MLWerke Marx/Engels - Werke

Seitenzahlen verweisen auf:    Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 19, 4. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 474-518.
Korrektur:    1
Erstellt:    18.07.1999

Friedrich Engels

Fränkische Zeit

Die Umwälzung der Grundbesitzverhältnisse unter Merowingern und Karolingern
Gau- und Heeresverfassung
Anmerkung: Der fränkische Dialekt


Die Umwälzung der Grundbesitzverhältnisse unter Merowingern und Karolingern

|474| Die Markverfassung blieb bis ans Ende des Mittelalters die Grundlage fast des gesamten Lebens der deutschen Nation. Nach anderthalbtausendjährigem Bestehn ging sie endlich allmählich zugrund auf rein ökonomischem Wege. Sie erlag vor den wirtschaftlichen Fortschritten, denen sie nicht länger entsprach. Wir werden ihren Verfall und schließlichen Untergang später zu untersuchen haben; wir werden finden, daß Reste von ihr noch heute fortbestehn.

Wenn sie aber so lange sich erhielt, so geschah dies auf Kosten ihrer politischen Bedeutung. Sie war jahrhundertelang die Form gewesen, in der die Freiheit der germanischen Stämme sich verkörpert hatte. Sie wurde jetzt die Grundlage tausendjähriger Volksknechtschaft. Wie war dies möglich?

Die älteste Genossenschaft, sahen wir, umfaßte das ganze Volk. Ihm gehörte ursprünglich alles in Besitz genommene Land. Später wurde die, unter sich näher verwandte, Gesamtheit der Bewohner eines Gaus Besitzer des von ihnen besiedelten Gebiets, und dem Volk als solchem blieb nur das Verfügungsrecht über die noch übrigen herrenlosen Striche. Die Gaubewohnerschaft trat wieder an die einzelnen Dorfgenossenschaften - ebenfalls aus näheren Geschlechtsverwandten gebildet - ihre Feld- und Waldmarken ab, wobei dann wieder das überschüssige Land dem Gau verblieb. Ebenso die Stammdörfer bei der Aussendung neuer, aus der alten Mark des Urdorfs mit Land ausgestatteter Dorfkolonien.

Der Blutsverband, auf dem hier wie überall die ganze Volksverfassung beruhte, kam mit der Vermehrung der Volkszahl und der Weiterentwicklung des Volks mehr und mehr in Vergessenheit.

Dies war der Fall zuerst mit Bezug auf die Gesamtheit des Volks. Die gemeinsame Abstammung wurde immer weniger als wirkliche Blutsverwandtschaft empfunden; die Erinnerung daran wurde immer schwächer, |475| es blieb nur noch die gemeinsame Geschichte und Mundart. Dagegen erhielt sich das Bewußtsein des Blutsverbandes der Gaubewohner, wie natürlich, länger. Das Volk reduzierte sich damit auf eine mehr oder minder feste Konföderation von Gauen. In diesem Zustand scheinen die Deutschen zur Zeit der Völkerwanderung gewesen zu sein. Von den Alamannen erzählt dies Ammianus Marcellinus ausdrücklich; in den Volksrechten blickt es noch überall durch; bei den Sachsen bestand diese Entwicklungsstufe noch zur Zeit Karls des Großen, bei den Friesen bis zum Untergang der friesischen Freiheit.

Aber die Wanderung auf römischen Boden brach auch den Blutsverband des Gaues und mußte ihn brechen. Lag auch die Ansiedlung nach Stämmen und Geschlechtern in der Absicht, so war sie doch nicht durchzuführen. Die langen Züge hatten nicht nur Stämme und Geschlechter, sie hatten selbst ganze Völker durcheinandergeworfen. Nur mühsam ließ sich noch der Blutsverband der einzelnen Dorfgenossenschaften zusammenhalten; und diese waren damit die wirklichen politischen Einheiten geworden, aus denen das Volk sich zusammensetzte. Die neuen Gaue auf römischem Gebiet waren schon von vornherein mehr oder weniger willkürliche - oder durch vorgefundne Verhältnisse bedingte - Gerichtsbezirke oder wurden es doch sehr bald.

Damit war das Volk aufgelöst in einen Verband kleiner Dorfgenossenschaften, unter denen kein oder doch fast kein ökonomischer Zusammenhang bestand, da ja jede Mark sich selbst genügte, ihre eignen Bedürfnisse selbst produzierte und außerdem die Produkte der einzelnen benachbarten Marken fast genau dieselben waren. Austausch zwischen ihnen war also ziemlich unmöglich. Und eine solche Zusammensetzung des Volks aus lauter kleinen Genossenschaften, die zwar gleiche, aber ebendeshalb keine gemeinsamen ökonomischen Interessen haben, macht eine nicht aus ihnen hervorgegangene, ihnen fremd gegenüberstehende, sie mehr und mehr ausbeutende Staatsgewalt zur Bedingung der Fortexistenz der Nation.

Die Form dieser Staatsgewalt ist wieder bedingt durch die Form, in der sich die Genossenschaften zur Zeit befinden. Da, wo - wie bei den arischen Völkern Asiens und bei den Russen - sie entsteht zu einer Zeit, wo die Gemeinde den Acker noch für Gesamtrechnung bestellt oder doch den einzelnen Familien nur auf Zeit zuweist, wo also noch kein Privateigentum am Boden sich gebildet hat, tritt die Staatsgewalt als Despotismus auf. In den von den Deutschen eroberten römischen Ländern finden wir dagegen, wie wir sahen, die einzelnen Anteile an Acker und Wiese bereits als Allod, als freies, nur den gemeinen Markverpflichtungen unterworfenes Eigentum |476| der Besitzer. Wir haben nun zu untersuchen, wie auf Grundlage dieses Allods eine Gesellschafts- und Staatsverfassung entstand, die - mit der gewöhnlichen Ironie der Geschichte - schließlich den Staat auflöste und in ihrer klassischen Form alles Allod vernichtete.

Mit dem Allod war nicht nur die Möglichkeit, sondern die Notwendigkeit gegeben, daß die ursprüngliche Gleichheit des Grundbesitzes sich in ihr Gegenteil verkehrte. Von dem Augenblick seiner Herstellung auf ehemals römischem Boden wurde das deutsche Allod, was das römische Grundeigentum, das neben ihm lag, schon lange gewesen war - Ware. Und es ist ein unerbittliches Gesetz aller auf Warenproduktion und Warenaustausch beruhenden Gesellschaften, daß in ihnen die Verteilung des Besitzes immer ungleicher, der Gegensatz von Reichtum und Armut immer größer, der Besitz immer mehr in wenigen Händen konzentriert wird; ein Gesetz, das in der modernen kapitalistischen Produktion zwar seine volle Entwicklung erhält, aber keineswegs erst in ihr überhaupt zur Wirkung kommt. Von dem Augenblick also, wo Allod, frei veräußerliches Grundeigentum, Grundeigentum als Ware entstand, von dem Augenblick war also die Entstehung des großen Grundeigentums nur eine Frage der Zeit.

In der Epoche aber, mit der wir uns beschäftigen, waren Ackerbau und Viehzucht die entscheidenden Produktionszweige. Der Grundbesitz und seine Produkte machten bei weitem den größten Teil des damaligen Reichtums aus. Was sonst von beweglichen Reichtümern existierte, folgte der Natur der Sache nach dem Grundbesitz, fand sich mehr und mehr in denselben Händen zusammen wie dieser. Industrie und Handel waren schon unter dem römischen Verfall heruntergebracht, die deutsche Invasion vernichtete sie fast vollständig. Was davon noch blieb, wurde meist von Unfreien und Fremden betrieben und blieb verachtete Beschäftigung. Die herrschende Klasse, die hier, bei aufkommender Ungleichheit des Besitzes, sich allmählich bildete, konnte nur eine Klasse großer Grundbesitzer sein, ihre politische Herrschaftsform die einer Aristokratie. Wenn wir also sehn werden, wie bei der Entstehung und Ausbildung dieser Klasse vielfach, ja scheinbar vorwiegend, politische Hebel, Gewalt und Betrug wirksam sind, so dürfen wir darüber nicht vergessen, daß diese politischen Hebel nur dienen zur Beförderung und Beschleunigung eines notwendigen ökonomischen Vorgangs. Wir werden freilich ebenso häufig sehn, wie diese politischen Hebel die ökonomische Entwicklung hemmen; dies geschieht oft genug und jedesmal da, wo die verschiednen Beteiligten sie in entgegengesetzten oder einander durchkreuzenden Richtungen ansetzen.

Wie entstand nun diese Klasse großer Grundbesitzer?

|477| Fürs erste wissen wir, daß sich auch nach der fränkischen Eroberung in Gallien eine Menge römischer Großgrundbesitzer forterhielten, die ihre Güter meist durch freie oder hörige Hintersassen gegen Zins (Canon) bebauen ließen.

Dann aber haben wir gesehn, wie das Königtum durch die Eroberungskriege bei allen ausgezogenen Deutschen eine ständige Einrichtung und wirkliche Macht geworden, wie es das alte Volksland in königliche Domäne verwandelt und ebenso die römischen Staatsländereien seinem Besitz einverleibt hatte. Während der vielen Bürgerkriege, die aus den Teilungen des Reichs entsprangen, vermehrte sich dies Krongut noch fortwährend durch massenhafte Einziehungen der Güter sogenannter Rebellen. Aber so rasch es wuchs, so rasch wurde es verschleudert in Schenkungen an die Kirche wie an Privatleute, Franken und Romanen, Gefolgsleute (Antrustionen) oder sonstige Günstlinge des Königs. Als während und durch die Bürgerkriege sich bereits die Anfänge einer herrschenden Klasse von Großen und Mächtigen, Grundbesitzern, Beamten und Heerführern gebildet, wurde auch ihr Beistand von den Teilfürsten durch Landschenkungen erkauft. Daß dies alles in weitaus den meisten Fällen wirkliche Schenkungen, Übertragungen zu freiem, erblichem und veräußerlichem Eigentum waren, bis mit Karl Martell hierin eine Änderung eintrat, hat Roth unwiderleglich bewiesen (1).

Als Karl das Staatsruder ergriff, war die Macht der Könige vollständig gebrochen, aber die der Hausmeier darum noch lange nicht an ihre Stelle gesetzt. Die unter den Merowingern auf Kosten der Krone geschaffene Klasse von Großen begünstigte auf jede Weise den Ruin der königlichen Gewalt, aber keineswegs, um sich den Hausmeiern, ihren Standesgenossen, zu unterwerfen. Im Gegenteil, ganz Gallien war in der Hand, wie Einhard sagt. dieser "Tyrannen, die überall die Herrschaft in Anspruch nahmen" (tyrannos per totam Galliam dominatum sibi vindicantes). Neben den weltlichen Großen geschah dies auch von den Bischöfen, die in vielen Gegenden sich die Herrschaft über umliegende Grafschaften und Herzogtümer angeeignet hatten und durch Immunität wie durch feste Organisation der Kirche geschützt wurden. Dem innern Zerfall des Reichs folgten Einfälle des äußern Feindes; die Sachsen drangen in das rheinische Franken, die Avaren nach Bayern, die Araber über die Pyrenäen nach Aquitanien. In solcher Lage konnte einfache Niederwerfung der inneren, Vertreibung der |478| äußern Feinde nicht auf die Dauer helfen; es mußte ein Weg gefunden werden, die gedemütigten Großen oder die von Karl an ihre Stelle gesetzten Nachfolger fester an die Krone zu binden. Und da ihre bisherige Macht auf dem Großgrundbesitz beruht hatte, war erste Bedingung hierzu eine totale Umwälzung der Grundbesitzverhältnisse. Diese Umwälzung ist das Hauptwerk der karolingischen Dynastie. Sie zeichnet sich wieder dadurch aus, daß das Mittel, gewählt, das Reich zu einigen, die Großen auf immer an die Krone zu binden und diese dadurch zu stärken, schließlich bewirkt die vollständigste Machtlosigkeit der Krone, die Unabhängigkeit der Großen und den Zerfall des Reichs.

Um zu verstehn, wie Karl dazu kam, dies Mittel zu wählen, müssen wir vorher die Besitzverhältnisse der Kirche zu jener Zeit untersuchen, die ohnehin als wesentliches Element der damaligen Agrarverhältnisse hier nicht zu übergehn sind.

Schon zur Römerzeit hatte die Kirche in Gallien nicht unbedeutenden Grundbesitz, dessen Erträge durch große Privilegien in Beziehung auf Steuern und andre Leistungen noch gesteigert wurden. Nach der Bekehrung der Franken zum Christentum jedoch brach erst die goldene Zeit für die gallische Kirche an. Die Könige wetteiferten unter sich, wer der Kirche die meisten Schenkungen an Land, Geld, Kleinodien, Kirchengerät etc. machen würde. Schon Chilperich pflegte (Gregor von Tours) zu sagen:

"Seht, wie arm unser Fiskus geworden, seht, wie alle unsere Reichtümer der Kirche überwiesen sind."

Unter Guntram, dem Liebling und Knecht der Pfaffen, hatten die Schenkungen keine Grenzen mehr. So floß dann der eingezogne Grundbesitz freier Franken, die der Rebellion bezichtigt, großenteils in den Besitz der Kirche.

Wie die Könige, so das Volk. Kleine wie Große konnten der Kirche nicht genug schenken.

"Eine wunderbare Heilung von einem wirklichen oder vermeinten Übel, die Erfüllung eines sehnlichen Wunsches, z.B. die Geburt eines Sohnes, die Rettung aus einer Gefahr, trug der Kirche, deren Heiliger sich hülfreich gezeigt hatte, eine Schenkung ein. Es wurde für um so notwendiger erachtet, die Hand immer offenzuhalten, als bei Hohen und Niederen die Meinung verbreitet war, daß Schenkungen an die Kirche Vergebung der Sünden bewirkten." (Roth, S. 250.)

Dazu kam die Immunität, die das Eigentum der Kirche vor Vergewaltigung schützte zu einer Zeit unaufhörlicher Bürgerkriege, Plünderungen, Konfiskationen. Mancher kleine Mann fand es angebracht, sein Eigentum der Kirche abzutreten, wenn ihm dessen Nießbrauch gegen mäßigen Zins verblieb.

|479| Alles das indes genügte den frommen Pfaffen noch nicht. Durch Drohungen mit ewiger Höllenstrafe erpreßten sie förmlich immer ausgedehntere Schenkungen, so daß Karl der Große noch 811 im Aachener Kapitular ihnen dies vorwirft und außerdem, daß sie die Leute

"zu Meineid und falschem Zeugnis verführen, um euren Reichtum (der Bischöfe und Äbte) zu mehren".

Ungesetzliche Schenkungen wurden erschlichen im Vertrauen darauf, daß die Kirche, außer ihrem privilegierten Gerichtsstand, noch Mittel genug besitze, der Justiz eine Nase zu drehn. Es verging im 6. und 7. Jahrhundert kaum ein gallisches Konzil, das nicht alle und jede Anfechtung von Schenkungen an die Kirche mit Kirchenbann bedrohte. Selbst formell ungültige Schenkungen sollten auf diesem Wege in gültige verwandelt, die Privatschulden einzelner Geistlichen vor Eintreibung geschützt werden.

"Wirklich verächtlich sind die Mittel, die wir anwenden sehn, um die Lust zu Schenkungen immer von neuem zu erwecken. Zogen die Schilderungen der himmlischen Seligkeiten und höllischen Qualen nicht mehr, so ließ man aus entfernten Gegenden Reliquien kommen, hielt Translationes und baute neue Kirchen; es war dies im 9. Jahrhundert ein förmlicher Geschäftszweig." (Roth, S. 254.) "Als die Abgesandten des Klosters St. Medard von Soissons in Rom mit großer Mühe den Körper des Heiligen Sebastian erbettelt und den des Gregorius dazu gestohlen hatten und beide nun in dem Kloster niedergelegt waren, liefen so viele Leute zu den neuen Heiligen, daß die Gegend wie mit Heuschrecken besät war und die Hülfesuchenden nicht einzeln, sondern in ganzen Herden geheilt wurden. Die Folge war, daß die Mönche das Geld in Scheffeln maßen, deren sie 85 zählten, und daß sich ihr Vorrat an Gold auf 900 Pfund belief." (S. 255.)

