MLWerke Marx/Engels - Werke Artikel und Korrespondenzen 1878

Seitenzahlen verweisen auf:    Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 19, 4. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 113-115.
Korrektur:    1
Erstellt:    18.07.1999

Friedrich Engels

[Die Arbeiterbewegung in Deutschland, Frankreich, den Vereinigten Staaten und Rußland]

Geschrieben am 12. Januar 1878.
Aus dem Italienischen.


["La Plebe" Nr. 3 vom 22. Januar 1878]

|113| Die sozialistische Bewegung in Deutschland geht bewundernswert voran. Es gibt gegenwärtig 62 sozialistische Periodica, davon sind 46 Zeitungen im eigentlichen Sinne, 1 ist eine Zeitschrift und 15 sind Organe von Gewerkschaftsverbänden. Außerdem werden in deutscher Sprache in der Schweiz 4 Zeitungen und 1 Zeitschrift, in Österreich 3, in Ungarn 1 und in Amerika 6 Zeitungen veröffentlicht. Die Gesamtzahl der sozialistischen periodischen Veröffentlichungen in deutscher Sprache beträgt:

Deutschland

62

} 75

Österreich

3

Ungarn

1

Schweiz

3

Amerika

6

Somit weist die periodische Literatur des Sozialismus in deutscher Sprache eine größere Zahl von Organen auf als in allen anderen Sprachen zusammengenommen. Zu dieser Anzahl rechne ich nicht die mehr oder weniger sozialistischen Zeitungen der Universitätsprofessoren (Kathedersozialisten |Kathedersozialisten in "La Plebe" deutsch|), sondern nur die von der Partei anerkannten Organe.

Als das Attentat auf Bismarck stattfand, schrieb mir ein Bourgeois: "Ganz Deutschland (das bürgerliche) ist voller Freude, weil Bismarck nicht getötet wurde", und ich antwortete ihm: "Auch wir sind zufrieden, denn er arbeitet für uns, als ob er dafür bezahlt bekäme." Ihr wißt, wie recht ich hatte, denn ohne die Verfolgungen und Leiden, ohne den Militarismus und die ständig anwachsenden Steuern, hätten wir es nicht so weit gebracht.

Obgleich die Krise in Frankreich ein recht wenig befriedigendes Ergebnis gezeitigt hat, so wird, wie mir scheint, sich daraus ein Zustand |114| ergeben, der es den französischen Sozialisten möglich machen wird, mittels Presse, öffentlicher Versammlungen und durch Vereinigungen zu wirken und sich als Arbeiterpartei zu organisieren, das ist alles, was wir jetzt - nach dem Blutbad von 1871 - erreichen können. Außerdem ist es eine feststehende Tatsache, daß Frankreich zwei große Fortschritte gemacht hat: der Übergang der Bauern auf die Seite der Republik und die Bildung einer republikanischen Armee. Der Staatsstreich von Ducrot, Batbie und Co. ist gescheitert, weil die Soldaten sich entschieden geweigert haben, gegen das Volk zu marschieren.

In Amerika wurde die Arbeiterfrage durch den blutigen Streik des Personals der großen Eisenbahnlinien auf die Tagesordnung gesetzt. Es ist ein Ereignis, das in der amerikanischen Geschichte Epoche machen wird; auf diese Weise geht die Bildung einer Arbeiterpartei in den Vereinigten Staaten mit großen Schritten voran. In jenem Lande geht es rasch vorwärts, und wir müssen die Bewegung verfolgen, um nicht von irgendeinem großen Erfolg überrascht zu werden, der bald zustande kommen wird.

Rußland ist jenes Land, glaube ich, das in naher Zukunft die bedeutendste Rolle spielen wird. Die durch die sogenannte Befreiung der Leibeignen geschaffene Lage war schon vor dem Kriege unerträglich. Diese große Reform ist so gut durchgeführt worden, daß sie schließlich Adelige und Bauern ruiniert hat. Ihr folgte eine weitere Reform - angeblich mit dem Ziel, den Gouvernements oder Kreisen eine Verwaltung zu geben, die verhältnismäßig frei von der Einmischung der Zentralregierung gewählt werden sollte -, die aber weiter nichts brachte als die Erhöhung der ohnehin unerträglichen Steuern.

Den Gouvernements wurden einfach die Kosten ihrer Verwaltung auferlegt, so daß der Staat weniger zahlte, jedoch weiter dieselben Steuern eintrieb; daher gab es neue Steuern für Begleichung der Ausgaben der Gouvernements und Gemeinden. Dann kam noch die allgemeine Wehrpflicht hinzu, was einer neuen Steuer gleichzusetzen ist, die drückender ist als die anderen, und einer neuen, zahlenmäßig stärkeren Armee gleichkommt.

So näherte sich der Zusammenbruch der Finanzen mit großen Schritten. Das Land befand sich schon vor dem Kriege im Zustande des Bankrotts. Die russische Hochfinanz, die in großem Maße an den betrügerischen Spekulationen zwischen 1871 und 1873 teilgenommen hatte, verwickelte das Land in die Finanzkrise, die 1874 in Wien und Berlin ausbrach und auf Jahre hinaus Industrie und Handel in Rußland ruinierte. Bei dieser Lage der Dinge begann der heilige Krieg gegen die Türken, und da man keine |115| Anleihe im Ausland erhalten konnte und die inneren Anleihen nicht das ergaben, was man benötigte, mußte zu den Millionen der Bank (den Reservefonds) und der Ausgabe von Assignaten Zuflucht genommen werden; infolgedessen vermindert sich der Wert des Papiergeldes von Tag zu Tag, er wird bald, schon in ein oder zwei Jahren, seinen Tiefpunkt erreicht haben. Schließlich haben wir alle Elemente eines russischen 1789, dem notwendigerweise ein 1793 folgen wird. Was immer der Ausgang des Krieges sein wird, die russische Revolution steht vor der Tür, sie wird bald, vielleicht dieses Jahr ausbrechen; sie wird, entgegen den Annahmen von Bakunin, von oben, im Palast, im Schoße des verarmten und frondierenden Adels beginnen. Doch einmal in Bewegung, wird sie die Bauern mitreißen, und ihr werdet dann Szenen sehen, denen gegenüber jene von 1793 verblassen werden. Ist einmal Rußland zur Revolution getrieben, dann wird sich das Antlitz ganz Europas verändern. Das alte Rußland war bisher die große Reservearmee der europäischen Reaktion, so hat es 1789, 1805, 1815, 1830 und 1848 gehandelt. Wenn einmal diese Reservearmee vernichtet sein wird, - dann werden wir sehen!


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