MLWerke Marx/Engels - Werke Artikel und Korrespondenzen 1881

Seitenzahlen verweisen auf:    Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 19, 4. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 283-286.
Korrektur:    1
Erstellt:    18.07.1999

Friedrich Engels

Baumwolle und Eisen

Geschrieben Ende Juli 1881.
Aus dem Englischen.


["The Labour Standard" Nr. 13 vom 30. Juli 1881. Leitartikel]

|283| Baumwolle und Eisen sind die beiden wichtigsten Rohstoffe unserer Zeit. Die Nation, die in der Fabrikation von Baumwoll- und Eisenwaren führend ist, marschiert an der Spitze der Industrienationen überhaupt. Und weil und solange das für England zutrifft, deshalb und solange wird England die erste Industrienation der Welt sein.

Demnach könnte man erwarten, daß es in England den Arbeitern in der Baumwoll- und Eisenindustrie besonders gut gehe, daß das Geschäft in diesen Artikeln bei der marktbeherrschenden Stellung Englands immer in Blüte stehe, und daß das zur Zeit der Freihandelsagitation verheißene Tausendjährige Reich des Überflusses mindestens in diesen beiden Industriezweigen verwirklicht sei. Aber ach! bekanntlich ist das keineswegs der Fall, und wenn sich die Lage des werktätigen Volkes nicht verschlechtert, sondern in manchen Fällen sogar verbessert hat, so hat es das hier wie in anderen Gewerben ausschließlich seinen eigenen Anstrengungen zu danken - starker Organisation und harten Streikkämpfen. Wir wissen, daß die Baumwoll- und Eisenindustrie nach ein paar kurzen Jahren der Prosperität um und nach 1874 völlig zusammengebrochen ist; Fabriken wurden geschlossen, Hochöfen ausgeblasen, und wo die Produktion fortgesetzt wurde, war Kurzarbeit die Regel. Derartige Perioden der Wirtschaftskrise kannte man auch schon früher; sie kehren im Durchschnitt alle zehn Jahre wieder und dauern ihre Zeit, um durch eine neue Periode der Prosperität abgelöst zu werden und so fort.

Die gegenwärtige Depressionsperiode, besonders in der Baumwoll- und Eisenindustrie, wird aber dadurch gekennzeichnet, daß sie jetzt schon einige Jahre länger dauert als gewöhnlich. Es gab mehrere Versuche, mehrere Anläufe zu einer Wiederbelebung; aber vergebens. Wenngleich die Zeit der |284| eigentlichen Krise vorüber ist, dauert die Flaute im Geschäftsleben noch an, und die Märkte sind nach wie vor außerstande, die gesamte Produktion aufzunehmen.

Der Grund hierfür liegt darin, daß bei unserem gegenwärtigen System der Verwendung von Maschinerie zur Produktion, nicht nur von Industriewaren, sondern von Maschinen selbst, sich die Produktion mit unglaublicher Schnelligkeit steigern läßt. Wenn den Fabrikanten der Sinn danach stünde, könnten sie ohne Schwierigkeiten in einer einzigen Prosperitätsperiode die Anlagen zum Spinnen und Weben, zum Bleichen und Bedrucken von Baumwollstoffen derart erweitern, daß sie imstande wären, fünfzig Prozent mehr Waren zu erzeugen, und sie könnten die gesamte Produktion von Roheisen und Eisenwaren jeder Art auf das Doppelte erhöhen. In Wirklichkeit hat die Steigerung keine derartigen Ausmaße angenommen. Immerhin war sie aber außerordentlich hoch im Verhältnis zu der Steigerung in früheren Perioden des Aufschwungs, und die Folge davon ist - chronische Überproduktion, chronische Depression im Geschäftsleben. Die Fabrikanten können es sich leisten, abzuwarten, zumindest eine geraume Zeit, während die Arbeiter darunter leiden müssen; denn für sie bedeutet dies chronisches Elend und die ständige Gefahr, ins Arbeitshaus zu kommen.