Betrug, Taschenspielerstücke, Erscheinungen Verstorbener, besonders Heiliger, dienten zur Erschwindelung von Reichtümern für die Kirche, endlich aber auch und hauptsächlich - Urkundenfälschung. Diese wurde - wir lassen wieder Roth sprechen -

"von vielen Geistlichen in großartigem Maßstab betrieben ... es begann dies Geschäft schon sehr früh ... In welcher Ausdehnung dies Gewerbe betrieben wurde, ergibt sich aus der großen Zahl gefälschter Dokumente, welche unsre Sammlungen enthalten. Unter den 360 merowingischen Diplomen bei Bréquigny sind ungefähr 130 entschieden falsch ... Das falsche Testament des Remigius wurde schon von Hinkmar von Reims dazu angewandt, seiner Kirche eine Reihe von Besitzungen zu verschaffen, von denen das echte nichts sagt, obwohl das letztere nie verloren war und Hinkmar die Unechtheit des ersteren recht gut kannte." Selbst Papst Johann VIII. suchte "den Besitz des Klosters St. Denis bei Paris durch eine ihm als falsch bekannte Urkunde zu erwerben". (Roth, S. 256 ff.)

|480| So kann es uns nicht wundern, wenn der durch Schenkung, Erpressung, Erschleichung, Prellerei, Fälschung und andre Zuchthausindustrien zusammengeraffte Grundbesitz der Kirche in wenigen Jahrhunderten ganz kolossale Verhältnisse annahm. Das Kloster Saint-Germain-des-Prés, jetzt im Umfang von Paris, hatte zu Anrang des 9. Jahrhunderts einen Grundbesitz von 8.000 Mansi oder Hufen, deren Flächeninhalt Guérard auf 429.987 Hektar mit einem Jahresertrag von 1 Mill. frs. = 800.000 Mark berechnet. Legen wir denselben Durchschnitt von 54 Hektar Fläche und 125 frs. = 100 Mark Einkommen für die Hufe zugrunde, so hatten um dieselbe Zeit die Klöster St. Denis, Luxeuil, St. Martin von Tours jedes bei 15.000 Mansi einen Grundbesitz von 810.000 Hektar und ein Einkommen von 11/2 Mill. Mark. Und dies war nach der Konfiskation des Kirchenguts durch Pippin den Kleinen! Das gesamte Kirchengut in Gallien zu Ende des 7. Jahrhunderts schätzt Roth (S. 249) eher über, als unter ein Drittel der Gesamtfläche.

Diese ungeheuren Gütermassen wurden bebaut teils von unfreien, teils aber auch von freien Hintersassen der Kirche. Von den Unfreien waren die Sklaven (servi) ursprünglich ungemessenen Leistungen an ihre Herrn unterworfen, da sie keine Rechtspersonen waren; es scheint aber auch hier für ansässige Sklaven bald ein gewohnheitsmäßiges Maß von Abgaben und Diensten hergestellt. Die Leistungen der übrigen beiden unfreien Klassen, der Kolonen und Liten (über deren rechtlichen Unterschied zu jener Zeit keine Nachricht vorliegt), waren, dagegen festgesetzt und bestanden in gewissen Hand- und Spanndiensten sowie in einem bestimmten Teil des Gutsertrags. Es waren dies Abhängigkeitsverhältnisse längst hergebrachter Art. Dagegen war es für Deutsche etwas Neues, daß freie Männer auf anderm als gemeinem oder ihrem eignen Boden saßen. Freilich fanden die Deutschen in Gallien und überhaupt im Gebiet des römischen Rechts oft genug freie Römer als Pächter; daß sie aber selbst nicht Pächter zu werden brauchten, sondern auf eignem Land sitzen konnten, dafür war bei der Landnahme gesorgt. Ehe also freie Franken Hintersassen irgend jemandes werden konnten, mußten sie ihr bei der Landnahme erhaltenes Allod auf irgendeine Weise verloren, mußte sich eine eigne Klasse landloser freier Franken gebildet haben.

Diese Klasse bildete sich durch die beginnende Konzentration des Grundbesitzes, durch dieselben Ursachen, aus denen diese hervorging; einerseits durch die Bürgerkriege und Konfiskationen, andrerseits durch die großenteils dem Drang der Zeitumstände, dem Verlangen nach Sicherheit geschuldeten Übertragungen von Land an die Kirche. Und die Kirche fand |481| bald noch ein besonderes Mittel, solche Übertragungen zu befördern, indem sie dem Schenker nicht nur sein Gut zu Nießbrauch gegen Zins ließ, sondern ihm auch noch ein Stück Kirchengut dazu in Zins gab. Diese Schenkungen geschahen nämlich in doppelter Form. Entweder behielt der Schenker sich den Nießbrauch des Guts auf Lebenszeit vor, so daß es erst nach seinem Tode ins Eigentum der Kirche überging (donatio post obitum); in diesem Fall war es üblich und wurde später in den Kapitularien der Könige ausdrücklich festgesetzt, daß der Schenker von der Kirche das Doppelte des geschenkten Guts zu Zins verliehen erhalte. Oder die Schenkung wurde gleich wirksam (cessio a die praesente), und dann erhielt der Schenker das Dreifache an Kirchengut nebst seinem eignen Gut zu Zins vermittelst einer sog. Prekaria, eines von der Kirche ausgestellten Dokuments, das ihm diese Grundstücke, meist auf Lebenszeit, manchmal aber auch auf längere oder kürzere Zeit, übertrug. Die Klasse landloser Freien einmal geschaffen, traten auch manche von diesen in ein solches Verhältnis; die ihnen bewilligten Prekarien scheinen anfangs meist auf 5 Jahre ausgestellt gewesen zu sein, wurden aber auch hier bald lebenslänglich.

Es ist wohl nicht zu bezweifeln, daß schon zur Merowingerzeit sich auf den Gütern der weltlichen Großen ganz ähnliche Verhältnisse herausbildeten wie auf dem Kirchengut, daß also auch dort neben unfreien freie Hintersassen zu Zins angesiedelt waren. Sie müssen sogar unter Karl Martell schon sehr zahlreich gewesen sein, weil sonst die durch ihn begonnene, von seinem Sohn und Enkel vollendete Umwälzung der Grundbesitzverhältnisse wenigstens nach einer Seite hin unerklärlich blieb.

Diese Umwälzung beruht in ihrer Grundlage auf zwei neuen Einrichtungen. Erstens wurde, um die Großen des Reichs an die Krone zu fesseln, von nun an das Krongut ihnen in der Regel nicht mehr geschenkt, sondern nur noch lebenslänglich, als "beneficium", verliehen, und dies unter bestimmten, bei Strafe der Einziehung einzuhaltenden Bedingungen. Sie wurden auf diese Weise selbst Hintersassen der Krone. Und zweitens, um die Gestellung der freien Hintersassen der Großen zum Kriegsdienst zu sichern, wurde diesen ein Teil der Amtsbefugnisse des Gaugrafen über die auf ihren Gütern angesiedelten Freien übertragen, sie zu "Senioren" über diese ernannt. Von diesen beiden Änderungen haben wir hier vorläufig nur die erste zu betrachten.

Bei der Unterwerfung der rebellischen kleinen "Tyrannen" wird Karl - die Nachrichten fehlen - nach alter Sitte ihren Grundbesitz eingezogen, ihnen aber, soweit er sie nachher in Amt und Würden wieder einsetzte, denselben ganz oder teilweise als Benefizium neu verliehen haben. Mit dem |482| Kirchengut der widerspenstigen Bischöfe wagte er noch nicht so zu verfahren; er entsetzte sie und gab ihre Stellen an ihm ergebne Leute, von denen freilich mancher vom Geistlichen nichts als die Tonsur hatte (sola tonsura clericus). Diese neuen Bischöfe und Äbte fingen jetzt an, auf sein Geheiß große Striche des Kirchenguts an Laien zu Prekarien zu übertragen; das war schon früher nicht ohne Beispiel, geschah aber jetzt massenhaft. Sein Sohn Pippin ging bedeutend weiter. Die Kirche war verfallen, die Geistlichkeit verachtet, der Papst von den Langobarden bedrängt, allein auf die Hülfe Pippins angewiesen. Dieser half dem Papst, begünstigte die Ausdehnung seiner kirchlichen Herrschaft, hielt ihm den Steigbügel. Aber er machte sich bezahlt, indem er den weitaus größten Teil des Kirchenguts dem Krongut einverleibte und den Bischöfen und Klöstern nur das zu ihrem Unterhalt Nötige ließ. Diese erste Säkularisation auf großem Maßstab ließ sich die Kirche widerstandslos gefallen, die Synode von Lestines bestätigte sie, zwar mit beschränkender Klausel, die indes nie eingehalten wurde. Diese gewaltige Gütermasse stellte das erschöpfte Krongut wieder auf einen respektablen Fuß und diente großenteils zu weiteren Verleihungen, die tatsächlich bald die Form gewöhnlicher Benefizien annahmen.

Fügen wir hier ein, daß die Kirche sich recht bald von diesem Schlag zu erholen wußte. Kaum war die Auseinandersetzung mit Pippin erfolgt, so begannen die braven Männer Gottes die alten Praktiken wieder. Die Schenkungen regneten wieder von allen Seiten, die kleinen freien Bauern waren fortwährend in derselben, schlimmen Lage zwischen Hammer und Amboß wie seit 200 Jahren; unter Karl dem Großen und seinen Nachfolgern ging es ihnen noch weit schlechter, und viele begaben sich mit Haus und Hof unter den Schutz des Krummstabs. Die Könige gaben bevorzugten Klöstern einen Teil des Raubs zurück, andern, besonders in Deutschland, schenkten sie enorme Striche Kronland; unter Ludwig dem Frommen schienen die gesegneten Zeiten Guntrams für die Kirche wiedergekehrt. Die Archive der Klöster sind besonders reich an Schenkungen aus dem neunten Jahrhundert.

Das Benefizium, diese neue Institution, die wir jetzt näher zu untersuchen haben, war noch nicht das spätere Lehen, wohl aber sein Keim. Es war von vornherein übertragen für die gemeinsame Lebenszeit sowohl des Verleihers wie des Empfängers. Starb der eine oder der andre, so fiel es dem Eigentümer oder dessen Erben wieder zu. Zur Erneuerung des bisherigen Verhältnisses mußte eine neue Übertragung an den Empfänger oder dessen Erben stattfinden. Das Benefizium war also, in der späteren Ausdrucksweise, dem Thronfall wie dem Heimfall unterworfen. Der Thronfall kam bald |483| außer Anwendung; die großen Benefiziare wurden eben mächtiger als der König. Der Heimfall führte schon früh nicht selten die Weiterverleihung des Guts an den Erben des vorigen Benefiziars mit sich. Ein Gut Patriciacum (Percy) bei Autun, von Karl Martell dem Hildebrannus als Benefiz verliehen, blieb in der Familie von Vater auf Sohn durch vier Generationen, bis der König es 839 dem Bruder des vierten Benefiziars als volles Eigentum schenkt. Andre Beispiele sind seit Mitte des 8. Jahrhunderts nicht selten.

Das Benefizium konnte vom Verleiher eingezogen werden in allen Fällen, wo überhaupt Vermögenskonfiskation verwirkt war. Und diese Fälle gab es auch unter den Karolingern genug und übergenug. Die Aufstände in Alamannien unter Pippin dem Kleinen, die Verschwörung der Thüringer, die wiederholten Aufstände der Sachsen führten zu immer neuen Einziehungen, sei es von freiem Bauernland, sei es von Gütern und Benefizien der Großen. Dasselbe war der Fall, allen entgegenstehenden Vertragsbestimmungen zum Trotz, während der innern Kriege unter Ludwig dem Frommen und seinen Söhnen. Auch gewisse nichtpolitische Verbrechen zogen Konfiskationen nach sich.

Ferner konnten die Benefizien von der Krone eingezogen werden, wenn der Benefiziar seine allgemeinen Untertanenpflichten vernachlässigte, z.B. den Räuber aus der Immunität nicht ausliefert, seinen Harnisch nicht zum Feldzug bringt, königliche Briefe nicht respektiert etc.

Dann aber waren die Benefizien übertragen unter besonderen Bedingungen, deren Bruch die Einziehung nach sich zog, von der dann selbstredend das übrige Vermögen des Benefiziars nicht betroffen wurde. So z.B., wenn ehemalige Kirchengüter verliehen waren und der Benefiziar vernachlässigte, die darauf haftenden Abgaben an die Kirche (nonae et decimae) zu entrichten. So, wenn er das Gut verkommen ließ, in welchem Fall gewöhnlich erst ein einjähriger Warnungstermin gesetzt wurde, damit der Benefiziar sich durch Aufbesserung vor der sonst eintretenden Konfiskation schützen könne etc. Ferner konnte auch die Übertragung des Guts an bestimmte Dienstverrichtungen geknüpft sein und wurde es in der Tat mehr und mehr in dem Maß, als sich das Benefizium zum eigentlichen Lehen fortentwickelte. Aber ursprünglich war dies durchaus nicht nötig; am wenigsten, was Kriegsdienst betrifft; eine Menge Benefizien wurde an niedre Geistliche, an Mönche, an geistliche und weltliche Frauen verliehn.

Endlich ist keineswegs ausgeschlossen, daß die Krone anfangs auch Ländereien auf Widerruf oder auf bestimmte Zeit, also als Prekarien, verliehen habe. Einzelne Nachrichten und der Vorgang der Kirche machen es |484| wahrscheinlich. Doch hörte dies jedenfalls bald auf, da die Verleihung auf Benefiziar Bedingungen im 9. Jahrhundert die allgemeine wurde.

Die Kirche nämlich - und von den großen Grundbesitzern und Benefiziaren müssen wir dasselbe annehmen - die Kirche, die früher ihren freien Hintersassen Güter meist nur als Prekarien auf Zeit übertragen hatte, mußte dem von der Krone gegebnen Impuls folgen. Nicht nur fing sie an, auch Benefizien zu verleihen, diese Verleihungsweise wurde sogar so vorherrschend, daß die schon bestehenden Prekarien lebenslänglich werden, unmerklich die Natur des Benefiziums annehmen, bis im 9. Jahrhundert die erstere fast ganz in das letztere aufgeht. In der letzten Hälfte des 9. Jahrhunderts müssen die Benefiziare der Kirche und ebenso die der weltlichen Großen schon eine wichtige Stellung im Staat angenommen haben; manche davon müssen Leute von bedeutendem Besitz, Gründer des späteren niederen Adels gewesen sein. Sonst hätte sich Karl der Kahle wohl nicht so lebhaft derer angenommen, denen Hinkmar von Laon ihre Benefizien ohne Grund genommen hatte.

Wir sehn, das Benefizium hat schon manche Seiten, die sich im entwickelten Lehen wiederfinden. Beiden ist gemeinsam Thronfall wie Heimfall. Wie das Lehen ist das Benefizium nur unter bestimmten Bedingungen der Einziehung unterworfen. In der durch die Benefizien geschaffenen gesellschaftlichen Hierarchie, die von der Krone durch die großen Benefiziare -Vorgänger der Reichsfürsten - zu den mittleren Benefiziaren - dem späteren Adel - und von diesen zu freien und unfreien, weitaus größten Teils im Markverband lebenden Bauern hinabsteigt, sehn wir die Grundlage der späteren geschlossenen Feudalhierarchie. Wenn das spätere Lehnsgut unter allen Umständen ein Dienstgut ist und zum Kriegsdienst für den Lehnsherrn verpflichtet, so ist letzteres zwar beim Benefizium noch nicht der Fall und ersteres durchaus nicht notwendig. Aber die Tendenz des Benefiziums, Dienstgut zu werden, ist bereits unverkennbar vorhanden und erhält im 9. Jahrhundert mehr und mehr Spielraum; und in demselben Maß, wie sie sich frei entfaltet, entwickelt sich auch das Benefizium zum Lehen.

Bei dieser Entwicklung wirkt aber noch ein zweiter Hebel mit: die Veränderung, die Gau- und Heeresverfassung erst unter dem Einfluß des großen Grundeigentums erfuhr und später unter dem der großen Benefizien, in die das frühere große Grundeigentum sich mehr und mehr verwandelt hatte infolge der unaufhörlichen inneren Kriege und der damit verknüpften Konfiskationen und Wiederverleihungen.

Es ist begreiflich, daß in diesem Kapitel die Rede ist nur von dem Benefizium in seiner reinen, klassischen Gestalt, in der es allerdings nur |485| eine verschwindende, nicht einmal überall gleichzeitig auftretende Form war. Aber solche historische Erscheinungsformen ökonomischer Verhältnisse versteht man nur, wenn man sie in dieser ihrer Reinheit erfaßt, und diese klassische Gestalt des Benefiziums aus all den wirren Anhängseln herausgeschält zu haben, ist eins der Hauptverdienste von Roth.

