MLWerke Marx/Engels - Werke Artikel und Korrespondenzen 1881

Seitenzahlen verweisen auf:    Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 19, 4. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 287-290.
Korrektur:    1
Erstellt:    18.07.1999

Friedrich Engels

Notwendige und überflüssige Gesellschaftsklassen

Geschrieben am 1./2. August 1881.
Aus dem Englischen.


["The Labour Standard" Nr. 14 vom 6. August 1881, Leitartikel]

|287| Häufig ist die Frage aufgeworfen worden: Inwieweit sind die verschiedenen Gesellschaftsklassen nützlich oder gar notwendig? Und naturgemäß war die Antwort für jede geschichtliche Epoche verschieden. Zweifellos gab es eine Zeit, da die Grundbesitzeraristokratie ein unvermeidliches und notwendiges Element der Gesellschaft war. Das ist indes schon sehr, sehr lange her. Dann kam eine Zeit, da mit der gleichen unvermeidlichen Notwendigkeit eine kapitalistische Mittelklasse entstand, eine Bourgeoisie, wie die Franzosen sie nennen, die gegen die Grundbesitzeraristokratie kämpfte, ihre politische Macht brach und ihrerseits die ökonomische und politische Vorherrschaft erlangte. Seit der Entstehung von Klassen gab es jedoch niemals eine Zeit, da die Gesellschaft ohne eine arbeitende Klasse auskommen konnte. Der Name und die soziale Stellung dieser Klasse änderten sich; an die Stelle des Sklaven trat der Leibeigene, um seinerseits von dem freien Arbeiter abgelöst zu werden - frei von der Leibeigenschaft, aber auch frei von jedem irdischen Besitz, außer seiner eigenen Arbeitskraft. Eines aber ist klar: Welche Veränderungen auch in den nichtproduzierenden Oberschichten der Gesellschaft vor sich gehen mochten, so konnte die Gesellschaft doch niemals ohne eine Klasse von Produzenten leben. Diese Klasse ist also unter allen Umständen notwendig - wenn auch die Zeit kommen muß, in der sie nicht länger eine Klasse sein, sondern die ganze Gesellschaft umfassen wird.

Welche Notwendigkeit besteht nun gegenwärtig für die Existenz einer jeden dieser drei Klassen?

Die Grundbesitzeraristokratie ist in England zumindest ökonomisch überflüssig, während sie in Irland und Schottland durch ihre Tendenz, das |288| Land zu entvölkern, zur ausgesprochenen Plage geworden ist. Daß sie Menschen über den Ozean oder in den Hungertod treiben und durch Schafe oder Wild ersetzen - das ist das ganze Verdienst, das die irischen und schottischen Grundbesitzer für sich in Anspruch nehmen können. Die Konkurrenz der amerikanischen pflanzlichen und tierischen Nahrungsmittel entwickle sich nur noch etwas weiter, und die englische Grundbesitzeraristokratie wird dasselbe tun, zum mindesten der Teil, der es sich leisten kann, weil er großes städtisches Grundeigentum als Rückhalt hat. Von dem Rest wird uns die amerikanische Lebensmittelkonkurrenz bald befreien. Und wir werden ihnen keine Träne nachweinen - denn ihr politisches Wirken ist sowohl im Oberhaus wie im Unterhaus eine wahre nationale Plage.

Wie steht es aber mit der kapitalistischen Mittelklasse, jener aufgeklärten und liberalen Klasse, die das britische Kolonialreich begründet und die britische Freiheit geschaffen hat? jener Klasse, die das Parlament 1831 reformiert, die Korngesetze aufgehoben und einen Zoll nach dem anderen herabgesetzt hat? jener Klasse, die die riesigen Fabriken, die gewaltige Handelsflotte, das sich immer weiter ausdehnende Eisenbahnnetz Englands ins Leben rief und noch immer leitet? Diese Klasse muß doch sicherlich mindestens ebenso notwendig sein wie die Arbeiterklasse, die von ihr gelenkt und von Fortschritt zu Fortschritt geführt wird.

Die ökonomische Funktion der kapitalistischen Mittelklasse bestand in der Tat darin, das moderne System der mit Dampfkraft betriebenen Fabriken und Verkehrsmittel zu schaffen und alle ökonomischen und politischen Hindernisse, die die Entwicklung dieses Systems verzögerten oder hemmten, aus dem Weg zu räumen. Solange die kapitalistische Mittelklasse diese Funktion erfüllte, war sie unter den gegebenen Umständen zweifelsohne eine notwendige Klasse. Aber ist sie es jetzt noch? Erfüllt sie auch weiterhin ihre eigentliche Funktion, die gesellschaftliche Produktion zum Nutzen der gesamten Gesellschaft zu leiten und zu erweitern? Wir wollen einmal sehen.

