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Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 18, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 572-575.

1. Korrektur.
Erstellt am 04.03.1999

Karl Marx/Friedrich Engels

Für Polen

Die vorliegende Wiedergabe der Reden, die Marx und Engels am 23. Januar 1875 auf der Londoner Festveranstaltung zum zwölften Jahrestag des polnischen Aufstands von 1863/64 gehalten hatten, fertigte Engels für den "Volksstaat" an.


["Der Volksstaat" Nr. 34 vom 24. März 1875]

|572| Auch in diesem Jahr fand zu London eine Gedenkfeier des polnischen Aufstands vom 22. Januar 1863 statt. An dem Fest beteiligten sich unsere deutschen Parteigenossen sehr zahlreich; mehrere derselben hielten Ansprachen, u.a. Engels und Marx.

"Man sprach hier", sagte Engels, "über die Gründe, durch welche die Revolutionäre aller Länder bestimmt werden, mit der Sache Polens zu sympathisieren und für sie einzutreten. Nur eins hat man zu erwähnen vergessen, und zwar dies: daß die politische Lage, in welche Polen gebracht worden ist, eine durch und durch revolutionäre ist, daß sie Polen keine andere Wahl läßt, als revolutionär zu sein oder unterzugehen. Das zeigte sich schon nach der ersten Teilung, welche hervorgerufen wurde durch die Anstrengungen des polnischen Adels, eine Konstitution und Privilegien zu erhalten, welche ihr Existenzrecht verloren hatten und das Land und die allgemeine Ordnung schädigten, anstatt die Ruhe zu erhalten und den Fortschritt zu sichern. Schon nach der ersten Teilung erkannte ein Teil des Adels den Fehler und kam zu der Überzeugung, daß Polen nur durch Revolution wiederhergestellt werden kann; - und 10 Jahre später sahen wir Polen für die Freiheit in Amerika kämpfen. Die Französische Revolution von 1789 fand sofort ihren Widerhall in Polen. Die Konstitution von 1791 mit den Menschenrechten wurde zur Fahne der Revolution an den Ufern der Weichsel und machte aus Polen die Vorhut des revolutionären Frankreich, und das in dem Augenblick, wo die drei Mächte, welche schon einmal Polen beraubt hatten, sich vereinigten, um nach Paris zu marschieren und die Revolution zu ersticken. Konnten sie es dulden, daß im Zentrum der Koalition die Revolution sich festnistete? Unmöglich. Wieder warfen sie sich auf Polen, diesmal in der Absicht, es vollständig der nationalen |573| Existenz zu berauben. Die Entfaltung der revolutionären Fahne war eine der Hauptgründe für die Unterjochung Polens. Das Land, welches zerstückelt und aus der Liste der Völker gestrichen worden ist, weil es revolutionär war, kann nirgends anders sein Heil suchen als in der Revolution. Und deshalb finden wir in allen revolutionären Kämpfen Polen. Polen begriff das 1863 und veröffentlichte während des Aufstandes, dessen Jahrestag wir heute begehen, das radikalste revolutionäre Programm, das je im Osten Europas aufgestellt worden ist. Es wäre lächerlich, wollte man, weil eine polnische aristokratische Partei besteht, die polnischen Revolutionäre für Aristokraten halten, die ein aristokratisches Polen von 1772 wiederaufbauen wollten. Das Polen von 1772 ist auf ewig verloren. Keine Macht wird imstande sein, es aus dem Grab zu heben. Das neue Polen, welches die Revolution auf die Füße stellen wird, ist in gesellschaftlicher und politischer Hinsicht von dem Polen des Jahres 1772 ebenso grundverschieden, wie die neue Gesellschaft, der wir entgegeneilen, grundverschieden ist von der heutigen Gesellschaft.

Noch ein Wort. Keiner kann ungestraft ein Volk knechten. Die drei Mächte, die Polen ermordeten, sind schwer bestraft. Blicken wir auf mein eigenes Vaterland: Preußen-Deutschland. Unter der Firma der nationalen Vereinigung brachten wir Polen, Dänen und Franzosen an uns - und haben ein dreifaches Venedig; haben überall Feinde, beladen uns mit Schulden, Steuern, um unzählige Massen Soldaten zu erhalten, welche zugleich zur Unterdrückung der deutschen Arbeiter dienen müssen. Österreich, sogar das offizielle, weiß sehr gut, wie schwer ihm das Stückchen Polen ist. Zur Zeit des Krimkrieges war Österreich bereit, gegen Rußland zu gehen, unter der Bedingung, daß Russisch-Polen besetzt und frei gemacht würde. Das war jedoch nicht im Plan des Louis-Napoleon, und noch weniger im Plan des Palmerston. Und was Rußland anbetrifft, so sehen wir: Im Jahre 1861 brach die erste bedeutende Bewegung unter den Studenten aus, die um so gefährlicher war, als sich das Volk überall infolge der Befreiung der leibeignen Bauern in großer Aufregung befand; und was tat die russische Regierung, die sehr gut die Gefahr sah? - Sie rief in Polen den Aufstand von 1863 hervor; denn es ist erwiesen, daß dieser Aufstand ihr Werk ist. Die Bewegung unter den Studenten, die tiefe Aufregung im Volke verschwand sofort und machte Platz dem russischen Chauvinismus, welcher sich über Polen ergoß, als es die Erhaltung der russischen Herrschaft in Polen galt. So ging die erste bedeutende Bewegung in Rußland infolge der unheilvollen Bekämpfung Polens zugrunde. Wahrhaftig, die Wiederherstellung Polens liegt im Interesse des revolutionären Rußland, und mit Freuden |574| vernehme ich heute abend, daß diese Meinung übereinstimmt mit den Überzeugungen der russischen Revolutionäre" (die sich auf dem Meeting in diesem Sinn ausgesprochen hatten).