Gau- und Heerverfassung

Die soeben dargestellte Umwälzung im Stand des Grundbesitzes konnte nicht ohne Einfluß bleiben auf die alte Verfassung. Sie rief in dieser ebenso bedeutende Veränderungen hervor, und diese wirkten ihrerseits zurück auf die Grundbesitzverhältnisse. Wir lassen zunächst die Umbildung der allgemeinen Staatsverfassung beiseite und beschränken uns hier auf den Einfluß der neuen ökonomischen Lage auf die noch fortbestehenden Reste der alten Volksverfassung in Gau und Heer.

Unter den Merowingern schon finden wir Grafen und Herzöge häufig als Verwalter von Krongut. Erst im 9. Jahrhundert jedoch finden wir unzweifelhaft gewisse Krongüter mit dem Grafenamt derart verbunden, daß der zeitweilige Graf ihr Einkommen bezog. Das frühere Ehrenamt war in ein durch Fundierung besoldetes übergegangen. Daneben finden wir auch, was sich unter den damaligen Verhältnissen von selbst versteht, die Grafen im Besitz königlicher, ihnen persönlich überwiesener Benefizien. So wurde der Graf ein mächtiger Grundherr innerhalb seiner Grafschaft.

Zunächst ist klar, daß die Autorität des Grafen leiden mußte durch das Aufkommen großer Grundbesitzer unter und neben ihm; Leute, die unter den Merowingern und ersten Karolingern oft genug dem Befehle des Königs spotteten, mußten dem Gebot des Grafen noch weniger Respekt erweisen. Ihre freien Hintersassen, im Vertrauen auf den Schutz mächtiger Grundherren, vernachlässigten ebenso häufig, der Vorladung des Grafen vor Gericht nachzukommen oder seinem Aufgebot zum Heer. Es war dies grade eine der Ursachen, die die Einführung der Verleihung zu Benefizium statt zu Allod herbeiführte und die spätere allmähliche Umwandlung des meisten, ehemals freien großen Grundbesitzes in Benefizium.

Damit allein war die Herbeiziehung der auf den Gütern der Großen ansässigen Freien zu den Staatsleistungen noch nicht gesichert. Eine weitere Änderung mußte erfolgen. Der König sah sich genötigt, die Großgrundbesitzer für das Erscheinen ihrer freien Hintersassen zu Gericht, im Heer und bei sonstigen herkömmlichen Staatsdiensten verantwortlich zu machen, |486| in derselben Art wie bisher der Graf für alle freien Einwohner seiner Grafschaft gehaftet hatte. Und dies konnte nur dadurch geschehn, daß der König den Großen einen Teil der gräflichen Amtsbefugnisse über ihre Hintersassen übertrug. Der Grundherr oder Benefiziar mußte seine Leute vor Gericht stellen; sie mußten also durch seine Vermittlung vorgeladen werden. Er mußte sie dem Heer zuführen; durch ihn mußte also ihr Aufgebot erfolgen; er mußte, um fortwährend für sie haften zu können, die Führung und das Recht der Kriegszucht über sie haben. Aber es war und blieb Königsdienst der Hintersassen; den Widerspenstigen strafte nicht der Gutsbesitzer, sondern der königliche Graf; dem königlichen Fiskus fiel die Strafe zu.

Auch diese Neuerung führt sich auf Karl Martell zurück. Wenigstens finden wir erst seit seiner Zeit die Sitte der großen kirchlichen Würdenträger, selbst ins Feld zu ziehn, die nach Roth nur daraus zu erklären ist, daß Karl die Bischöfe an der Spitze ihrer Hintersassen zum Heer stoßen ließ, um sich des Erscheinens der letzteren zu versichern. Unzweifelhaft geschah mit den weltlichen Großen und ihren Hintersassen dasselbe. Unter Karl dem Großen erscheint die neue Einrichtung schon fest gegründet und allgemein durchgeführt.

Hiermit war aber eine wesentliche Veränderung eingetreten auch in der politischen Stellung der freien Hintersassen. Sie, die früher ihrem Grundherrn rechtlich gleichstanden, wie sehr sie auch wirtschaftlich von ihm abhängen mochten, wurden jetzt auch rechtlich seine Untergebenen. Die ökonomische Unterwerfung erhielt politische Sanktion. Der Grundherr wird Senior, Seigneur, die Hintersassen werden seine homines; der "Herr" wird der Vorgesetzte des "Mannes". Die Rechtsgleichheit der Freien ist dahin, der unterste "Mann", dessen Vollfreiheit durch den Verlust des Erbguts schon starken Abbruch erlitten, rückt dem Unfreien wieder um eine Stufe näher. Um soviel mehr erhebt sich der neue "Herr" über das Niveau der alten Gemeinfreiheit. Die ökonomisch bereits hergestellte Grundlage der neuen Aristokratie wird vom Staat anerkannt, wird eins der regelrecht mitwirkenden Triebräder der Staatsmaschine.

Neben diesen aus freien Hintersassen bestehenden homines gab es aber noch eine andre Art. Dies waren die freiwillig in ein Dienst- oder Gefolgsverhältnis zu den Großen getretenen verarmten Freien. Die Merowinger hatten ihre Gefolgschaft in den Antrustionen, die Großen jener Zeit werden ebenfalls nicht ohne Gefolge geblieben sein. Unter den Karolingern werden die Gefolgsleute des Königs Vassi, Vasalli oder Gasindi genannt. Ausdrücke, die in den ältesten Volksrechten noch für einen Unfreien gebraucht werden, |487| jetzt aber bereits die Bedeutung eines in der Regel freien Gefolgsmanns angenommen haben. Dieselben Bezeichnungen gelten für die Gefolgsleute der Großen, die jetzt ganz allgemein vorkommen und ein immer zahlreicheres und wichtigeres Element in Gesellschaft und Staat werden.

Wie die Großen zu solchen Gefolgsleuten kamen, zeigen die alten Vertragsformeln. In einer solchen (Form[ulae] Sirmond[icae] 44) heißt es z.B.:

"Sintemal es männiglich bekannt, daß ich nichts habe, wovon ich mich nähren oder kleiden soll, so bitte ich von Eurer" (des Herrn) "Frömmigkeit, daß ich mich in Eure Schutzherrschaft" (mundoburdum - gleichsam Vormundschaft) "begeben und kommendieren möge, der Art, ... daß Ihr mir mit Nahrung und Kleidung auszuhelfen schuldig, je nachdem ich Euch dienen und solches verdienen werde; ich aber, solange ich lebe, Euch nach Art eines freien Mannes (ingenuili ordine) Dienst und Folge zu leisten schuldig sei; auch zu meinen Lebzeiten Eurer Gewalt und Schutzhoheit zu entziehen nicht die Macht, sondern mein Lebtag unter Eurer Gewalt und Schutz zu bleiben habe."

Diese Formel gibt vollständigen Aufschluß über die Entstehung und Natur des einfachen, aller fremden Beimischung entkleideten Gefolgsverhältnisses, und zwar um so mehr, weil sie den extremen Fall eines ganz heruntergekommnen armen Teufels darstellt. Der Eintritt in den Gefolgsverband des Seniors geschah infolge eines freien Übereinkommens beider Teile - frei im Sinn der römischen und modernen Jurisprudenz, oft genug ähnlich wie der Eintritt eines heutigen Arbeiters in den Dienst eines Fabrikanten. Der "Mann" kommendierte sich dem Herrn, und dieser nahm seine Kommendation an. Diese bestand im Handschlag und Eid der Treue. Das Übereinkommen war lebenslänglich und wurde nur durch den Tod eines von beiden Kontrahenten gelöst. Der Dienstmann war verpflichtet zu allen mit der Stellung eines Freien verträglichen Dienstleistungen, die ihm sein Herr auftragen mochte. Dafür wurde er von diesem unterhalten und je nach Ermessen belohnt. Eine Überweisung von Land war damit keineswegs notwendig verbunden und fand in der Tat auch durchaus nicht in allen Fällen statt.

Dies Verhältnis wurde unter den Karolingern, besonders seit Karl dem Großen, nicht nur toleriert, sondern direkt begünstigt und zuletzt, wie es scheint durch ein Kapitular von 847, allen Gemeinfreien zur Pflicht gemacht und staatlich geregelt. So durfte der Dienstmann das Verhältnis zu seinem Herrn nur dann einseitig lösen, wenn dieser ihn töten, mit einem Stock schlagen, seine Frau oder Tochter entehren oder sein Erbgut ihm nehmen wollte (Kapit[ular] von 813). Und zwar war der Dienstmann an den Herrn |488| gebunden, sobald er von diesem den Wert eines Solidus erhalten hatte; woraus nochmals klar hervorgeht, wie wenig damals das Vasallitätsverhältnis an Landverleihung notwendig geknüpft war. Dieselben Bestimmungen wiederholt ein Kapitular von 816 mit dem Zusatz, der Dienstmann sei entbunden, wenn sein Herr ihn unrechtmäßig in den Unfreienstand bringen wolle oder ihm den versprochnen Schutz zwar leisten könne, aber nicht leiste.

Gegenüber dem Staat bekam nun der Gefolgsherr dieselben Rechte und Pflichten mit Bezug auf seine Gefolgsleute wie der Grundherr oder Benefiziar mit Bezug auf seine Hintersassen. Sie blieben dem König dienstpflichtig, nur schob sich auch hier zwischen den König und dessen Grafen der Gefolgsherr. Er stellte die Vasallen vor Gericht, er bot sie auf, führte sie im Krieg an und hielt die Manneszucht unter ihnen aufrecht, er haftete für sie und ihre vorschriftsmäßige Ausrüstung. Dadurch bekam aber der Gefolgsherr eine gewisse Strafgewalt über seine Untergebnen, und diese bildet den Ausgangspunkt der später sich entwickelnden Gerichtsbarkeit des Lehnsherrn über seine Vasallen.

In diesen weiteren beiden Einrichtungen, in der Ausbildung des Gefolgschaftswesens und in der Übertragung gräflicher, also staatlicher, Amtsgewalt an den Grundherrn, Kron-, Benefiziar- und Gefolgsherrn über seine nun bald sämtlich als Vassi, Vasalli, Homines zusammengefaßten Untergebnen - Hintersassen wie landlose Gefolgsleute -, in dieser staatlichen Bestätigung, Verstärkung der faktischen Macht des Herrn über die Vasallen, sehen wir den in den Benefizien gegebnen Keim des Lehnwesens sich schon bedeutend weiter entwickeln. Die Hierarchie der Stände, vom König abwärts durch die großen Benefiziare zu deren freien Hintersassen und endlich den Unfreien herab, wird anerkanntes, in amtlicher Eigenschaft mitwirkendes Element der Staatsordnung. Der Staat erkennt an, daß er ohne ihre Hülfe nicht bestehn kann. Wie diese Hülfe tatsächlich geleistet wurde, wird sich freilich zeigen.

Die Unterscheidung von Gefolgsleuten und Hintersassen ist nur wichtig für den Anfang, um den doppelten Ursprung der Abhängigkeit der Freien nachzuweisen. Sehr bald fließen beide Arten von Vasallen, wie im Namen so auch in der Tat, untrennbar zusammen. Die großen Benefiziare nahmen mehr und mehr den Brauch an, sich dem König zu kommendieren, neben seinen Benefiziaren also seine Vasallen zu werden. Die Könige fanden es in ihrem Interesse, sich den Treueid der Großen, Bischöfe, Äbte, Grafen und Vasallen persönlich ableisten zu lassen ("Ann[ales] Bertin[iani]" 837 und öfter im 9. Jahrhundert), wobei dann der Unterschied zwischen dem |489| allgemeinen Untertaneneid und dem besondern Vasalleneid sich bald verwischen mußte. So verwandeln sich nach und nach sämtliche Große in königliche Vasallen. Hiermit aber war die langsam vor sich gegangne Entwicklung der großen Grundbesitzer zu einem besondren Stand, zu einer Aristokratie, vom Staat anerkannt, der Staatsordnung eingefügt, einer ihrer amtlich wirkenden Hebel geworden.

Ebenso geht der Gefolgsmann des einzelnen Großgrundbesitzers allmählich auf in den Hintersassen. Abgesehn von der direkten Verpflegung am Herrenhofe, die doch nur für eine geringe Anzahl von Köpfen stattfinden konnte, blieb kein andres Mittel, sich Gefolgsleute zu sichern, als indem man sie auf Grund und Boden ansetzte, ihnen Land zu Benefizium übertrug. Ein zahlreiches streitbares Gefolge, Hauptbedingung der Existenz der Großen in jener Zeit ewiger Kämpfe, war also nur durch Landverleihung an die Vasallen zu erlangen. Daher verschwinden allmählich die landlosen Dienstleute des Herrenhofs vor der Masse der auf Herrenland angesessenen.

Je mehr aber dies neue Element in die alte Verfassung sich einschob, desto mehr mußte diese erschüttert werden. Die alte, unmittelbare Übung der Staatsgewalt durch König und Grafen machte mehr und mehr Platz einer mittelbaren; zwischen die Gemeinfreien und den Staat trat der Senior, dem jene in immer größerem Maß persönlich zur Treue verbunden waren. Das wirksamste Triebstück der Staatsmaschine, der Graf, mußte mehr und mehr in den Hintergrund treten und tat es auch wirklich. Karl der Große verfuhr hier, wie er überall zu verfahren pflegte. Zuerst begünstigte er, wie wir sahen, das Überhandnehmen des Vasallenverhältnisses, bis die unabhängigen kleinen Freien fast verschwanden; als dann die hierdurch herbeigeführte Schwächung seiner Macht zutage trat, versuchte er ihr durch staatliches Eingreifen wieder auf die Beine zu helfen. Das mochte in manchen Fällen unter einem so energischen und gefürchteten Herrscher gelingen; unter seinen schwachen Nachfolgern brach die Macht der mit seiner Hülfe geschaffnen Tatsachen sich unaufhaltsam Bahn.

Das beliebte Mittel Karls war die Aussendung königlicher Sendboten (missi dominici) mit außerordentlicher Machtvollkommenheit. Wo der gewöhnliche königliche Beamte, der Graf, der einreißenden Unordnung nicht steuern konnte, da sollte ein Spezialgesandter dies tun. (Dies historisch weiter zu begründen und entwickeln.)

Nun gab es aber noch ein andres Mittel, und dies bestand darin, den Grafen in eine solche Stellung zu versetzen, daß er auch an materiellen Machtmitteln den Großen seiner Grafschaft mindestens gleichstand. Dies war nur möglich, wenn der Graf ebenfalls in die Reihe der großen Grund- |490| besitzer trat, was wieder auf zwei Wegen geschehen konnte. Gewisse Grundstücke konnten in den einzelnen Gauen dem Grafenamt als Dotation beigegeben werden, so daß der jeweilige Graf sie von Amts wegen verwaltete und ihre Einkünfte bezog. Hiervon finden sich viele Beispiele besonders in Urkunden, und zwar schon seit Ende des 8. Jahrhunderts; seit dem 9. ist dies Verhältnis ganz gewöhnlich. Solche Dotationen stammen selbstredend meist aus dem königlichen Fiskalgut, wie wir schon zur Merowingerzeit häufig Grafen und Herzöge als Verwalter der in ihrem Gebiet liegenden königlichen Fiskalgüter finden.

Merkwürdigerweise finden sich auch manche Beispiele (sogar ein Formular dafür), wo Bischöfe das Grafenamt aus dem Kirchengut dotieren, natürlich, bei der Unveräußerlichkeit des Kirchenguts, in irgendeiner Form des Benefiziums. Die Freigebigkeit der Kirche ist zu bekannt, um hierfür einen andern Grund zulässig zu halten als die bittere Not. Unter dem wachsenden Druck der benachbarten weltlichen Großen blieb der Kirche nur der Bund mit den Resten der Staatsgewalt.