Das also ist das Ergebnis des glorreichen Systems der schrankenlosen Konkurrenz, das ist die Verwirklichung des von den Cobden, Bright und Co. versprochenen Tausendjährigen Reichs! Das ist es, was der arbeitenden Bevölkerung bevorsteht, wenn sie, wie im Verlauf der letzten fünfundzwanzig Jahre, die Leitung der ökonomischen Politik des Empire seinen "natürlichen Führern" überläßt, jenen "Industriekapitänen", die nach Thomas Carlyle berufen sind, die industrielle Armee des Landes zu kommandieren. Schöne Industriekapitäne! Im Vergleich mit ihnen waren 1870 die Generale Louis-Napoleons Genies. Jeder einzelne dieser angeblichen Industriekapitäne bekämpft alle übrigen, handelt ausschließlich im eigenen Interesse, vergrößert seinen Betrieb, ohne zu berücksichtigen, was seine Nachbarn tun, und schließlich entdecken sie alle zu ihrer großen Überraschung, daß Überproduktion das Ergebnis ist. Sie können sich nicht vereinigen, um die Produktion zu regeln; sie können sich nur zu einem Zweck vereinigen: die Löhne ihrer Arbeiter niederzuhalten. Und so, durch unüberlegte Ausdehnung der Produktivkraft des Landes weit über die Aufnahmefähigkeit der Märkte hinaus, berauben sie ihre Arbeiter der relativen Erleichterung, die ihnen eine Periode mäßiger Prosperität brächte und auf die sie nach der langen Periode der Krise Anspruch hätten, um ihr Einkommen wieder auf das Durchschnittsniveau zu bringen. Kann man immer noch |285| nicht verstehen, daß die Fabrikanten als Klasse die Fähigkeit verloren haben, die großen ökonomischen Interessen des Landes, ja den Produktionsprozeß selbst noch länger zu leiten? Und ist es nicht absurd - wenn auch Tatsache -, daß der schlimmste Feind der Arbeiter Englands die unaufhörlich wachsende Produktivität ihrer eigenen Hände ist?

Noch ein anderer Umstand muß in Betracht gezogen werden. Die englischen Fabrikanten sind nicht die einzigen, die ihre Produktivkräfte vergrößern. Dasselbe geschieht auch in anderen Ländern. Die Statistik gibt uns keine Möglichkeit, die Baumwoll- und Eisenindustrie in den verschiedenen führenden Ländern gesondert zu vergleichen. Wenn wir jedoch den Bergbau, die Textil- und die Metallindustrie zusammennehmen, können wir auf Grund des Materials, das der Leiter des preußischen Statistischen Amtes, Dr. Engel, in seinem Buche "Das Zeitalter des Dampfs" (Berlin 1881) geliefert hat, eine vergleichende Tabelle aufstellen. Nach seiner Schätzung werden in den genannten Industrien der unten angeführten Länder Dampfmaschinen mit der folgenden Gesamtleistung in Pferdestärken verwendet (eine Pferdestärke ist gleich der Energie, die 75 Kilogramm in der Sekunde einen Meter hebt):

Textil-industrie

Bergbau und Metallindustrie

England, 1871

515.800

1.077.000

Deutschland, 1875

128.125

456.436

Frankreich

rund

100.000

185.000

Vereinigte Staaten

rund

93.000

370.000

Wir sehen also, daß die gesamte Dampfkraft, die von den drei Nationen angewendet wird, die Englands Hauptkonkurrenten sind, in der Textilindustrie fast drei Fünftel der englischen ausmacht, während sie ihr im Bergbau und in der Metallindustrie beinahe gleichkommt. Und da sich die Industrie dieser Länder weit schneller entwickelt als die Englands, kann es kaum einem Zweifel unterliegen, daß ihre Gesamtproduktion die englische bald überflügeln wird.

Man betrachte ferner die folgende Tabelle, aus der die in der Produktion angewandte Dampfkraft, mit Ausnahme jener der Lokomotiven und Schiffsmaschinen, in Pferdestärken ersichtlich ist:

Pferdestärken

Großbritannien

rund

2.000.000

Vereinigte Staaten

rund

987.000

Deutschland

rund

1.321.000

Frankreich

rund

492.000

|286| Diese Tabelle zeigt noch deutlicher, wie wenig von dem Monopol Englands in den mit Dampfkraft betriebenen Industrien übriggeblieben und wie wenig es dem Freihandel gelungen ist, Englands industrielle Überlegenheit sicherzustellen. Und man sage nicht, daß dieser Fortschritt der ausländischen Industrie künstlich, daß er auf das Schutzzollsystem zurückzuführen sei. Die ganze gewaltige Expansion der deutschen Industrie vollzog sich unter einem höchst liberalen Freihandelsregime; und wenn Amerika, hauptsächlich infolge eines absurden Systems innerer Verbrauchssteuern, gezwungen ist, zu Zöllen seine Zuflucht zu nehmen, die mehr scheinbar als wirklich Schutz gewähren, so würde die Aufhebung dieser Verbrauchssteuergesetze genügen, ihm die Konkurrenz auf dem freien Markt zu gestatten.

Das also ist die Lage, in der sich England nach fast fünfundzwanzig Jahren unbestrittener Herrschaft der Lehren der Manchesterschule befindet. Unserer Meinung nach sind diese Ergebnisse derart, daß die schleunigste Abdankung der Herren von Manchester und Birmingham geboten ist, um für die nächsten fünfundzwanzig Jahre die Arbeiterklasse ans Ruder zu lassen. Schlechter könnte sie die Sache bestimmt nicht machen.


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