialen und politischen Veränderungen durchgeführt worden sind, hat die landwirtschaftliche Produktion in nahezu unglaublichem Grade aus dem Geleise gebracht. Die halben Maßregeln liberalen Charakters, die abwechselnd bewilligt, zurückgezogen und wieder bewilligt wurden, haben den gebildeten Klassen gerade genügend Spielraum gegeben, eine ganz bestimmte öffentliche Meinung zu entwickeln; diese öffentliche Meinung steht in allen Punkten im Gegensatz zur Außenpolitik, welche die jetzige Regierung bisher zu verfolgen schien. Die öffentliche Meinung in Rußland ist im wesentlichen ungestüm panslawistisch, das heißt feindlich gegen die drei großen "Bedrücker" der slawischen Race: die Deutschen, die Ungarn und die Türken. Ein preußisches Bündnis wäre ihr ebenso widerwärtig wie ein österreichisches oder türkisches. Sie fordert außerdem eine unmittelbare kriegerische Aktion im panslawistischen Sinne. Die ruhige, langsame, aber äußerst sichere unterirdische Aktion der russischen traditionellen Diplomatie stellt ihre Geduld auf eine schmerzliche Probe. Solche Erfolge, wie sie auf der Konferenz erzielt wurden, so wichtig sie an sich auch sein mögen, gelten den russischen Panslawisten nichts. Sie hören nichts als den "Schrei der Qual" ihrer unterdrückten Racenbrüder; sie fühlen nichts eindringlicher als die Notwendigkeit, die verlorene Oberhoheit des heiligen Rußlands durch einen großen Schlag, einen Eroberungskrieg, wiederherzustellen. Sie wissen überdies, daß der mutmaßliche Erbe |Zarewitsch Alexander, der spätere Alexander III.| einer der ihrigen ist. Wenn wir all das und außerdem die großen strategischen Eisenbahnlinien nach Süden und Südwesten in Betracht ziehen, die jetzt weit genug fertiggestellt sind, um Angriffen gegen Österreich oder die Türkei oder gegen beide wirksam zu dienen, besteht da nicht ein starker Antrieb für die russische Regierung und für den Kaiser Alexander persönlich, das alte bonapartistische Mittel anzuwenden und sich der inneren Schwierigkeiten durch einen auswärtigen Krieg zu erwehren solange das preußische Bündnis noch sicher erscheint?

Unter solchen Umständen erlangt die neue russische Anleihe von 12 Millionen Pfund Sterling eine ganz besondere Bedeutung. Zwar ist ein patriotischer Protest an der Börse in Umlauf gesetzt worden, jedoch wird gemel- |293| det, daß er ohne Unterschriften war und offenbar auch geblieben ist, und wir hören, daß der Betrag der Anleihe mehr als gedeckt worden ist. Für welche Absichten unter anderem diese 12 Millionen benutzt werden sollen, darüber werden wir durch die "Ostsee-Zeitung" in Stettin informiert, ein Blatt, das nicht nur viele Jahre lang die allerbesten Informationen über russische Angelegenheiten gehabt hat, sondern auch unabhängig genug war, sie zu veröffentlichen. Der Deutsch-Französische Krieg, sagt der Petersburger Korrespondent dieser Zeitung (unter dem 4. März neuen Stils), habe die russischen Militärautoritäten von der gänzlichen Unwirksamkeit des Befestigungssystems überzeugt, wie es bisher bei der Anlage russischer Festungen befolgt wurde; und das Kriegsministerium habe bereits den Plan für die nötigen Veränderungen festgelegt.

"Es wird berichtet, daß das neue System, das auf der Einführung detachierter Forts basiert, zum ersten Mal bei den wichtigeren Grenzfestungen angewandt werden soll, mit deren Rekonstruktion sogleich begonnen werden soll. Die ersten Festungen, die mit detachierten Forts versehen werden sollen, sind Brest-Litowsk, Deblin und Modlin."

Nun, Brest-Litowsk, Deblin (oder Iwangorod) und Modlin (oder Nowo-Georgiewsk mit seinem offiziellen russischen Namen) sind aber genau die drei Festungen, die, mit Warschau als zentralem Punkt, den größeren Teil des Königreichs Polen beherrschen; Warschau erhält jetzt aus dem guten Grunde keine detachierten Forts, weil es sie schon seit einer Reihe von Jahren besitzt. Rußland verliert keine Zeit, seine Macht in Polen zu befestigen und seine Operationsbasis gegen Österreich zu verstärken; die Eile, mit der dies geschieht, ist kein gutes Vorzeichen für den europäischen Frieden.

All das kann vorläufig als reine Verteidigungsmaßnahme betrachtet werden. Aber der genannte Korrespondent berichtet weiter:

"Die Kriegsvorbereitungen in Rußland, die bei Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges begonnen haben, werden mit unvermindertem Eifer fortgesetzt. Kürzlich verfügte das Kriegsministerium die Formierung der vierten Bataillone. Die Durchführung dieses Befehls hat bereits in allen Regimentern begonnen, einschließlich jener im Königreich Polen. Die Detachements für den Eisenbahn- und Telegraphendienst im Felde, ebenso die Sanitätskompanien sind bereits organisiert worden. Die Mannschaften werden eifrig unterrichtet und in ihren verschiedenen Pflichten ausgebildet, und die Sanitätskompanien werden sogar unterwiesen, wie man erste Verbände bei Verwundeten anlegt, Blutungen stillt und Ohnmächtige wieder belebt."

Nun bestehen in fast jeder größeren Armee des Kontinents die Infanterieregimenter in ihrer Friedensstärke aus drei Bataillonen, und der erste |294| unverkennbare Schritt von der Friedens zur Kriegsstärke ist die Bildung der vierten Bataillone. Am Tage, da Louis-Napoleon den Krieg erklärte, verfügte er auch die Bildung der vierten Bataillone. In Preußen ist dies das erste, was nach Erlaß des Mobilmachungsbefehls geschieht. Genauso ist es in Österreich und ebenso in Rußland. Was man auch immer von der plötzlich entdeckten Notwendigkeit detachierter Forts für die polnischen Festungen denken mag oder von dem ebenso plötzlichen empressement |Eifer| für die Einführung der preußischen Krankenträger |Krankenträger: in der "P.M.G." deutsch| und der Eisenbahn- und Telegraphendetachements in den russischen Dienst (in einem Land, wo sowohl Eisenbahnen wie Telegraphen ziemlich selten sind), - hier, in der Bildung der vierten Bataillone, haben wir ein unverkennbares Zeichen dafür, daß Rußland die Grenze zwischen Friedens und Kriegszustand schon überschritten hat. Niemand wird sich einbilden, daß Rußland diesen Schritt ohne einen Zweck unternommen hat; und wenn dieser Schritt etwas bedeuten soll, so bedeutet er den Angriff gegen irgendwen. Vielleicht erklärt dies, wofür die 12 Millionen Pfund Sterling gebraucht werden.

Ihr usw.
E.