Diese mit den Grafenstellen verknüpften Pertinenzen (res comitatus, pertinentiae comitatus), sind anfänglich noch scharf geschieden von den Benefizien, die dem jeweiligen Grafen persönlich übertragen waren. Auch diese wurden gewöhnlich reichlich erteilt, so daß, Dotation und Benefizien zusammengerechnet, die Grafenämter, ursprünglich Ehrenstellen, fetzt sehr einträgliche Posten und seit Ludwig dem Frommen ganz wie andre königliche Freigebigkeiten an Leute vergeben wurden, die man gewinnen oder deren man sich versichern wollte. So heißt es von Ludwig dem Stammler, daß er "quos potuit conciliavit [sibi], dans els abbatias et comitatus ac villas" |"sofort suchte, möglichst viele für sich zu gewinnen, indem er Abteien und Güter nach jedes Wunsch und Verlangen schenkte"| ("Ann[ales] Bertin[iani]" 877). Die Benennung Honor, womit früher das Amt mit Beziehung auf die damit verbundenen Ehrenrechte gezeichnet worden, erhält im Lauf des 9. Jahrhunderts ganz dieselbe Bedeutung wie Benefizium. Und hiermit vollzog sich notwendig auch eine wesentliche Veränderung im Charakter des Grafenamts, die mit Recht von Roth (S. 408) hervorgehoben wird. Ursprünglich war das Seniorat, soweit es einen öffentlichen Charakter erhielt, dem Grafenamt nachgebildet, mit gräflichen Befugnissen ausgestattet. Jetzt - in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts - hatte das Seniorat so allgemein um sich gegriffen, daß es das Grafenamt zu überwuchern drohte und dieses sich nur in seiner Machtstellung halten konnte, indem es selbst mehr und mehr den Charakter eines Seniorats |491| annahm. Die Grafen usurpierten mehr und mehr, und nicht erfolglos, die Stellung eines Seniors gegenüber ihren Gaubewohnern (pagenses), und zwar sowohl was deren private wie öffentliche Verhältnisse betraf. Ganz wie die übrigen "Herren" die ihnen benachbarten kleinen Leute, so suchten auch die Grafen die weniger bemittelten freien Gaubewohner mit Güte oder Gewalt dahin zu bringen, sich ihnen als Vasallen zu unterwerfen. Dies gelang um so leichter, als die bloße Tatsache, daß die Grafen ihre Amtsgewalt derart mißbrauchen konnten, der beste Beweis ist, wie wenig Schutz der noch übrige Rest der Gemeinfreien von der königlichen Macht und ihren Organen erwarten durfte. Von allen Seiten der Vergewaltigung preisgegeben, mußten die kleineren Freien froh sein, selbst gegen Abtretung ihres Allods und Wiedererlangung desselben zu bloßem Benefizium, irgendeinen Schutzherrn zu finden. Schon Kap[itular] 811 klagt Karl der Große, daß Bischöfe, Äbte, Grafen, Richter, Zentenare kleine Leute durch fortwährende Rechtsschikanen oder stets wiederholtes Aufgebot zum Heere so weit herunterbringen, bis sie jenen ihr Allod übertragen oder verkaufen, daß die Armen sich laut über den an ihrem Eigentum geschehenden Raub beklagen usw. Auf diese Weise war in Gallien bereits Ende des 9. Jahrhunderts der größte Teil des freien Eigentums in die Hände der Kirche, der Grafen und andrer Großen gekommen (Hincmar Rem[ensis] 869), und etwas später gab es in einigen Provinzen schon gar kein freies Grundeigentum kleiner Freier mehr. (Maurer, "Ein[leitung]", S. 212.) Sobald nun die Benefizien bei der wachsenden Macht der Benefiziare und der verfallenden der Krone allmählich erblich wurden, wurden es gewohnheitsmäßig die Grafenämter auch. Sahen wir in der Menge der königlichen Benefiziare die Ansätze zur Bildung des späteren Adels, so hier den Keim der Territorialhoheit der aus den Gaugrafen hervorgegangnen späteren Landesherrn.


Während so die gesellschaftliche und staatliche Ordnung vollständig anders wurde, blieb die alte Heerverfassung, gegründet auf Waffendienst - so Recht wie Pflicht - aller Freien, äußerlich dieselbe, nur daß, wo die neuen Abhängigkeitsverhältnisse bestanden, der Senior zwischen seine Vasallen und den Grafen sich einschob. Aber die Gemeinfreien waren von Jahr zu Jahr weniger imstand, die Last des Heerdienstes zu tragen. Diese bestand nicht nur im persönlichen Dienst; der Aufgebotene mußte sich auch selbst ausrüsten und während der ersten sechs Monate auf eigene Kosten verpflegen, bis endlich die unaufhörlichen Kriege Karls des Großen dem Faß den |492| Boden ausschlugen. Die Last wurde so unerträglich, daß, um ihr zu entgehn, die kleinen Freien massenweise vorzogen, nicht nur den Rest ihres Besitzes, sondern ihre eigne Person und die ihrer Nachkommen den Großen, besonders aber der Kirche zu übertragen. Dahin hatte Karl die freien kriegerischen Franken heruntergebracht, daß sie lieber Hörige und Leibeigne wurden, um nur nicht in den Krieg zu ziehn. Das war die Folge davon, daß Karl sich darauf versteifte, eine auf allgemeinen und gleichen Grundbesitz aller Freien gegründete Kriegsverfassung auch dann noch durchzuführen, und zwar bis auf die äußerste Spitze zu treiben, als der großen Menge der Freien der Grundbesitz ganz oder größtenteils abhanden gekommen war.

Die Tatsachen waren indes stärker als Karls Eigensinn und Ehrgeiz. Die alte Heerverfassung war nicht mehr zu halten. Das Heer auf Staatskosten auszurüsten und zu verpflegen, ging erst recht nicht in jener Zeit einer fast geld- und handelslosen Naturalwirtschaft. Karl war also genötigt, die Dienstpflicht so zu beschränken, daß Ausrüstung und Verpflegung des Mannes möglich blieb. Dies geschah im Aachener Kapitular 807, als die Kriege sich nur noch auf Grenzkämpfe beschränkten und der Bestand des Reichs im ganzen gesichert schien. Vor allem sollte jeder königliche Benefiziar ohne Unterschied sich stellen, dann, wer zwölf Hufen (mansi) besitzt, geharnischt, also auch wohl zu Pferd erscheinen (das Wort caballarius - Ritter, kommt in demselben Kapitular vor). Besitzer von drei bis fünf Hufen waren pflichtig. Von zwei Besitzern von je zwei Hufen, von dreien zu einer Hufe, von sechsen zu einer halben Hufe mußte jedesmal einer gestellt und von den andern ausgerüstet werden. Von ganz landlosen, aber Mobiliarvermögen im Werte von fünf Solidi besitzenden Freien sollte ebenfalls der sechste Mann ausrücken und eine Geldunterstützung von einem Solidus von jedem der andern fünf erhalten. Auch wird die Auszugspflicht der verschiednen Landesteile, die bei diesen benachbarten Kriegen voll eintritt, für entferntere Kriege je nach der Entfernung auf die Hälfte bis ein Sechstel der Mannschaft beschränkt.

Karl suchte hier offenbar die alte Verfassung der veränderten ökonomischen Lebenslage der Dienstpflichtigen anzupassen, zu retten, was noch zu retten war. Aber auch diese Konzession half nicht; schon bald darauf war er genötigt, im Cap[itulare] de exercitu promovendo |Kapitular über das Aufgebot zum Heeresdienst| neue Befreiungen zu gestatten. Dies Kapitular, gewöhnlich früher als das Aachener datiert, ist seinem ganzen Inhalt nach unzweifelhaft mehrere Jahre später als dies. Es erhöht die Hufenzahl, von der je ein Mann zu stellen ist, von drei auf vier; |493| die Besitzer von halben Hufen und die Landlosen erscheinen als dienstfrei, und auch für Benefiziare ist die Stellungspflicht auf einen Mann für je vier Hufen beschränkt. Unter den Nachfolgern Karls scheint das Minimum der Hufenzahl, die einen Mann stellte, sogar auf fünf erhöht zu sein.

Merkwürdig ist, daß die Gestellung der geharnischten Zwölfhufner die größten Schwierigkeiten gefunden zu haben scheint. Wenigstens wird das Gebot, daß sie gepanzert zu erscheinen haben, unzählige Male in den Kapitularien wiederholt.

So verschwanden die Gemeinfreien immer mehr. Hatte ihre allmähliche Trennung von Grund und Boden einen Teil in die Vasallität der neuen großen Grundherren getrieben, so trieb die Furcht vor direktem Ruin durch den Heerdienst den andern Teil geradezu in die Leibeigenschaft. Wie rasch diese Ergebung in die Knechtschaft vor sich ging, dafür zeugt das Polyptichon (Grundbesitzregister) des Klosters Saint-Germain-des-Prés, das damals noch außerhalb Paris lag. Es ist vom Abt Irminon im Anfang des 9. Jahrhunderts zusammengestellt und weist unter den Hintersassen des Klosters auf: 2.080 Familien von Kolonen, 35 von Liten, 220 von Sklaven (servi), dagegen nur acht freie Familien. Das Wort Colonus jener Zeit war aber in Gallien entschieden ein Unfreier. Die Heirat einer Freien mit einem Kolonen oder Sklaven unterwarf sie als geschändet (deturpatam) dem Herrn (Kap[itular] 817). Ludwig der Fromme befiehlt, daß "colonus vel servus" (eines Klosters zu Poitiers) "ad naturale servitium velit noiit redeat" |"ein Kolone oder Sklave, ob er wolle oder nicht, in seine natürliche Lage zurückkehren solle"|. Sie erhielten Hiebe (capitulare 853, 861, 864, 873) und wurden manchmal freigelassen (Guérard, "[Polyptyque de l'abbé] Irminon"). Und diese leibeignen Bauern waren nicht etwa Romanen, sondern nach Jakob Grimms eignem Zeugnis ("Geschichte] der deutschen] Spr[ache]", I), der die Namen untersuchte, "fast lauter fränkische, die einer geringen Anzahl romanischer weit überwogen".

Eine so gewaltige Zunahme der unfreien Bevölkerung verschob wiederum die Klassenverhältnisse der fränkischen Gesellschaft. Neben die sich damals rasch zu einem eignen Stand ausbildenden Großgrundbesitzer, neben ihre freien Vasallen trat nun eine den Rest der Gemeinfreien mehr und mehr aufsaugende Klasse von Unfreien. Aber diese Unfreien waren teils selbst noch frei gewesen, teils Kinder von Freien; die seit drei und mehr Generationen in erblicher Knechtschaft Lebenden waren weitaus die Minderzahl. Auch waren sie großenteils nicht von außen eingeschleppte, |494| sächsische, wendische etc. Kriegsgefangne; im Gegenteil, die meisten waren einheimische Franken und Romanen. Mit solchen Leuten, wenn sie noch dazu die Masse der Bevölkerung auszumachen anfingen, war nicht so leicht umzugehn wie mit ererbten oder fremden Leibeignen. Die Knechtschaft war ihnen noch ungewohnt, die Hiebe, die selbst der Kolone erhielt (Kap[itular] 853, 861, 873), wurden noch als Schmach, nicht als selbstverständlich empfunden. Daher die vielen Verschwörungen und Aufstände der Unfreien und selbst der bäuerlichen Vasallen. Karl der Große schlug selbst einen Aufstand der Hintersassen des Bistums Reims gewaltsam nieder. Ludwig der Fromme spricht im K[apitular] 821 von Verschwörungen der Sklaven (servorum) in Flandern und Menapiscus (an der obern Lys). 848 und 866 mußten Aufstände der Dienstleute (homines) des Bistums Mainz unterdrückt werden. Die Gebote, solche Verschwörungen zu unterdrücken, wiederholen sich in den Kapitularien seit 779. Der Aufstand der Stellinga in Sachsen muß ebenfalls hierher gehören. Offenbar eine Folge dieser drohenden Haltung der unfreien Massen war es, wenn seit Ende des 8. und Anfang des 9. Jahrhunderts die Leistungen der Unfreien, selbst der ansässigen Sklaven, mehr und mehr auf ein bestimmtes unüberschreitbares Maß gesetzt wurden und Karl der Große in seinen Kapitularien dies vorschreibt.

Das also war der Preis, um den Karl sein neurömisches Kaiserreich erkaufte: die Vernichtung des Standes der Gemeinfreien, die zur Zeit der Eroberung Galliens das ganze Frankenvolk umfaßt hatten; die Spaltung des Volks in große Grundbesitzer, Vasallen, Leibeigne. Aber mit den Gemeinfreien fiel die alte Heerverfassung, mit beiden fiel das Königtum. Karl hatte die einzige Grundlage seiner eignen Herrschaft vernichtet. Ihn hielt's noch aus; unter seinen Nachfolgern aber trat an den Tag, was in Wirklichkeit das Werk seiner Hände war.

Anmerkung: Der fränkische Dialekt

Es ist diesem Dialekt sonderbar mitgespielt worden von den Sprachgelehrten. Hatte Grimm ihn in Französisch und Hochdeutsch untergehn lassen, so geben ihm Neuere eine Ausdehnung, die von Dünkirchen und Amsterdam bis an die Unstrut, Saale und Rezat, wo nicht gar bis an die Donau und durch Kolonisation ins Riesengebirge reicht. Während selbst ein Philolog wie Moritz Heyne aus einer in Werden angefertigten Handschrift des Heliand eine altniederfränkische Sprache konstruiert, die |495| fast reines, sehr gelind fränkisch angehauchtes Altsächsisch ist, schlägt Braune alle wirklich niederfränkischen Dialekte ohne weiteres hier zum Sächsischen, dort zum Niederländischen. Und endlich beschränkt Arnold den Eroberungsbezirk der Ripuarier auf das Gebiet nördlich der Wasserscheide von Ahr und Mosel und läßt alles südlich und südwestlich gelegene, zuerst von Alamannen, später ausschließlich von Chatten (die er auch zu den Franken schlägt) besetzt sein, also auch alamannisch-chattisch sprechen.

Reduzieren wir vorerst das fränkische Sprachgebiet auf seine wirklichen Grenzen. Thüringen, Hessen und Mainfranken haben absolut keinen andern Anspruch, dazugerechnet zu werden, als daß sie zur Karolingerzeit unter Francia mit einbegriffen wurden. Die Sprache, die östlich des Spessarts und Vogelsbergs und des Kahlen Asten gesprochen wird, ist alles, nur nicht Fränkisch. Hessen und Thüringen haben ihre eignen selbständigen Dialekte, wie sie von selbständigen Stämmen bewohnt werden; in Mainfranken ist ein Gemisch slawischer, thüringischer und hessischer Bevölkerung mit bayrischen und fränkischen Elementen durchsetzt worden und hat sich seinen aparten Dialekt ausgebildet. Nur wenn man den Grad, in welchem die hochdeutsche Lautverschiebung in die Dialekte eingedrungen, als Hauptunterscheidungsmittel anwendet, kann man diese drei Sprachzweige dem Fränkischen zuweisen. Es ist aber, so werden wir sehn, grade dies Verfahren, das all die Verwirrung in der Beurteilung fränkischer Sprache durch Nichtfranken verursacht.

Fangen wir mit den ältesten Denkmälern an, und stellen wir zuerst Moritz Heynes (2) sogenanntes Altniederfränkisch ins rechte Licht. Die in Werden gefertigte, jetzt in Oxford befindliche sog. Cottonsche Handschrift des Heliand soll altniederfränkisch sein, weil sie im Kloster Werden, noch auf fränkischem Boden, aber hart an der sächsischen Grenze, angefertigt worden. Die alte Stammesgrenze ist hier auch heute noch die Grenze zwischen Berg und Mark; von den dazwischenliegenden Abteien gehört Werden zu Franken, Essen zu Sachsen. Werden ist in allernächster Nähe, östlich und nördlich von unbestritten sächsischen Ortschaften begrenzt; in der Ebene zwischen Ruhr und Lippe dringt sächsische Sprache stellenweise fast bis an den Rhein. Der Umstand, daß ein sächsisches Werk in Werden abgeschrieben, und zwar offenbar von einem Franken, daß diesem Franken hie und da fränkische Wortformen in die Feder geflossen, reicht noch lange |496| nicht hin, die Sprache der Abschrift für fränkisch zu erklären. Außer dem Cottonschen Heliand zieht Heyne als niederfränkisch in Betracht einige Werdener Fragmente, die denselben Charakter zeigen, und die Überbleibsel einer Psalmenübersetzung, die nach ihm in der Aachener Gegend entstanden ist, von Kern (Glossen in der Lex Salica) dagegen kurzerhand für niederländisch erklärt wird. In der Tat hat sie einerseits ganz niederländische Formen, daneben aber auch echt rheinfränkische und selbst Spuren hochdeutscher Lautverschiebung. Sie ist offenbar an der Grenze von Niederländisch und Rheinfränkisch, etwa zwischen Aachen und Maastricht entstanden. Ihre Sprache ist bedeutend jünger als die der beiden Heliand-[handschriften].