Marx sagte ungefähr: Die Arbeiterpartei von Europa nimmt das entschiedenste Interesse an der Emanzipation Polens, und das ursprüngliche Programm der Internationalen Arbeiterassoziation spricht die Wiederherstellung Polens als eins der Ziele der Arbeiterpolitik aus. Welches sind die Gründe dieser speziellen Teilnahme der Arbeiterpartei an dem Schicksale Polens?

Zunächst natürlich die Sympathie für ein unterjochtes Volk, das durch ununterbrochenen heldenmütigen Kampf gegen seine Unterdrücker sein historisches Recht auf nationale Selbständigkeit und Selbstbestimmung bewiesen hat. Es ist durchaus kein Widerspruch, daß die internationale Arbeiterpartei die Herstellung der polnischen Nation erstrebt. Im Gegenteil:

nur nachdem Polen seine Unabhängigkeit wiedererobert hat, nachdem es als selbständiges Volk wieder über sich selbst verfügen kann, nur dann kann seine innere Entwicklung wieder beginnen und kann es an der sozialen Umgestaltung Europas selbständig mitwirken. Solange ein lebensfähiges Volk von einem auswärtigen Eroberer gefesselt ist, wendet es alle seine Kraft, alle seine Anstrengungen, alle seine Energie notwendig gegen den äußeren Feind; solange bleibt also sein inneres Leben paralysiert, solange bleibt es unfähig, für die soziale Emanzipation zu arbeiten. Irland, Rußland unter der mongolischen Herrschaft etc. bieten schlagende Beweise für diesen Satz.

Ein anderer Grund der Sympathie der Arbeiterpartei für die Auferstehung Polens ist seine besondere geographische, militärische und historische Lage. Die Teilung Polens ist der Kitt, der die drei großen Militärdespotien: Rußland, Preußen und Österreich zusammenbindet. Nur die Wiederaufrichtung Polens kann dieses Band zerreißen und damit das größte Hindernis der sozialen Emanzipation der europäischen Völker aus dem Wege räumen.

Der Hauptgrund der Sympathie der Arbeiterklasse für Polen ist jedoch der: Polen ist nicht nur der einzige slawische Volksstamm, es ist das einzige europäische Volk, welches als kosmopolitischer Soldat der Revolution gekämpft hat und kämpft. Polen hat sein Blut vergossen im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg; seine Legionen haben unter der Fahne der ersten Französischen Republik gekämpft; durch seine Revolution von 1830 |575| verhinderte es die Invasion Frankreichs, die damals zwischen den Teilern Polens beschlossen war; 1846 zu Krakau pflanzte es zuerst in Europa die Fahne der sozialen Revolution auf; 1848 nimmt es einen hervorragenden Anteil an den Revolutionskämpfen in Ungarn, Deutschland und Italien; endlich 1871 liefert es der Pariser Kommune die besten Generale und die heroischsten Soldaten.

In den kurzen Augenblicken, wo die Volksmassen in Europa sich frei bewegen konnten, haben sie sich dessen erinnert, was sie Polen schulden. Nach der siegreichen Märzrevolution zu Berlin 1848 war es die erste Tat des Volkes, die polnischen Gefangenen, Mieroslawski und dessen Leidensgefährten, in Freiheit zu setzen und die Wiederherstellung Polens zu proklamieren; zu Paris im Mai 1848 marschierte Blanqui an der Spitze der Arbeiter gegen die reaktionäre Nationalversammlung, um ihr eine bewaffnete Intervention für Polen aufzuzwingen; endlich 1871, als die Pariser Arbeiter sich als Regierung konstituiert hatten, ehrten sie Polen, indem sie seinen Söhnen die militärische Führung ihrer Streitkräfte anvertrauten.

Auch in diesem Augenblicke läßt sich die deutsche Arbeiterpartei nicht im geringsten beirren durch das reaktionäre Auftreten der polnischen Deputierten auf dem deutschen Reichstage; sie weiß, daß diese Herren nicht für Polen, sondern für ihre Privatinteressen handeln; sie weiß, daß der polnische Bauer, Arbeiter, kurz, jeder nicht durch Standesinteresse verblendete Pole begreifen muß, daß Polen in Europa nur einen Alliierten hat und haben kann - die Arbeiterpartei. - Es lebe Polen!


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