MLWerke Marx/Engels - Werke Artikel und Korrespondenzen 1877

Seitenzahlen verweisen auf:    Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 19, 4. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 351-354.
Korrektur:    1
Erstellt:    18.07.1999

Friedrich Engels

Bemerkung zu Seite 29 der "Histoire de la commune"

(Der Waffenstillstand des Herrn Thiers vom 30. Oktober 1870)

Geschrieben Anfang Februar 1877.

Nach der Handschrift.

Aus dem Französischen.


|351| Es gehört die ganze Stupidität und die ganze Heuchelei der Männer des 4. September dazu, um die Nachricht von diesem Waffenstillstand "eine gute Nachricht" zu nennen. Gut, in der Tat - für die Preußen.

Die Kapitulation von Metz hatte 6 preußischen Armeekorps, 120.000 Mann, ihre Aktionsfreiheit wiedergegeben. Man mußte schon Trochu und Jules Favre heißen, um zu übersehen, daß das unausbleibliche Eintreffen dieser neuen Armee im Zentrum Frankreichs jeden Versuch, Paris zu entsetzen, fast unmöglich machte, daß dies nicht der Augenblick war für den Abschluß eines Waffenstillstands, sondern für höchste militärische Anstrengung. Es standen dafür nur fünfzehn Tage zur Verfügung, aber diese fünfzehn Tage waren kostbar, es war der kritische Zeitpunkt des Krieges.

Die Situation war folgende:

Für die Blockade von Paris hatten die Deutschen ihre gesamten Truppen, mit Ausnahme von 3 Infanteriedivisionen, einsetzen müssen. Sie hatten keine Reserve, denn die 3 Divisionen hatten diesen Charakter verloren, nachdem sie Orléans und Ch[âteau]dun besetzt hielten und von der Loire-Armee in Schach gehalten wurden. Im Westen, im Norden und im Osten gab es nur Kavallerie, die ein weit ausgedehntes Gebiet beobachten und durchstreifen mußte, aber nicht imstande war, es Infanterie gegenüber zu behaupten. Ende Oktober war die deutsche Linie, die Paris zernierte, nach der Stadtseite hin schon sehr stark befestigt, aber jeder von außerhalb kommende Angriff würde die Preußen unweigerlich auf freiem Felde treffen. Das Erscheinen von 50.000 Mann, selbst solch junger Truppen, über die Frankreich damals verfügte, hätte genügt, um die Blockade zu durchbrechen und die Verbindung zwischen Paris und dem Lande wiederherzustellen. Nun, wir haben gesehen, daß man schnell handeln mußte; es geschah jedoch folgendes:

|352| Die Regierung von Paris nahm einen Waffenstillstand an, der, obwohl von kurzer Dauer, den von Arbeiten und Nachtwachen bei der Blockade erschöpften deutschen Truppen Erleichterung schuf (30. Oktober).

D'Aurelle de Paladines seinerseits konzentriert seine Armee am 2. November bei Vierzon in der Absicht, auf Beaugency zu marschieren, dort die Loire zu überschreiten und zwischen den Preußen (22. Division), die Châteaudun besetzt halten, und den Bayern, die Orléans halten, vorzustoßen. Der Marsch von Vierzon nach Beaugency beträgt etwa 45 Kilometer und konnte sehr gut in 2 Tagen durchgeführt werden. Aber wenn man einer deutschen Quelle glauben darf ("Militärische Gedanken und Betrachtungen etc."), so hatte Gambetta die Naivität, zu glauben, daß eine Armee von 40.000 Mann mit der Eisenbahn ebenso schnell reist wie ein einfacher Privatmann. Er befiehlt also dem General, anstatt seine Armee marschieren zu lassen, sie mit der Eisenbahn von Vierzon nach Tours und von dort nach Beaugency zu transportieren. Der General protestiert, Gambetta besteht darauf. Anstatt eines Marsches von zwei Tagen und von 45 Kilometern macht die Loire-Armee also eine Eisenbahnfahrt von 180 Kilometern, die sie fünf Tage kostet und überdies dem Feinde nicht verborgen bleiben konnte. Erst am 7. ist sie wieder in Beaugency konzentriert und einsatzbereit. Aber drei kostbare Tage sind verloren, und der Feind ist von der durchgeführten Bewegung unterrichtet.

Und was für Tage! Der 3. November war der kritischste Tag: die preußische Kavallerie, eine ganze Brigade, mußte Mantes aufgeben und sich auf Vert zurückziehen vor zehn starken Einheiten Franktireurs; andererseits wurden beträchtliche französische Streitkräfte beobachtet, die sich aus allen Waffengattungen zusammensetzten und von Courville in Richtung Chartres marschierten. Wenn die Loire-Armee am 4. angegriffen hätte, wozu sie durchaus imstande war, statt in Waggons spazierengefahren zu werden; wenn sie, was ihr nicht schwerfallen konnte, zwischen den Bayern und der 22. preußischen Division vorgestoßen wäre und ihre große zahlenmäßige Überlegenheit benutzt hätte, um sie einzeln, einen nach dem andern zu schlagen und dann auf Paris vorzustoßen, dann wäre Paris fast mit Sicherheit befreit worden.