Der Cottonsche Heliand allein reicht indes hin, um aus den wenigen darin vorkommenden fränkischen Formen einige Hauptunterschiede von Fränkisch und Sächsisch unzweifelhaft festzustellen.

I. Alle ingävonischen Mundarten endigen die drei Personen des Plurals praesens indicativus gleich, und zwar auf einen Dental mit vorhergehendem Vokal; altsächsisch auf d, angelsächsisch auf dh, altfriesisch auf th (das wohl auch für dh steht). So heißt im Altsächsischen hebbiad - wir haben, ihr habt, sie haben; ebenso heißen von fallan, gawinnan alle drei Personen gleichmäßig fallad, winnad. Es ist die dritte Person, die sich aller drei bemächtigt hat, aber, wohl zu merken, mit spezifisch ingävonischer, ebenfalls allen drei genannten Dialekten gemeinsamer Ausstoßung des n vor dem d oder dh. Von allen lebenden Dialekten hat sich diese Eigentümlichkeit nur der westfälische erhalten; dort heißt es noch jetzt wi, ji, se hebbed usw. Die übrigen sächsischen Mundarten ebenso wie das Westfriesische kennen sie nicht mehr; sie unterscheiden die drei Personen.

Die westrheinischen Psalmen haben wie das Mittelhochdeutsche für die I. Person pluralis -m, II. -t, III. -nt. Dagegen hat der Cottonsche Heliand neben den sächsischen einigemal Formen ganz andrer Art: tholônd - sie dulden, gornônd - ihr klagt, und als Imperativ mârient - verkündigt, seggient - sagt, wo das Sachsische tholôd, gornôt, mâriad, seggiad fordert. Diese Formen sind nicht nur fränkisch, sie sind sogar echt Werdener, bergischer Lokaldialekt bis heute. Im Bergischen machen wir ebenfalls alle drei Pluralpersonen des Präsens gleich, aber nicht sächsisch auf d, sondern fränkisch auf nt. Gegen märkisches wi hebbed heißt es da gleich an der Grenze wi hant, und analog dem obigen Imperativ seggient wird gesagt seient ens - sagt einmal. Braune und andre haben auf die einfache Wahrnehmung hin, daß hier im Bergischen die drei Personen gleich gemacht werden, das ganze bergische Gebirgsland kurzerhand für sächsisch erklärt. Die Regel ist allerdings aus |497| Sachsen herübergedrungen, leider aber wird sie fränkisch ausgeführt und beweist damit das Gegenteil dessen, was sie beweisen soll.

Die Ausstoßung des n vor Dentalen ist in den ingävonischen Dialekten nicht auf diesen Fall beschränkt; sie ist im Altfriesischen weniger, im Altsächsischen und Angelsächsischen dagegen ziemlich weit verbreitet: mudh - Mund, kudh - kund, us - uns, odhar - ein anderer. Der fränkische Abschreiber des Heiland in Werden schreibt statt odhar zweimal die fränkische Form andar. Die Werdener Heberegister wechseln mit den fränkischen Namensformen Reinswind, Meginswind, und den sächsischen Reinswid und Meginswid. In den linksrheinischen Psalmen heißt es dagegen überall munt, kunt, uns, nur einmal haben die (aus der verlorenen Handschrift dieser Psalmen ausgezogenen) sog. Lipsiusschen Glossen farkutha abominabiles statt farkuntha. Die altsalischen Denkmäler haben ebenfalls das n überall bewahrt in den Namen Gund, Segenand, Chlodosindis, Ansbertus usw., was nicht in Betracht kommt. Die modernen fränkischen Dialekte haben das n überall (einzige Ausnahme im Bergischen die Form os - uns).

II. Die Sprachdenkmäler, aus denen gewöhnlich die sog. sächsische Grammatik konstruiert wird, gehören alle dem südwestlichen Westfalen an, Münster, Freckenhorst, Essen. Die Sprache dieser Denkmäler zeigt einige wesentliche Abweichungen nicht nur von den allgemein ingävonischen Formen, sondern auch von solchen, die uns in Eigennamen aus Engern und Ostfalen als echt altsächsisch erhalten sind; dagegen stimmen sie merkwürdig mit Fränkisch und Althochdeutsch. Der neueste Grammatiker des Dialekts, Cosijn, nennt ihn daher auch geradezu altwestsächsisch.

Da wir bei dieser Untersuchung fast nur auf Eigennamen in lateinischen Urkunden angewiesen sind, können die nachweisbaren Formenunterschiede des West- und Ostsächsischen nur wenig zahlreich sein; sie beschränken sich auf zwei, aber sehr entscheidende Fälle.

1. Angelsächsisch und Altfriesisch hat genitivus pluralis aller Deklinationen auf a. Altwestsächsisch, Altfränkisch und Althochdeutsch dagegen o. Was ist nun die richtige altsächsische Form? Sollte dieser Dialekt hier in der Tat die ingävonische Regel verlassen?

Die Urkunden aus Engern und Ostfalen geben die Antwort. In Stedieraburg, Horsadal, Winethahûsen, Edingahûsun, Magathaburg und vielen andern Namen steht der erste Teil der Zusammensetzung im genitivus pluralis und hat a. Selbst in Westfalen ist das a noch nicht ganz verschwunden: Die Freckenhorster Rolle hat einmal Aningera-lô und Wernerâ-Holthûson, und das a in Osnabrück ist eben auch ein alter genitivus pluralis.

2. Ebenso endigt das schwache Maskulinum im Fränkischen wie im |498| Althochdeutschen auf o gegen gotisch-ingävonisches a. Für das Altwestsächsische steht ebenfalls o als Regel fest; also wieder Abweichung vom ingävonischen Brauch. Dies gilt aber keineswegs für das Altsächsische überhaupt. Nicht einmal in Westfalen galt o ohne Ausnahme; die Freckenh[orster] Rolle hat schon neben o eine ganze Reihe von Namen auf a (Sîboda, Uffa, Asica, Hassa, Wenda usw.); Paderborner Denkmäler bei Wigand ergeben fast immer a, nur ganz ausnahmsweise o; in ostfälischen Urkunden herrscht a fast ausschließlich; so daß schon Jakob Grimm ("Gesch[ichte] der deutschen] Spr[ache]") zu dem Schluß kommt, es lasse sich nicht verkennen, daß a und an (in obliquen Kasus) die ursprünglich sächsische, allen Teilen des Volks gemeine Form war. Das Vordringen des o für a beschränkte sich auch nicht auf Westfalen. Im Anfang des 15. Jahrhunderts haben die ostfriesischen Mannesnamen der Chroniken etc. fast regelmäßig o: Fokko, Occo, Enno, Smelo usw., gegen früheres im Westfriesischen in Einzelfällen noch erhaltenes a.

Es darf also als feststehend angenommen werden, daß beide Abweichungen des Westsächsischen von der ingävonischen Regel nicht ursprünglich sächsisch, sondern durch fremden Einfluß veranlaßt sind. Dieser Einfluß erklärt sich sehr einfach durch die Tatsache, daß Westsachsen früher fränkisches Gebiet war. Erst nach Abzug der Hauptmasse der Franken rückten die Sachsen über Osning und Egge allmählich bis an die Linie, die noch heute Mark und Sauerland von Berg und Siegerland scheidet. Der Einfluß der zurückgebliebnen, mit den Sachsen jetzt verschmolzenen Franken zeigt sich in jenen beiden o statt a; er ist auch noch in den heutigen Dialekten unverkennbar.

III. Eine von der Ruhr bis an die Mosel reichende Eigentümlichkeit rheinfränkischer Sprache ist die Endung der I. [Person] praesens indicativus auf -n. die sich am besten erhalten in dem Fall |Von Engels mit Bleistift am Rand vermerkt: Otfried|, wo ein Vokal folgt: dat don ek - das tue ich, ek han - ich habe (bergisch). Diese Verbalform gilt für den ganzen Niederrhein und die Mosel, wenigstens bis an die lothringische Grenze: don, han. Dieselbe Eigentümlichkeit findet sich schon in den linksrheinischen Psalmen: biddon - ich bitte, wirthon - ich werde, wenn auch nicht konsequent. Der salischen Mundart fehlt dies n; es heißt dort schon im ältesten Dokument: ec forsacho, gelôbo. Es fehlt ebenso dem Niederländischen. Das Altwestsächsische steht hier vom Fränkischen insofern ab, als es dies n nur in einer einzigen Konjugation kennt (der sog. zweiten schwachen): skawôn - ich schaue, thionôn - ich diene, usw. Dem Angel- |499| sächsischen und Altfriesischen ist es ganz fremd. Wir dürfen also vermuten, daß auch dies n ein fränkischer Überrest im Altwestsächsischen ist.

Außer den uns in Urkunden etc. erhaltenen zahlreichen Eigennamen und den oft bis zur Unkenntlichkeit entstellten Glossen der Lex Salica haben wir fast gar keine Reste der salischen Mundart. Indes hat Kern ("Die Glossen in der Lex Salica") eine bedeutende Anzahl dieser Entstellungen entfernt und den in manchen Fällen sichern, in andern höchst wahrscheinlichen Text hergestellt und nachgewiesen, daß er in einer Sprache geschrieben ist, die die direkte Vorfahrin des Mittel- und Neuniederländischen ist. Doch ist dies so rekonstruierte Material natürlich nicht für die Grammatik ohne weiteres verwendbar. Außerdem besitzen wir nur noch die kurze Abschwörungsformel, die dem Kapitular Karlmanns vom Jahre 743 angefügt und wahrscheinlich auf dem Konzil von Lestines, also in Belgien, verfaßt ist. Und hier stoßen wir gleich im Anfang auf zwei charakteristisch fränkische Worte: ec forsacho - ich entsage. Ec für ich ist heute noch weit verbreitet unter Franken. In Trier und Luxemburg eich, in Köln und Aachen ech, im Bergischen ek. Wenn das Schriftniederländische ik hat, so hört man doch oft genug im Volksmund, namentlich in Flandern, ek. Die altsalischen Namen Segenandus, Segemundus, Segefredus zeigen einstimmend e für i.

In forsacho steht ch für g zwischen Vokalen: Dies kommt auch sonst in den Denkmälern vor (rachineburgius) und ist noch heute ein Kennzeichen aller fränkischen Mundarten von der Pfalz bis an die Nordsee. Auf diese beiden Hauptkennzeichen des Fränkischen: e häufig für i und ch zwischen Vokalen für g, kommen wir bei den einzelnen Mundarten zurück.

Als Resultat der obigen Untersuchung, zu der man noch das von Grimm in der "Gesch[ichte] der deutschen] Spr[ache]" am Schluß des ersten Bandes über das Altfränkische gesagte vergleichen kann, dürfen wir den Satz aufstellen, der übrigens jetzt schwerlich noch bestritten wird: daß das Fränkische schon im 6. und 7. Jahrhundert ein eigner, zwischen dem Hochdeutschen, also zunächst Alamannischen, und dem Ingävonischen, also zunächst Sächsischen und Friesischen, den Übergang bildender, damals noch ganz auf gotisch-niederdeutscher Verschiebungsstufe stehender Dialekt war. Ist dies aber zugegeben, so ist damit auch anerkannt, daß die Franken nicht ein durch äußere Umstände verbündeter Mischmasch verschiedner Stämme, sondern ein eigner deutscher Hauptstamm, die Iskävonen waren, die wohl zu verschiednen Zeiten fremde Bestandteile in sich aufnahmen, aber auch sie zu assimilieren die Kraft hatten. Und ebenfalls dürfen wir als erwiesen ansehn, daß jeder der beiden Hauptzweige des fränkischen Stammes schon früh eine besondre Mundart sprach, daß der Dialekt sich schied in |500| Salisch und Ripuarisch und daß manche trennenden Eigentümlichkeiten der alten Mundarten noch fortleben im heutigen Volksmund.


Gehen wir nun über zu diesen noch lebenden Mundarten.

I. Darüber besteht jetzt kein Zweifel mehr, daß das Salische fortlebt in den beiden niederländischen Mundarten, dem Flämischen und Holländischen, und zwar am reinsten in den seit dem 6. Jahrhundert schon fränkischen Gebieten. Seitdem nämlich die großen Sturmfluten im 12., 13. und 14. Jahrhundert fast ganz Seeland vernichtet, die Südersee, den Dollart und die Jade gebildet und dadurch mit dem geographischen auch den politischen Zusammenhang unter den Friesen gebrochen, erlagen die Reste der alten friesischen Freiheit dem Andrang der umliegenden Landesherrn und mit ihr fast überall auch die friesische Sprache. Im Westen wurde sie durch Niederländisch, im Osten und Norden durch Sächsisch und Dänisch eingeengt oder ganz verdrängt, in allen Fällen starke Spuren in der eindringenden Sprache zurücklassend. Das altfriesische Seeland und Holland wurden im 16. und 17. Jahrhundert Kern und Rückhalt des niederländischen Unabhängigkeitskampfs, wie sie schon der Sitz der Haupthandelsstädte des Landes waren. Hier also vorzugsweise bildete sich die neuniederländische Schriftsprache und nahm friesische Elemente, Worte und Wortformen auf, die von dem fränkischen Grundstock wohl zu unterscheiden sind. Andrerseits ist von Osten her sächsische Sprache auf ehedem friesisches und fränkisches Gebiet vorgedrungen. Die genauen Grenzen zu ziehn, muß der Detailforschung überlassen bleiben; rein salisch sind nur die flämisch sprechenden Teile von Belgien, Nordbrabant, Utrecht sowie Gelderland und Overijsel mit Ausnahme der östlichen, sächsischen Striche.

Zwischen der französischen Sprachgrenze an der Maas und der sächsischen nördlich vom Rhein stoßen Salier und Ripuarier zusammen. Auf die Scheidelinie, die auch hier im einzelnen erst festzustellen ist, kommen wir weiter unten zu sprechen. Beschäftigen wir uns zunächst mit den grammatischen Eigentümlichkeiten des Niederländischen.

Bei den Vokalen fällt zuerst auf, daß in echt fränkischer Weise i durch e ersetzt wird: brengen - bringen, krep - Krippe, hemel - Himmel, geweten - Gewissen, ben - bin, stem - Stimme. Dies ist im Mittelniederländischen noch weit häufiger der Fall: gewes - gewiß, es - ist, selber - Silber, blent - blind, wo Neuniederländisch gewis, is, zilver, blind. Ebenso finde ich in der Nähe von Genf zwei Orte: Destelbergen und Desteldonck, wonach auch jetzt noch Distel dort Destel heißt. Das auf rein fränkischem Boden erwachsene |501| Mittelniederländische stimmt hier genau zum Ripuarischen, schon weniger das friesischem Einfluß ausgesetzte Schrift-Neuniederländische.

Ferner steht, abermals mit dem Ripuarischen stimmend, o statt u vor m oder n mit folgendem Konsonanten, doch nicht so konsequent wie Mittelniederländisch und Ripuarisch. Neben konst, gonst, kond steht neuniederländisch kunst, gunst, kund; dagegen stimmen in beiden: mond - Mund, hond - Hund, jong - jung, ons - uns.

Im Abstand vom Ripuarischen ist das lange i (ij) in der Aussprache zu ei geworden, was im Mittelniederländischen noch nicht der Fall gewesen zu sein scheint. Aber dies ei wird nicht wie hochdeutsches ei = ai gesprochen, sondern wie wirklich e + i, wenn auch nicht ganz so dünn wie z.B. ej bei Dänen und Slawen. Wenig abweichend davon lautet der nicht ij, sondern ei geschriebne Diphthong. Entsprechend steht für hochdeutsches au: ou, ouw.