Beginnen wir mit den Verkehrsmitteln, so finden wir, daß der Telegraph in den Händen der Regierung ist. Die Eisenbahnen und ein großer Teil der Hochseedampfer sind nicht Eigentum einzelner Kapitalisten, die ihr Geschäft selbst leiten, sondern von Aktiengesellschaften, deren Betrieb von bezahlten Angestellten geleitet wird, von Dienern, die in jeder Hinsicht die Position höhergestellter, besser bezahlter Arbeiter einnehmen. Was die Direktoren und Aktionäre anbetrifft, so wissen beide, daß es für das Geschäft um so besser ist, je weniger sich die ersteren in die Leitung und die |289| letzteren in die Kontrolle einmischen. Eine lockere und meist oberflächliche Kontrolle ist in der Tat die einzige Funktion, die den Eigentümern des Unternehmens verblieben ist. Wir sehen also, daß den kapitalistischen Eigentümern dieser riesigen Unternehmen in Wirklichkeit keine andere Funktion geblieben ist, als halbjährlich ihre Dividenden einzustreichen. Die gesellschaftliche Funktion des Kapitalisten ist hier auf besoldete Diener übergegangen; aber der Kapitalist streicht nach wie vor in Gestalt seiner Dividenden die Bezahlung für jene Funktionen ein, obwohl er sie nicht mehr ausübt.

Dem Kapitalisten, den die Ausdehnung der betreffenden großen Unternehmen gezwungen hat, sich von ihrer Leitung "zurückzuziehen", ist aber doch noch eine Funktion geblieben. Und diese Funktion besteht darin, mit seinen Aktien an der Börse zu spekulieren. Weil sie nichts Besseres zu tun haben, spekulieren unsere Kapitalisten, die sich "zurückgezogen" haben, in Wirklichkeit aber überflüssig geworden sind, nach Herzenslust in diesem Mammonstempel. Sie gehen mit der wohlüberlegten Absicht hin, Geld einzusacken, das sie angeblich verdient haben; trotzdem sagen sie, die Quelle jeglichen Eigentums sei Arbeit und Sparsamkeit - die Quelle vielleicht, aber sicherlich nicht das Ende. Welche Heuchelei, kleine Spielhöllen zwangsweise zu schließen, wenn unsere kapitalistische Gesellschaft nicht ohne eine riesige Spielhölle auskommen kann, in der Millionen und aber Millionen verloren und gewonnen werden und die ihr wichtigster Lebensnerv ist! Hier allerdings wird die Existenz des "zurückgezogenen", aktienbesitzenden Kapitalisten nicht nur überflüssig, sondern eine ausgesprochene Plage.

Was für die Eisenbahnen und die Dampfschiffahrt zutrifft, wird mit jedem Tag für alle großen Industrie- und Handelsunternehmen in steigendem Maße zutreffender. Das "Gründertum" - die Umwandlung großer Privatunternehmen in Aktiengesellschaften - stand während der letzten zehn Jahre und länger auf der Tagesordnung. Von den großen Lagerhäusern der City in Manchester bis zu den Eisenwerken und Kohlengruben von Wales und Nordengland und den Fabriken von Lancashire unterlag oder unterliegt alles dieser Gründerei. In ganz Oldham ist kaum eine Baumwollfabrik in privaten Händen geblieben; ja selbst der Einzelhändler wird mehr und mehr durch "Genossenschaftsläden" verdrängt, die in ihrer großen Mehrzahl nur dem Namen nach genossenschaftlich sind - doch darüber ein andermal. So sehen wir, daß gerade die Entwicklung des kapitalistischen Produktionssystems den Kapitalisten ebenso überflüssig macht wie den Handweber. Nur mit dem Unterschied, daß der Handweber |290| zum langsamen Hungertod verurteilt ist und der überflüssig gewordene Kapitalist zum langsamen Tod wegen Überfütterung. Nur in einer Hinsicht sind sich die beiden im allgemeinen gleich: weder der eine noch der andere weiß, was er mit sich anfangen soll.

Das also ist das Ergebnis: Die ökonomische Entwicklung unserer modernen Gesellschaft hat mehr und mehr die Tendenz zur Konzentration, zur Vergesellschaftung der Produktion in Riesenunternehmen, die nicht mehr von einzelnen Kapitalisten geleitet werden können. Das ganze Geschwätz vom "Auge des Herrn" und den Wundern, die es verrichtet, wird zu barem Unsinn, sobald ein Unternehmen eine gewisse Größe erreicht. Man stelle sich das "Auge des Herrn" der London- und Nordwest-Eisenbahn vor! Was aber der Herr nicht zu tun vermag - die Arbeiter, die im Lohnverhältnis stehenden Angestellten der Gesellschaft, können es tun und tun es mit Erfolg.

Der Kapitalist kann also seinen Profit nicht länger als "Lohn für Aufsicht" beanspruchen, denn er beaufsichtigt nichts. Rufen wir uns das ins Gedächtnis, wenn uns die Verteidiger des Kapitals diese hohle Phrase in die Ohren schreien!

In unserer Ausgabe von vergangener Woche haben wir schon versucht zu zeigen, daß die Kapitalistenklasse auch unfähig geworden ist, das riesige Produktionssystem unseres Landes zu leiten; einerseits hat sie die Produktion derart ausgedehnt, daß sie periodisch alle Märkte mit Waren überflutet, andererseits ist sie immer unfähiger geworden, sich gegen die ausländische Konkurrenz zu behaupten. So finden wir nicht nur, daß wir ohne die Einmischung der Kapitalistenklasse in die großen Industrien des Landes sehr gut fertig werden können, sondern wir finden auch, daß ihre Einmischung sich mehr und mehr zu einer Plage auswächst.

Wir sagen ihnen nochmals: "Tretet ab! Gebt der Arbeiterklasse Gelegenheit zu zeigen, was sie vermag!"


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