MLWerke Marx/Engels - Werke Artikel und Korrespondenzen 1883

Seitenzahlen verweisen auf:    Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 19, 4. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 331/332.
Korrektur:    1
Erstellt:    18.07.1999

Friedrich Engels

Jenny Longuet, geb. Marx


["Der Sozialdemokrat" Nr. 4 vom 18. Januar 1883]

|331| Am 11. Januar starb zu Argenteuil bei Paris die älteste Tochter von Karl Marx, Jenny, seit ungefähr acht Jahren die Frau des ehemaligen Mitglieds der Pariser Kommune und jetzigen Mitredakteurs der "Justice", Charles Longuet.

Geboren am 1. Mai 1844, ist sie inmitten der internationalen proletarischen Bewegung herangewachsen und aufs innigste mit ihr verwachsen. Bei einer Zurückhaltung, die fast für Schüchternheit gelten konnte, entwickelte sie, wo es galt, eine Geistesgegenwart und Energie, um die mancher Mann sie beneiden dürfte.

Als die irische Presse die infame Behandlung an den Tag brachte, die die 1866 und später verurteilten Ferner im Zuchthaus zu erdulden hatten, und die englische Presse diese Schändlichkeiten hartnäckig totschwieg; als das Ministerium Gladstone, trotz der bei den Wahlen gemachten Versprechungen, die Amnestie verweigerte und nicht einmal die Lage der Verurteilten milderte, da fand Jenny Marx das Mittel, dem frommen Herrn Gladstone Beine zu machen. Sie schrieb zwei Artikel in Rocheforts "Marseillaise", und schilderte in glühenden Farben, wie im freien England politische Verbrecher behandelt wurden. Das half. Die Enthüllung in einem großen Pariser Blatt war nicht zu ertragen. Wenige Wochen darauf waren O'Donovan Rossa und die meisten anderen frei und auf dem Wege nach Amerika.

Im Sommer 1871 besuchte sie mit ihrer jüngsten Schwester ihren Schwager Lafargue in Bordeaux. Lafargue, seine Frau, sein krankes Kind und die beiden Mädchen gingen von da nach Bagnères-de-Luchon, einem Pyrenäenbade. Eines Morgens früh kam ein Herr zu Lafargue: "Ich bin Polizeibeamter, aber Republikaner, der Befehl ist gekommen, Sie zu |332| verhaften, man weiß, daß Sie die Verbindungen zwischen Bordeaux und der Pariser Kommune geleitet haben. Sie haben eine Stunde Zeit, um über die Grenze zu gehen."

Lafargue mit Frau und Kind kamen glücklich über den Paß nach Spanien, dafür rächte sich die Polizei an den beiden Mädchen und verhaftete sie. Jenny hatte einen Brief des vor Paris gefallenen Kommuneführers Gustave Flourens in der Tasche; wurde er gefunden, so war er ein sicherer Reisepaß für sie beide nach Neukaledonien. Einen Augenblick im Büro allein gelassen, machte sie ein altes bestaubtes Registerbuch auf, legte den Brief hinein und klappte das Buch wieder zu. Vielleicht liegt er noch da. Nach dem Sitz des Präfekten abgeführt, stellte dieser, der edle Graf von Kératry bonapartistischen Angedenkens, ein scharfes Verhör mit den zwei Mädchen an. Aber die Geriebenheit des ehemaligen Diplomaten und die Brutalität des ehemaligen Kavallerieoffiziers scheiterten an der ruhigen Besonnenheit Jennys. Mit einem Wutausdruck über "die Energie, die den Frauen dieser Familie eigen scheint", verließ er das Zimmer. Nach längerem Hin- und Hertelegraphieren nach Paris mußte er die beiden Mädchen endlich aus der Gefangenschaft entlassen, in der sie eine echt preußische Behandlung genossen hatten .

Diese beiden Züge aus ihrem Leben bezeichnen sie. Das Proletariat hat an ihr eine heldenmütige Kämpferin verloren. Ihr trauernder Vater aber hat wenigstens den Trost, daß Hunderttausende von Arbeitern in Europa und Amerika an seinem Schmerz Anteil nehmen.

London, 13. Januar 1883

Fr. Engels


MLWerke Marx/Engels - Werke Artikel und Korrespondenzen 1883