Der Umlaut ist aus der Flexion verschwunden. In der Deklination haben Singular und Plural, in der Konjugation Indikativ und Konjunktiv denselben Wurzelvokal. Dagegen kommt Umlaut in der Wortbildung in doppelter Gestalt vor: 1. in der allen nachgotischen Dialekten gemeinsamen [Veränderung] des a durch i in e; 2. in einer dem Niederländischen eigentümlichen, erst später entwickelten Form. Das Mittelniederländische wie das Ripuarische kennt noch hus - Haus, brun - braun, rum - geräumig, tun - Zaun, pluralis huse, brune. Das Neuniederländische kennt nur noch die dem Mittelniederländischen und Ripuarischen fremden Formen huis, bruin, ruim, tuin (ui = hochdeutsches eu). Dagegen drängt sich eu für kurzes o (hochdeutsches u) bereits im Mittelniederländischen ein: jeughet, neben joghet, neuniederländisch jeugd - Jugend; doghet - Tugend, dor - Tür, kor - Wahl, woneben die Formen mit eu [oder oe]; neuniederländisch gilt nur noch deugd, keur, deur. Es stimmt dies ganz zu dem seit dem 12. Jahrhundert im Nordfranzösischen entwickelten eu für lateinisches betontes o. Auf einen dritten Fall macht Kern aufmerksam: Neuniederländisch ist ei Umlaut aus ê (ee). Alle diese drei Formen des Umlauts sind dem Ripuarischen wie den übrigen Dialekten unbekannt und ein besonderes Kennzeichen des Niederländischen.

Ald, alt, old, uld, ult verwandeln sich in oud, out. Dieser Übergang findet sich schon im Mittelniederländischen, wo indes noch guldin, hulde, sculde neben goudin, houde, scoude (sollte) vorkommen, so daß die Zeit ungefähr feststeht, wo er eingeführt wurde. Er ist ebenfalls dem Niederländischen eigentümlich, wenigstens gegenüber allen kontinentalen germanischen Mundarten; dagegen besteht er auch im englischen Dialekt von Lancashire: gowd, howd, owd für gold, hold, old.

|502| Was die Konsonanten angeht, so kennt das Niederländische kein reines g (das gutturale italienische, französische oder englische g). Dieser Konsonant wird wie ein stark aspiriertes gh gesprochen, das sich in gewissen Lautverbindungen vom tief gutturalen (schweizerischen, neugriechischen oder russischen) ch nicht unterscheidet. Wir sahen, daß dieser Übergang von g in ch schon dem Altsalischen bekannt war. Er findet sich auch in einem Teil des Ripuarischen und der auf ehemals fränkischem Boden ausgebildeten sächsischen Dialekte, z.B. im Münsterland, wo sogar, wie auch im Bergischen, j im Anlaut, besonders von Fremdwörtern, unter Umständen wie ch lautet und man den Choseph und selbst das Chahr (Jahr) hören kann. Hätte M. Heyne hierauf Rücksicht genommen, so blieb ihm die Schwierigkeit der häufigen Verwechslung und gegenseitigen Alliteration von j, g und ch im Heliand so ziemlich erspart.

Im Anlaut bewahrt das Niederländische stellenweise wr: wringen - ringen, wreed - grausam, hart, wreken - rächen. Ein Rest davon bleibt auch im Ripuarischen.

Aus dem Friesischen ist genommen die Erweichung des Diminutivs ken in tje, je: mannetje - Männchen, bietje - Bienchen, halsje - Hälschen etc. Doch wird auch k bewahrt: vrouken - Frauchen, hoeteken - Hütchen. Besser bewahrt das Flämische, wenigstens in der Volkssprache, das k; das bekannte Männchen in Brüssel heißt manneken-pis. Aus dem Flämischen haben also die Franzosen ihr mannequin, die Engländer manikin entlehnt. Der Plural beider Endungen ist vroukens, mannetjes. Dies s werden wir im Ripuarischen wiederfinden.

Gemeinsam mit sächsischen und selbst skandinavischen Dialekten ist dem Niederländischen die Ausstoßung von d zwischen Vokalen, besonders zwischen zwei e: leder und leer, weder und weer, neder und neer, vader und vaer, moeder und moer - Mutter.

Die niederländische Deklination zeigt vollständige Vermischung starker und schwacher Formen, so daß, da der Pluralumlaut ebenfalls fehlt, die niederländischen Pluralbildungen nur in den seltensten Fällen selbst zu den ripuarischen oder sächsischen stimmen, und auch hier ein sehr greifbares Kennzeichen der Sprache vorliegt.

Gemeinsam ist dem Salischen und Ripuarischen mit sämtlichen ingävonischen Dialekten der Wegfall des Nominativzeichens in er, der, wer: niederländisch hij, de (Artikel) und die (Demonstrativpronomen), wie.

Auf die Konjugation einzugehn, würde zu weit führen. Das Gesagte wird genügen, um die heutige salische Sprache überall von den angrenzenden Mundarten unterscheiden zu lassen. Genauere Untersuchung der nieder- |503| ländischen Volksmundarten wird sicher noch manches Wichtige zutage fördern.

II. Rheinfränkisch. Mit diesem Ausdruck bezeichne ich sämtliche übrigen fränkischen Mundarten. Wenn ich hier dem Salischen nicht nach alter Art Ripuarisch entgegensetze, so hat das einen sehr guten Grund.

Schon Arnold hat darauf aufmerksam gemacht, daß die Ripuarier im eigentlichsten Sinn einen verhältnismäßig engen Bezirk eingenommen haben, dessen Südgrenze durch die beiden Orte Reifferscheid bei Adenau und bei Schleyden mehr oder weniger bezeichnet wird. Dies ist insofern richtig, als hiermit das rein ripuarische Gebiet auch sprachlich abgegrenzt wird gegen die von echten Ripuariern nach oder gleichzeitig mit andern deutschen Stämmen besetzten Gebiete. Da nun der Name Niederfränkisch bereits eine andre Bedeutung erhalten hat, die auch das Salische einschließt, so bleibt mir zur Bezeichnung der von der salischen Sprachgrenze bis zu dieser Linie sich ausbreitenden Gruppe eng verwandter Mundarten nur die Bezeichnung Ripuarisch - im engeren Sinn.

l. Ripuarisch. Die Scheidelinie dieser Gruppe von Mundarten gegen das Salische fällt keineswegs zusammen mit der holländisch-deutschen Grenze. Im Gegenteil gehört dem Salischen auf der rechten Rheinseite noch der größte Teil des Kreises Rees, wo in der Gegend von Wesel Salisch, Ripuarisch und Sächsisch zusammenstoßen. Auf dem linken Ufer sind salisch das Klevische und Geldrische, etwa bis zu einer Linie, die vom Rhein, zwischen Xanten und Wesel, südlich auf das Dorf Vluyn (westlich von Mörs) und von da südwestlich auf Venlo zu gezogen wird. Genauere Grenzbestimmung ist nur an Ort und Stelle möglich, da durch langjährige holländische Verwaltung nicht nur von Geldern, sondern auch der Grafschaft Mörs sich viele ripuarische Namen auf den Karten in salisch-niederländischer Form erhalten haben.

Von der Gegend von Venlo an aufwärts scheint der größte Teil des rechten Maasufers ripuarisch, so daß die politische Grenze hier nirgends salisches, sondern stets ripuarisches Gebiet durchschneidet und dies bis nahe an Maastricht sich erstreckt. Namen auf heim (nicht hem) und auf das spezifisch ripuarische ich kommen hier in großer Zahl auf holländischem Gebiete vor, weiter südlich schon die verschobenen auf broich (holländisch broek), z.B. Dallenbroich bei Roermond; ebenso auf rade (Bingelrade bei Sittard, dabei Amstenrade, Hobbelrade und 6 bis 7 andre); das zu Belgien gefallene Stückchen deutsches Gebiet rechts der Maas ist ganz ripuarisch (vgl. Krützenberg, 9 Kilometer von der Maas, mit Kruisberg, nördl. von Venlo). Ja, links der Maas, im belgischen sog. Limburg, finde ich Kessenich |504| bei Maaseyk, Stockheim und Reckheim an der Maas, Gellik bei Maastricht als Beweis, daß hier keine rein salische Bevölkerung wohnt.

Gegen Sachsen geht die ripuarische Grenze aus der Gegend von Wesel südöstlich in zunehmender Entfernung vom Rhein, zwischen Mülheim an der Ruhr und Werden fränkischer- und Essen sächsischerseits hindurch an die Grenze von Berg und Mark, hier noch jetzt die Grenze von Rheinprovinz und Westfalen. Sie verläßt diese erst südlich von Olpe, wo sie östlich geht, das Siegerland als fränkisch vom sächsischen Sauerland trennend. Weiter östlich fängt bald hessische Mundart an.

Die oben erwähnte Südgrenze gegen die von mir als Mittelfränkisch bezeichnete Mundart stimmt ungefähr mit den Südgrenzen der alten Gaue Avalgau, Bonngau und Eiflia und geht von da westlich an das Wallonische, sich eher etwas nach Süden haltend. Das so umschriebene Gebiet umfaßt den alten großen Gau Ribuaria nebst Teilen der nördlich und westlich anstoßenden Gaue.

Wie schon gesagt, stimmt das Ripuarische in vielen Beziehungen zum Niederländischen, doch so, daß das Mittelniederländische ihm nähersteht als das Neuniederländische. Mit diesem, dem Neuniederländischen, stimmt die ripuarische Aussprache von ei = e + i und ou für au, der Übergang von i in e, der ripuarisch wie mittelniederländisch noch viel weiter geht als neuniederländisch: Die mittelniederländischen gewes, es, blend, selver (Silber) sind noch heute gut ripuarisch. Ebenso wandelt sich, und zwar konsequent u vor m oder n mit folgendem Konsonanten in o: jong, lomp, domm, konst. Ist dieser folgende Konsonant ein d oder t, so wandelt sich dies in einigen Mundarten in g oder k; z.B. honk - Hund, pluralis höng, wo die Erweichung zu g Nachwirkung des abgestoßenen Endvokals e ist.

Dagegen sind die Umlautsverhältnisse des Ripuarischen scharf geschieden von den niederländischen; sie stimmen im ganzen zu dem Hochdeutschen und in einzelnen Ausnahmen (z.B. hanen für Hähne) zum Sächsischen.

wr im Anlaut hat sich zu fr verhärtet, erhalten in fringen - Wasser aus einem Tuch etc. auswringen, und frêd (holländisch wreed) mit der Bedeutung abgehärtet.

Für er, der, wer steht , , .

Die Deklination steht in der Mitte zwischen hochdeutscher und sächsischer. Pluralbildungen auf s sind häufig, stimmen aber fast nie zu den niederländischen; dies s wird im Lokalhochdeutschen in richtiger Erinnerung der Sprachentwicklung zu r.

Das Diminutiv ken, chen wird nach n in schen verwandelt, männschen; |505| der Plural hat wie im Niederländischen s (männsches). Beide Formen werden wir bis nach Lothringen hinein verfolgen.

r vor s, st, d, t, z wird ausgestoßen, der vorhergehende Vokal bleibt in einigen Mundarten kurz, in andern wird er verlängert. So wird aus hart - hatt (bergisch), haad (kölnisch). Dabei wird durch oberdeutschen Einfluß st zu scht: Durst - doascht bergisch, dôscht kölnisch.

Ebenfalls ist durch hochdeutschen Einfluß anlautendes sl, sw, st, sp zu schl usw. geworden.

Wie dem Niederländischen, ist dem Ripuarischen reines g unbekannt. Ein Teil der an der salischen Grenze liegenden Mundarten, so wie die bergische, hat für an- und inlautendes g ebenfalls aspiriertes gh, doch weicher als das niederländische. Die übrigen haben j. Im Auslaut wird g überall wie ch gesprochen, doch nicht wie das harte niederländische, sondern das weiche rheinfränkische ch, das wie ein verhärtetes j lautet. Den wesentlich niederdeutschen Charakter des Ripuarischen bezeugen Ausdrücke wie boven für oben.

Die Mehrzahl der stummen Konsonanten steht überall auf der ersten Stufe der Lautverschiebung. Nur bei t und bei in- und auslautendem k und zuweilen p ist für die südlichen Mundarten hochdeutsche Verschiebung eingetreten; sie haben lôsze für lôten - lassen, holz statt holt, rîch statt rîk - reich, êch statt ek - ich, pief statt pîpe - Pfeife. Aber et, dat, wat und einige andre bleiben.

Es ist dies nicht einmal konsequent durchgeführtes Eindringen der hochdeutschen Verschiebung in drei Fällen, auf die sich die gewöhnliche Abgrenzung von Mittel- und Niederfränkisch gründet. Hierdurch aber wird eine durch bestimmte Lautverhältnisse, wie gezeigt, zusammengehörige Gruppe von Mundarten, die sich auch noch im Volksbewußtsein als zusammengehörig erkennt, willkürlich und nach einem hier ganz zufälligen Merkmal auseinandergerissen.

Ganz zufällig, sage ich. Die übrigen mitteldeutschen Dialekte, der hessische, thüringische, obersächsische etc., stehen, jeder für sich, auf einer im ganzen bestimmten Stufe hochdeutscher Verschiebung. Sie mögen an der niedersächsischen Grenze etwas weniger, an der oberdeutschen etwas mehr Verschiebung zeigen, aber das begründet höchstens Lokalunterschiede. Dagegen zeigt das Fränkische an Nordsee, Maas und Niederrhein gar keine, an der alamannischen Grenze fast ganz alamannische Verschiebung; dazwischen liegen mindestens drei Mittelstufen. Die Verschiebung ist also in das bereits unabhängig entwickelte Rheinfränkisch eingedrungen und hat es in mehrere Stücke zerrissen. Die letzte Spur dieser Verschiebung |506| braucht durchaus nicht an der Grenze einer schon vorher bestehenden, besondren Gruppe von Mundarten zu verschwinden, sie kann mitten in einer solchen Gruppe absterben, und tut es in der Tat. Dagegen hört der wirklich mundartbildende Einfluß der Verschiebung, wie sich zeigen wird, allerdings an der Grenze zweier, schon früher verschiedener, mundartlicher Gruppen auf. Und ist nicht das schl, schw usw., das auslautende scht ebenfalls und noch weit später von dem Hochdeutschen zu uns gekommen? Dies aber - wenigstens das erstere - geht noch tief nach Westfalen hinein.

Die ripuarischen Mundarten bildeten eine feste Gruppe, lange ehe ein Teil von ihnen t, in- und auslautendes k und p verschieben lernte. Wie weit diese Änderung innerhalb der Gruppe vordringen konnte, war und bleibt für die Gruppe rein zufällig. Der Dialekt von Neuß ist mit dem von Krefeld und München-Gladbach bis auf Kleinigkeiten, die ein Fremder gar nicht hört, identisch. Trotzdem soll der eine mittel-, der andre niederfränkisch sein. Die Mundart des bergischen Industrielandes geht in unmerklichen Stufen in die der südwestlichen Rheinebene über. Dennoch sollen sie zwei grundverschiednen Gruppen angehören. Für jeden, der im Lande selbst zu Hause, ist es offenbar, daß hier die Stubengelehrsamkeit die ihr wenig oder gar nicht bekannten lebendigen Volksmundarten in das Prokrustesbett a priori konstruierter Kennzeichen zwängt.

Und wohin führt diese rein äußerliche Unterscheidung? Dazu, daß man die südripuarischen Mundarten zu einem sogenannten Mittelfränkisch zusammenwirft, mit andern Dialekten, von denen sie, wie wir sehn werden, viel weiter abstehn als von den sog. niederfränkischen. Und daß man andrerseits einen schmalen Streifen zurückbehält, mit dem man nichts anzufangen weiß, und sich endlich genötigt sieht, ein Stück für sächsisch, ein zweites für niederländisch zu erklären, was dem Tatbestand dieser Mundarten geradezu ins Gesicht schlägt.

Nehmen wir z.B. den bergischen Dialekt, den Braune kurzerhand sicher sächsisch nennt. Er bildet, wie wir sahen, alle drei Pluralpersonen praesens indicativus gleich, aber fränkisch in der uralten Form nt. Er hat regelmäßig o statt u vor m und n mit folgendem Konsonanten, was nach demselben Braune entschieden unsächsisch und spezifisch niederfränkisch ist. Er stimmt in allen oben angeführten ripuarischen Eigenschaften mit den übrigen ripuarischen Dialekten. Während er unmerklich von Dorf zu Dorf, von Bauernhof zu Bauernhof in die Mundart der Rheinebne übergeht, ist er an der westfälischen Grenze haarscharf vom sächsischen Dialekt geschieden. Vielleicht nirgendwo anders in ganz Deutschland findet sich eine gleich unvermittelt gezogene Sprachgrenze wie hier. Und welcher Abstand in der |507| Sprache! Der ganze Vokalismus ist wie umgewälzt; dem scharfen niederfränkischen ei steht das breiteste ai unvermittelt gegenüber, wie dem ou das au; von den vielen Diphthongen und Vokalnachschlägen stimmt nicht ein einziger; hier sch wie im übrigen Deutschland, dort s + ch wie in Holland; hier wi hant, dort wi hebbed; hier die pluralisch gebrauchten Dualformen get und enk, ihr und euch, dort nur ji, i und , ü; hier heißt der Sperling gemein-ripuarisch Môsche, dort gemein-westfälisch Lüning. Von andern, der bergischen Mundart spezifisch eignen Besonderheiten gar nicht zu reden, die hier an der Grenze ebenfalls plötzlich verschwinden.