Moltke war zudem weit davon entfernt, die Gefahr zu verkennen; er war auch entschlossen, notfalls wie Napoleon vor Mantua zu handeln: die Blockade aufzuheben, den sich bei Villecoublay formierenden Belagerungspark zu opfern, seine Armee für die Aktion auf freiem Felde zu konzentrieren und die Blockade erst nach dem Sieg, d.h. nach der Ankunft der Armee von Metz, wieder aufzunehmen. Das Gepäck des Hauptquartiers |353| von Versailles war bereits verladen, alles war zur Abfahrt bereit, es mußten nur noch die Pferde angespannt werden (wie der Schweizer Oberst von Erlach, ein Augenzeuge, sagt).

Wenn die Preußen gezwungen worden wären, die Blockade von Paris aufzuheben, hätte das einen Druck seitens Europas und einen ehrenvollen Frieden bedeuten können. Auf alle Fälle wäre die moralische Wirkung eines solchen Faktums zunächst auf Europa und dann besonders auf Frankreich und schließlich im negativen Sinne auf die Deutschen ungeheuer gewesen. Und die materiellen Auswirkungen eines solchen Faktums! Paris hätte mindestens fünfzehn bis zwanzig Tage Zeit gehabt, um sich über alle aus Süden und Westen kommenden Eisenbahnlinien zu verproviantieren, was die Fortsetzung der Verteidigung für ein oder zwei Monate möglich gemacht hätte. Ebensoviel Zeit wäre außerdem für die Organisation der Armeen in der Provinz gewonnen worden, so daß man sie künftig nicht mehr ohne Disziplin, ohne Ausbildung, ohne Ausrüstung und fast ohne Waffen gegen den Feind hätte werfen brauchen. Um Frankreich wieder Aussichten auf Erfolg zu geben, bedurfte es nur der Zeit; die Gelegenheit, sich diese zu verschaffen, bot sich am 3. und 4. November; wir haben gesehen, wie diese Gelegenheit versäumt wurde.

Verfolgen wir jedoch die Ereignisse!

Paris unternahm nicht einmal einen Ausfall. Eine Woche lang machten die Streitkräfte, die sich Paris vom Westen her näherten, keinen Versuch, anzugreifen. Das ist nicht verwunderlich. Diese Streitkräfte müssen ziemlich schwach gewesen sein; das Dekret Gambettas, das Herrn de Kératry mit der Organisation der Westarmee beauftragte, trägt das Datum vom 22. Oktober!

Es blieb die Loire-Armee, die am 7. November in Beaugency in Linie aufgestellt war. Erst am 9. aber greift d'Aurelle die Bayern bei Coulmiers an; sobald diese sahen, daß der Rückzug der 22. preußischen Division gesichert war, die ihnen in Richtung Chartres entgegenmarschierte, zogen sie sich auf Toury zurück, wo sich diese Division mit ihnen am folgenden Tage, am 10. November, vereinigte. D'Aurelle rührte sich nicht mehr. Inzwischen näherten sich drei Korps, 60 000 Mann, der Armee von Metz in Gewaltmärschen der Seine. Zwei weitere preußische Divisionen (die 3. und 4.), die von Metz mit der Eisenbahn befördert wurden, waren schon vor Paris eingetroffen. Moltke kam dadurch in die Lage, die 17. preußische Division nach Toury zu dirigieren, wo sie am 12. eintraf. Es standen also in Linie 4 deutsche Divisionen, etwa 35.000 Mann stark, der Loire-Armee gegenüber, die seitdem aufgehört hatte, sie zu beunruhigen.

|354| Indessen bewegten sich am 14. November beträchtliche französische Truppenmassen von Dreux auf das zwei Tagesmärsche von Versailles entfernte Houdan. Moltke, der in dieser Richtung vorerst nur über seine Kavallerie verfügte, war nicht imstande, genügend starke Erkundungstrupps auszuschicken, um zu rekognoszieren, was sich hinter dieser Avantgarde an Kräften befand. An diesem Tage war er erneut drauf und dran, Versailles zu verlassen und die Blockade aufzuheben (Blume).

Diesmal entschieden jedoch nicht mehr Tage, sondern Stunden. Das erste der Armeekorps von Metz (das IX.) kam am selben Tage in Fontainebleau an; das III. sollte zwischen dem 16. und 18. in Nemours sein und das X. am 19. in Joigny an der Yonne. Moltke dirigierte die 17. Division nach Rambouillet, die 22. nach Chartres, die Bayern nach Auneau, d.h. zwischen die Loire-Armee, der er den Weg nach Paris frei ließ, und die Truppen, die Versailles von der Westseite her bedrohten. Diesmal wurde d'Aurelle durch seine Inaktivität gerettet; wenn er in die vor ihm aufgetane Lücke vorgestoßen wäre, wäre er zwischen den beiden deutschen Kolonnen, die bereit waren, in seine Flanken zu fallen, zermalmt worden. Am 19. November besetzten die drei Korps der II. preußischen Armee Fontainebleau und Nemours, mit ihren Reserven an der Yonne, am 20. November wurde die I. Armee unter Manteuffel auf der Linie der Oise von Compiègne bis Noyon vereinigt; die Armee von Metz beschützte vom Norden und vom Süden her die Blockade von Paris, die letzte Chance, sie zu brechen, war versäumt worden, dank Trochu, Gambetta, d'Aurelle, deren gegenseitige Fehler sich, man könnte fast sagen, mit der so vielgerühmten Präzision der preußischen Bataillone, ergänzten.


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