Dem Fremden tritt die Eigenart eines Dialekts am nächsten, wenn der Betreffende nicht den Dialekt spricht, sondern das jenem verständliche Hochdeutsch, was ja bei uns Deutschen meist unter starkem Einfluß des Dialekts geschieht. Dann aber ist der angeblich sächsische Bewohner des bergischen Industriebezirks vom Bewohner der Rheinebne, der mittelfränkisch sein soll, für den Nichteingebornen absolut ununterscheidbar, außer an dem etwas härteren aspirierten gh, wo der andre j spricht. Der bergische Heckinghauser (aus Oberbarmen, links der Wupper) aber und der kaum einen Kilometer weiter östlich wohnende märkische Langerfelder stehen auch im Lokalhochdeutsch des alltäglichen Lebens weiter voneinander ab als der Heckinghauser und der Koblenzer, geschweige der Aachener oder Bonner.

Dem Rheinfranken selbst macht das Eindringen der Verschiebung von t und auslautendem k so wenig den Eindruck einer Sprachscheide, daß er, selbst auf ihm ganz bekanntem Gebiet, sich wird erst besinnen müssen, wo denn die Grenze zwischen t und z, k und ch liegt, und daß ihm beim Überschreiten dieser Grenze das eine fast so mundgerecht ist wie das andre. Dies wird noch erleichtert durch die vielen, in die Mundarten gedrungenen hochdeutschen Wörter mit verschobenen sz, z, ch und f. Ein schlagendes Beispiel bietet die alte bergische Gerichtsordnung aus dem 14. Jahrhundert (Lacomblet, Archiv, I, p. 79 ff.), Hier finden sich zo, uiss (aus), zween, bezahlen; daneben in demselben Satz setten, dat nutteste (nützeste); ebenso Dache, redelich neben reicket (reicht); upladen, upheven, hulper (Helfer) neben verkouffen. In einem andern Absatz p. 85 steht abwechselnd sogar zo und tho - zu. Kurzum, die Mundarten des Gebirgs und der Ebne laufen fortwährend durcheinander, ohne daß es den Schreiber im geringsten stört. Wie immer ist diese letzte Welle, mit der die hochdeutsche Verschiebung fränkisches Gebiet überfließt, auch die schwächste und seichteste. Es ist sicher von Interesse, die Linie zu bezeichnen, bis wohin sie reicht. Aber eine Dialektgrenze kann diese Linie nicht sein; sie vermag nicht, eine selbständige |508| Gruppe alt und eng verwandter Mundarten voneinander zu reißen und den Vorwand zu bieten, kraft dessen man die gewaltsam getrennten Bruchstücke, im Widerspruch mit allen sprachlichen Tatsachen, entfernteren Gruppen zuweisen will.

2. Mittelfränkisch. Aus Vorstehendem geht selbstredend hervor, daß ich die Nordgrenze des Mittelfränkischen bedeutend südlicher setze, als gewöhnlich geschieht.

Aus der Tatsache, daß der linksrheinische mittelfränkische Landstrich zur Zeit Chlodwigs in alamannischem Besitz gewesen zu sein scheint, nimmt Arnold Veranlassung, die dortigen Ortsnamen auf Spuren alamannischer Ansiedlung zu untersuchen, und kommt zu dem Resultat, daß bis zur Linie Köln-Aachen sich eine vorfränkische, alamannische Bevölkerung nachweisen läßt; wobei selbstredend die Spuren, im Süden am zahlreichsten, gegen Norden immer seltner werden. Die Ortsnamen, sagt er, deuten auf ein zeitweiliges Vorrücken der Alamannen bis über die Gegend um Koblenz und Aachen hinaus wie auf einen längeren Besitz der Wetterau und der südlichen Gebiete im Nassauischen. Denn die Namen mit den echt alamannischen Endungen -ach, -brunen, -felden, -hofen, -ingen, -schwand, -stetten, -wangen und -weiler, die in rein fränkischem Gebiet nirgends vorkommen, finden sich vom Elsaß an über die ganze Pfalz, Rheinhessen und Rheinpreußen zerstreut, nur daß sie gegen Norden immer seltner werden und mehr und mehr den vorzugsweis fränkischen Namen auf -bach, -berg, -dorf, -born, -feld, -hausen, -heim und -scheid Platz machen ("Deutsche Urzeit").

Untersuchen wir zunächst die angeblich alamannischen Namen des mittelfränkischen Landes. Die Endungen -brunen, -stetten, -felden, -wangen sind mir auf der Reymannschen Karte (die ich, ein für allemal gesagt hier gebrauche) hier nirgends vorgekommen. Die Endung -schwand komm einmal vor: Metzelschwander Hof bei Winnweiler, und dann noch Schwanden nördl. von Landstuhl. Also beide Male in der oberfränkischen Pfalz, die uns hier noch nicht angeht. Auf -ach haben wir längs des Rheins Kreuznach, Bacharach, Hirzenach bei St. Goar, Rübenach bei Koblenz (Ribiniacus der Spruner-Menkeschen Gaukarte), Andernach (Antunnacum der Römer) daneben Wassenach. Da nun am ganzen linken Rheinufer zur Römerzeit die romanisierte keltische Endung -acum allgemein vorkommt - Tolbiacum - Zülpich, Juliacum - Jülich, Tiberiacum - Ziewerich bei Bergheim, Mederiacum -, so könnte in den meisten dieser Fälle höchstens die Wahl der Form -ach statt ich - alamannischen Einfluß anzeigen. Nur das eine Hirzenach (= Hirschenbach) ist unbedingt deutsch, und dies hieß nach der Gaukarte früher Hirzenowce = Hirschenau, nicht Hirschenbach. Wie aber dann |509| Wallach erklären, das zwischen Büderich und Rheinberg hart an der salischen Grenze liegt? Das ist doch sicher nicht alamannisch.

Im Moselgebiet kommen auch einige -ach vor: Irmenach östlich Bernkastel, Waldrach, Crettnach bei Trier, Mettlach an der Saar. In Luxemburg Echternach, Medernach, Kanach; in Lothringen nur rechts der Mosel: Montenach, Rodlach, Breitnach. Selbst wenn wir zugeben wollten, daß alle diese Namen auf alamannische Ansiedlung deuten, so doch nur auf eine sehr dünngesäte, die noch dazu nicht über den südlichsten Teil des mittelfränkischen Landes hinausgeht.

Bleiben -weiler, -hofen und -ingen, die eingehendere Untersuchung fordern.

Die Endung -weiler ist zunächst nicht ohne weiteres alamannisch, sondern das provinzial-lateinische villarium, villare, und findet sich höchstens ganz ausnahmsweise außerhalb der alten Grenzen des Römerreichs. Nicht die Verdeutschung von villare zu weiler war Privileg der Alamannen, sondern nur die Vorliebe, mit der sie diese Endung auch für neue Ansiedlungen massenhaft anwandten. Soweit römische villaria vorkommen, waren auch die Franken genötigt, die Endung als wilare, später weiler, zu verdeutschen oder sie ganz fallenzulassen. Wahrscheinlich taten sie bald das eine, bald das andere, wie sie sicher auch hier und da neuen Ansiedlungen Namen auf -weiler gegeben haben werden, nur weit seltner als die Alamannen. Arnold kann nördlich von Eschweiler bei Aachen und Ahrweiler keine bedeutenden Orte auf -weiler finden. Aber die heutige Bedeutung der Orte tut nichts zur Sache, die Tatsache ist, daß auf dem linken Rheinufer die -weiler sich nahe bis an die salische Grenze nach Norden erstrecken (Garzweiler und Holzweiler sind keine fünf Meilen vom nächsten niederländisch sprechenden Ort des Geldrischen) - nördlich der Linie Eschweiler und Ahrweiler gibt es ihrer mindestens zwanzig. Am häufigsten sind sie begreiflicherweise in der Nähe der alten Römerstraße von Maastricht über Jülich nach Köln, zwei davon, Walwiller und Nyswiller, sogar auf holländischem Gebiet; sind das auch alamannische Ansiedlungen?

Weiter südlich kommen sie in der Eifel fast gar nicht vor, die Sektion Malmedy (Nr. 159 Reymann) hat nicht einen einzigen Fall. Auch in Luxemburg sind sie selten, ebenso an der unteren Mosel und bis auf den Kamm des Hunsrücks. Dagegen treten sie an der oberen Mosel zu beiden Seiten des Flusses häufig auf, nach Osten zu immer dichter werdend, und östlich von Saarlouis werden sie mehr und mehr herrschende Endung. Hier aber fängt auch schon oberfränkische Sprache an, und hier wird von niemandem bestritten, daß die Alamannen vor den Franken das Land besetzt hatten.

|510| Für das mittelfränkische und ripuarische Gebiet beweisen also die -weiler ebensowenig wie die vielen -villers in Frankreich alamannische Artsiedlung.

Gehen wir über zu - hofen. Diese Endung ist erst recht nicht ausschließlich alamannisch. Sie kommt auf dem ganzen fränkischen Gebiet vor, mit Einschluß des später von Sachsen besetzten jetzigen Westfalens. Auf dem rechten Rheinufer nur ein paar Beispiele: Wehofen bei Ruhrort, Mellinghofen und Eppinghofen bei Duisburg, Benninghofen bei Mettmann, ein andres Eppinghofen bei Dinslaken, in Westfalen Kellinghofen bei Dorsten, Westhofen bei Castrop, Wellinghofen, Wichlinghofen, Niederhofen, zwei Benninghofen, Berghofen, Westhofen, Wandhofen, alle am Hellweg, usw. Bis in die Heidenzeit reicht Ereshofen an der Agger, Martis villa, und schon die Bezeichnung des Kriegsgottes als Eru zeigt, daß hier keine Alamannen denkbar sind, sie hießen sich Tiuwâri, nannten also den Gott nicht Eru, sondern Tiu, verschoben später Ziu.

Auf dem linken Rheinufer steht es noch schlimmer mit der alamannischen Abstammung des -hofen. Da ist wieder ein Eppinghofen südöstl. Xanten, also vielleicht schon salisch, und von da an südlich wimmelt das ganze ripuarische Gebiet von -hofen, neben -hof für Einzelhöfe. Gehen wir aber erst auf salisches Land, so wird's noch schlimmer. Die Maas wird an beiden Seiten, von der französischen Sprachgrenze an, von -hofen begleitet. Der Kürze halber wollen wir gleich aufs westliche Ufer gehn. Da finden wir in Holland und Belgien wenigstens sieben Ophoven, in Holland Kinckhoven usw.; für Belgien wollen wir zunächst die Sektion Löwen (Nr. 139 Reymann) nehmen. Hier gibt es Ruykhoven, Schalkhoven, Bommershoven, Wintershoven, Mettecoven, Helshoven, Engelmanshoven bei Tongern; Zonhoven, Reekhoven, Konings-Hoven bei Hasselt; weiter westlich Bogenhoven, Schuerhoven, Nieuwenhoven, Gippershoven, Baulershoven bei St. Truyen; am westlichsten Gussenhoven und Droenhoven östlich und nordöstlich Tirlemont (Thienen). Die Sektion Turnhout (Nr. 120) hat mindestens 33 -hoven, die meisten auf belgischem Gebiet. Weiter südwestlich gehen die -hove (das Dativ-n wird hier regelmäßig unterdrückt) der ganzen französischen Sprachgrenze entlang; von Heerlinkhove und Nieuwenhove bei Ninove, das selbst ein romanisiertes -hove ist - die Mittelglieder, ca. 10 gezählt, lasse ich weg -, bis Ghyverinckhove und Pollinchove bei Dixmuyden und Volkerinckhove bei St. Omer im französischen Flandern. Dreimal kommt Nieuwenhove vor, was beweist, daß die Endung noch im Volk lebendig ist. Daneben sehr zahlreiche Einzelhöfe auf -hof. Hiernach mag der angeblich ausschließlich alamannische Charakter des -hofen beurteilt werden.

|511| Endlich zu -ingen. Die Bezeichnung gleicher Abstammung durch -ing, -ung ist allen germanischen Völkern gemein. Da die Niederlassung geschlechterweise geschah, spielt diese Endung auch überall eine bedeutende Rolle in den Ortsnamen. Bald wird sie im genitivus pluralis mit einer Lokalendung verknüpft: Wolvaradingahusun bei Minden, Snotingaham (Nottingham) in England. Bald steht der Plural allein für die Ortsbezeichnung: Flissinghe (Vlissingen), Phladirtinga (Vlaardingen), Crastlingi im holländischen Friesland, Grupilinga, Britlinga, Otlinga in Altsachsen. Diese Namen sind heutzutage meist auf den Dativ reduziert und endigen auf -ingen, selten -ing. Die meisten Völker kennen und brauchen beide Verwendungsarten; die Alamannen, scheint es, vorwiegend die letztere, wenigstens jetzt. Rümmingen bei Lörrach hieß früher (764) Romaninchova, so daß die schwäbischen -ingen manchmal auch erst neueren Ursprungs sind (Mone, "Urzeit des badischen Landes", I, S. 213). Die schweizerischen -kon und -kofen sind fast alle aus -inghofen zusammengezogen: Zollinchovon - Zollikofen, Smarinchowa - Schmerikon, etc. Vgl, F. Beust, "Historischer Atlas des Kantons Zürich", wo sie sich zu Dutzenden auf der die Alamannenzeit repräsentierenden Karte 3 finden. Da diese aber auch bei Franken, Sachsen und Friesen vorkommen, so ist es sehr gewagt, aus dem Vorkommen von Ortsnamen auf -ingen sofort auf alamannische Ansiedlung zu schließen.

Die eben angeführten Namen beweisen, daß Namen auf -ingas (nominativus pluralis) und -ingum, -ingon (dativus pluralis) sowohl bei Friesen wie Sachsen von der Scheide bis zur Elbe nichts Ungewöhnliches waren. Auch heute noch sind die -ingen in ganz Niedersachsen keine Seltenheit. In Westfalen zu beiden Seiten der Ruhr, südlich der Linie Unna-Soest, finden sich allein mindestens zwölf -ingen neben -ingsen und -inghausen. Und so weit fränkisches Gebiet, so weit finden wir auch Namen auf -ingen.

Auf dem rechten Rheinufer finden wir zunächst in Holland Wageningen am Rhein und Genderingen an der Ijssel (wobei wir alle möglicherweise friesischen Namen ausschließen), im Bergischen Huckingen, Ratingen, Ehingen (dicht dahinter auf sächsischem Gebiet Hattingen, Sodingen, Ummingen), Heisingen bei Werden (das Grimm von der Silva Caesia des Tacitus herleitet, das also uralt wäre). Solingen, Hasingen, Leichlingen (auf der Gaukarte Leigelingon, also an tausend Jahre alt), Quettingen und an der Sieg Bödingen und Röcklingen, zwei Namen auf -ing ungerechnet. Hönningen bei Rheinbrohl und Ellingen im Wiedschen stellen die Verbindung her mit der Gegend zwischen Rhein, Lahn und Dill, die gering gezählt 12 -ingen liefert. Weiter südlich zu gehn, hat keinen Zweck, da hier das Land anfängt, das unbestritten eine Periode alamannischer Besiedlung durchgemacht hat.

|512| Links vom Rhein haben wir Millingen in Holland oberhalb Nijmegen, Lüttingen unterhalb Xanten, nochmals Millingen unterhalb Rheinberg, dann Kippingen, Rödingen, Höningen, Worringen, Fühlingen, alle nördlicher als Köln, Wesselingen und Köttingen bei Brühl. Von hier verfolgen die Namen auf -ingen zwei Richtungen. In der hohen Eitel sind sie selten; wir finden bei Malmedy an der französischen Sprachgrenze: Büllingen, Hünningen, Mürringen, Iveldingen, Eibertingen als Übergang zu den sehr zahlreichen -ingen in Luxemburg und an der preußischen und lothringischen Obermosel. Eine andre Verbindungslinie geht den Rhein und die Seitentäler (in der Ahrgegend 7 bis 8), schließlich das Moseltal entlang, ebenfalls nach der Gegend oberhalb Trier, wo die -ingen vorherrschen, aber zuerst durch die

-weiler und dann die -heim von der großen Masse der alamannisch-schwäbischen -ingen abgetrennt werden. Wenn wir also nach Arnolds Forderung "alle Umstände im Zusammenhang erwägen", so werden wir zu dem Schluß kommen, daß die -ingen des oberen deutschen Moselgebiets fränkisch sind und nicht alamannisch,

Wie wenig wir hier alamannische Hülfe nötig haben, wird erst recht klar, sobald wir die -ingen von der französisch-ripuarischen Sprachgrenze bei Aachen aus auf salisches Gebiet verfolgen. Bei Maaseyk westlich der Maas liegt Geystingen, weiter westlich - bei Brée Gerdingen. Dann finden wir, wenn wir wieder Sektion Nr. 139, Löwen, zur Hand nehmen: Mopertingen, Vlytingen, Rixingen, Aerdelingen, Grimmersingen, Gravelingen, Ordange (für Ordingen), Bevingen, Hatingen, Buvingen, Hundelingen, Bovelingen, Curange, Raepertingen, Boswinningen, Wimmertingen und andre in der Gegend von Tongern, St. Truyen und Hasselt. Die westlichsten, nicht weit von Löwen, sind Willebringen, Redingen, Grinningen. Hier scheint die Verbindung abzubrechen. Gehn wir aber auf das jetzt französisch redende, aber im 6. bis 9. Jahrhundert zwischen beiden Sprachen streitige Gebiet, so finden wir von der Maas an einen ganzen Gürtel französierter -ange, welche Form auch in Lothringen und Luxemburg dem -ingen entspricht, von Osten nach Westen gehend: Ballenge, Roclenge, Ortrange, Lantremange, Roclange, Libertange, Noderange, Herdange, Oderinge, Odange, Gobertang, Wahenges; etwas weiter westlich Louvrenge bei Wavre und Revelinge bei Waterloo stellen die Verbindung her mit Huysinghen und Buisinghen, den ersten Posten einer Gruppe von über 20 -inghen, die sich südwestlich von Brüssel von Hal bis Grammont die Sprachgrenze entlang verbreitet. Und endlich in französisch Flandern: Gravelingen, Wulverdinghe (also ganz das altsächsische Wolvaradinges-hûsun), Leubringhen, Leulinghen, Bonninghen, Peuplingue, Hardinghen, Hermelinghen, bei St. Omer und bis hinter Boulogne Herbinghen, |513| Hocquinghen, Velinghen, Lottinghen, Ardinghen, alle scharf geschieden von den in derselben Gegend noch zahlreicheren Namen auf -inghem (-ingheim).

Die drei Endungen also, die Arnold für spezifisch alamannisch hält, erwiesen sich ebensosehr als fränkisch, und der Versuch, eine alamannische Ansiedlung vor der fränkischen auf mittelfränkischem Gebiet aus diesen Namen zu beweisen, muß als gescheitert gelten. Wobei die Möglichkeit eines nicht sehr starken alamannischen Elements im südöstlichen Teil dieses Gebiets immer zugegeben werden kann.

Von den Alamannen führt uns Arnold zu den Chatten. Diese sollen, mit Ausschluß der eigentlichen Ripuarier, das Gebiet südlich vom Gau Ribuaria, dasselbe also, das wir mittel- und oberfränkisch nennen, nach und neben den Alamannen besetzt haben. Auch dies wird aus den sich in dieser Gegend neben den alamannischen findenden hessischen Ortsnamen begründet:

"Die Übereinstimmung der Ortsnamen diesseits und jenseits des Rheins bis zur alamannischen Grenze ist so merkwürdig und auffallend, daß es ein wahres Wunder wäre, wenn sie zufällig sein sollte, wogegen sie überaus natürlich erscheint, sobald wir annehmen, daß die Einwanderer ihre heimischen Ortsnamen auch den neuen Sitzen beilegten, wie das in Amerika noch alle Tage geschieht."

Gegen diesen Satz ist wenig zu sagen. Um so mehr gegen die Schlußfolgerung, daß die eigentlichen Ripuarier mit der Besiedlung des ganzen mittel- und oberfränkischen Landes nichts zu tun hatten, daß wir hier nur Alamannen und Chatten finden. Die meisten der von der Heimat nach Westen ausgezogenen Chatten scheinen sich von jeher (so schon die Bataver, Canninefaten und Chattuarier) den Iskävonen angeschlossen zu haben; wohin sollten sie sich auch wenden? In den ersten beiden Jahrhunderten unserer Zeitrechnung waren die Chatten nur im Rücken durch die Thüringer mit den übrigen Herminonen verknüpft; auf der einen Seite hatten sie ingävonische Cherusker, auf der andern Iskävonen und vor sich die Römer. Die herminonischen Stämme, die später vereint als Alamannen auftreten, kamen aus dem Innern Germaniens, waren von den Chatten seit Jahrhunderten durch Thüringer und andre Völker getrennt und ihnen viel fremder geworden als die iskävonischen Franken, mit denen mehrhundertjährige Waffenbrüderschaft sie verband. Die Beteiligung der Chatten an der Besetzung des fraglichen Landstrichs wird also nicht bezweifelt. Wohl aber der Ausschluß der Ripuarier davon. Dieser ist nur dann nachgewiesen, wenn hier keine spezifisch ripuarischen Namen vorkommen. Das Gegenteil findet statt.

Unter den von Arnold als spezifisch fränkisch angegebnen Endungen |514| ist -hausen Franken, Sachsen, Hessen und Thüringern gemein; -heim heißt salisch -ham, -bach salisch und niederripuarisch -beek; von den andern ist nur -scheid wirklich charakteristisch. Es ist spezifisch ripuarisch, ebenso wie -ich, -rath oder -rade, und -siepen. Beiden fränkischen Dialekten gemein sind ferner -loo (loh), -donk und -bruch oder -broich (salisch -broek).

-scheid kommt nur im Gebirge vor und in der Regel von Orten auf der Wasserscheide. Die Franken haben diese Endung im ganzen westfälischen Sauerland zurückgelassen bis an die hessische Grenze, wo sie nur noch als Bergnamen bis östlich Korbach vorkommt. An der Ruhr tritt dem altfränkischen -scheid die sächsisch gemachte Endung -schede gegenüber:

Melschede, Selschede, Meschede, dicht dabei Langscheid, Ramscheid, Bremscheid. Im Bergischen häufig, findet es sich bis in den Westerwald, aber nicht südlicher, auf der rechten Rheinseite. Links vom Rhein dagegen fangen die

-scheid begreiflicherweise erst in der Eifel an (3); in Luxemburg sind ihrer mindestens 21, im Hochwald und Hunsrück sind sie häufig. Aber wie südlich der Lahn, so tritt ihnen auch hier an der Ost- und Südseite des Hunsrücks und Soonwalds die Form -schied zur Seite, welche eine hessische Adaptation scheint. Beide Formen nebeneinander ziehen sich südlich über die Nahe bis an die Vogesen, wo wir finden: Bisterscheid westlich vom Donnersberg, Langenscheid bei Kaiserslautern, ein Plateau Breitscheid südlich Hochspeyer, Haspelscheid bei Bitsch, den Scheidwald nördlich Lützelstein, endlich als südlichsten Posten Walscheid am Nordabhang des Donon, noch südlicher als das Dorf Hessen bei Saarburg, den äußersten chattischen Posten bei Arnold.

Spezifisch ripuarisch ist ferner -ich, aus derselben Wurzel gotisch -ahva - Wasser, wie -ach, beide verdeutschen auch das belgisch-römische -acum, wie Tiberiacum beweist, auf der Gaukarte Civiraha, heute Ziewerich. Rechtsrheinisch ist es nicht sehr häufig; Meiderich und Lirich bei Ruhrort sind die nördlichsten, von da an ziehen sie sich den Rhein entlang bis Biebrich. Die linksrheinische Ebene, von Büderich gegenüber Wesel an, ist voll davon, durch die Eifel gehn sie bis in den Hochwald und Hunsrück, verschwinden aber im Soonwald und der Nahegegend, noch ehe -scheid und -roth aufhören. Im westlichen Teil unsres Gebiets dagegen gehn sie fort bis an die französische Sprachgrenze und darüber hinaus. Das Triersche, das eine Menge hat, übergehn wir; im holländischen Luxemburg zähle ich |515| zwölf, noch jenseits im belgischen Törnich und Merzig (Messancy - die Schreibart -ig ändert nichts, Etymologie und Aussprache sind dieselben), in Lothringen Soetrich, Sentzich, Marspich, Daspich westlich der Mosel; östlich von ihr Kintzich, Penserich, Kemplich, Destrich, zweimal Kerprich, Hibrich, Helsprich.

Die Endung -rade, -rad, linksrheinisch -rath, geht ebenfalls weit über die Grenzen ihrer altripuarischen Heimat hinaus. Sie erfüllt die ganze Eifel und das mittlere und niedere Moseltal sowie dessen Seitentäler. In derselben Gegend, wo -scheid sich mit -schied mischt, kommt auf beiden Rheinufern -rod, -roth neben -rad und -rath vor, ebenfalls hessischen Ursprungs, nur daß rechtsrheinisch, im Westerwald, die -rod weiter nördlich gehn. Im Hochwald hat der Nordabhang -rath, der Südabhang -roth als Regel.

Am wenigsten vorgedrungen ist -siepen, verschoben -seifen. Das Wort bedeutet ein kleines Bachtal mit steilem Gefälle und wird noch allgemein dafür gebraucht. Links vom Rhein reicht es nicht weit über die altripuarische Grenze, rechts findet es sich im Westerwald an der Nister und noch bei Langenschwalbach (Langenseifen).

Auf die anderen Endungen einzugehn würde zu weit führen. Jedenfalls aber dürfen wir die zahllosen -heim, die den Rhein von Bingen aufwärts bis weit ins alamannische Gebiet hinein begleiten und die sich überhaupt überall finden, wo Franken sich niedergelassen, für nicht chattisch, sondern ripuarisch erklären. Ihre Heimat ist nicht in Hessen, wo sie selten vorkommen und später eingedrungen scheinen, sondern im Salierland und der Rheinebene um Köln, wo sie neben den andern spezifisch ripuarischen Namen in fast gleicher Zahl vorkommen.

Das Resultat dieser Untersuchung ist also, daß die Ripuarier, weit entfernt davon, durch den Strom hessischer Einwanderung an Westerwald und Eifel festgehalten zu sein, im Gegenteil selbst das ganze mittelfränkische Gebiet überfluteten. Und zwar in der Richtung nach Südwesten, nach dem oberen Moselgebiet, stärker als nach Südosten, nach dem Taunus und dem Nahegebiet. Dies wird auch durch die Sprache bestätigt. Die südwestlichen Mundarten, bis nach Luxemburg und Westlothringen hinein, stehen dem Ripuarischen weit näher als die östlichen, besonders rechtsrheinischen. Jene können als eine mehr hochdeutsch verschobene Verlängerung des Ripuarischen gelten.

Das Charakteristische der mittelfränkischen Mundarten ist zunächst das Eindringen der hochdeutschen Verschiebung. Nicht der bloßen Verschiebung einiger Tenues zu Aspiraten, die sich auf verhältnismäßig wenige |516| Worte erstreckt und den Charakter der Mundart nicht berührt, sondern die beginnende Verschiebung der Medien, die die eigentümlich mittel- und oberdeutsche Vermischung von b und p, g und k, d und t herbeiführt. Erst wo die Unmöglichkeit sich zeigt, b und p, d und t, g und k im Anlaut scharf zu unterscheiden, also das, was die Franzosen ganz besonders unter accent allemand verstehen, erst da macht sich dem Niederdeutschen der große Riß fühlbar, den die zweite Lautverschiebung durch die deutsche Sprache gerissen hat. Und dieser Riß geht durch zwischen Sieg und Lahn, zwischen Ahr und Mosel. Danach hat das Mittelfränkische ein anlautendes g, das den nördlicheren Dialekten fehlt, in- und auslautend spricht es indes noch weiches ch für g. Ferner geht das ei und ou der nördlichen Dialekte in ai und au über.

Einige echt fränkische Besonderheiten: In allen salischen und ripuarischen Mundarten ist Bach, unverschoben Beek, weiblich. Dies gilt auch für wenigstens den größten, westlichen Teil des Mittelfränkischen. Wie die zahllosen andern gleichnamigen Bäche in Niederland und am Niederrhein, ist auch die luxemburgische Glabach (Gladbach, niederländisch Gladbeek) weiblich. Dagegen werden Mädchennamen als Neutra behandelt: Man sagt nicht nur das Mädchen, das Mariechen, das Lisbethchen, sondern auch das Marie, das Lisbeth, von Barmen bis über Trier hinaus. Bei Forbach in Lothringen zeigt die ursprünglich von Franzosen aufgenommene Karte einen Karninschesberg (Kaninchenberg). Also dasselbe Diminutiv -schen, pluralis -sches, das wir oben als ripuarisch fanden.

Mit der Wasserscheide zwischen Mosel und Nahe und rechts des Rheins mit dem Hügelland südlich der Lahn fängt eine neue Gruppe von Mundarten an:

3. Oberfränkisch. Hier sind wir auf einem Landstrich, der unbestritten zuerst alamannisches Eroberungsgebiet war (abgesehn von der früheren Besetzung durch Vangionen usw., von deren Stammverwandtschaft und Sprache wir nichts wissen), und wo auch eine stärkere chattische Beimischung gern zugegeben werden kann. Aber auch hier weisen die Ortsnamen, wie wir nicht zu wiederholen brauchen, auf die Anwesenheit nicht unbedeutender ripuarischer Elemente hin, besonders in der Rheinebene. Noch mehr aber die Sprache selbst. Nehmen wir den südlichsten bestimmbaren Dialekt, der zugleich eine Literatur hat, den pfälzischen. Hier finden wir wieder die allgemein fränkische Unmöglichkeit, in- und auslautendes g anders denn als weiches ch auszusprechen.(4) Es heißt da: Vöchel, Flechel, |517| geleche (gelegen), gsacht - gesagt, licht - liegt etc. Ebenso das allgemein fränkische w statt b im Inlaut: Bûwe - Buben, glâwe - glauben (aber i glâb), bleiwe, selwer - selbst, halwe - halbe. Die Verschiebung ist lange nicht so vollkommen, wie sie aussieht, es findet sogar, bei Fremdwörtern namentlich, Rückverschiebung statt, d.h., der stumme Konsonant des Anlautes wird eine Stufe nicht vorwärts, sondern rückwärts verschoben: t wird d, p wird b, wie sich zeigen wird; d und p im Anlaut bleiben auf niederdeutscher Stufe: dûn - tun, dag, danze, dür, dodt; jedoch vor r: trinke, trage; paff - Pfaff, peife, palz - Pfalz, parre - Pfarrer. Da nun d und p für hochdeutsch t und pf stehn, so wird auch in Fremdwörtern anlautendes t zu d, anlautendes p aber zu b rückverschoben: derke - Türke, dafel - Tafel, babeer -Papier, borzlan - Porzellan, bulwer - Pulver. Dann duldet das Pfälzische, hierin nur mit dem Dänischen stimmend, keine Tenues zwischen Vokalen: ebbes - etwas, labbe - Lappen, schlubbe - schlupfen, schobbe - Schoppen, Peder - Peter, dridde - dritte, rodhe - raten. Nur k bildet eine Ausnahme: brocke, backe. Aber in Fremdwörtern g: musigande - Musikanten. Es ist dies ebenfalls ein Rest niederdeutscher Lautstufe, der sich vermittelst Rückverschiebung weiter ausgedehnt hat |von Engels mit Bleistift am Rand vermerkt: stimmt mit Otfried|; nur dadurch, daß dridde, hadde unverschoben blieb, konnte aus Peter Peder werden und so die entsprechenden hochdeutschen t gleiche unparteiische Behandlung erfahren. Ebenso bleibt in halde - halten, alde - alte usw. d auf niederdeutscher Stufe.

Trotz des, für Niederdeutsche, entschieden hochdeutschen Gesamteindrucks ist also die Pfälzer Mundart weit entfernt davon, die hochdeutsche Lautverschiebung auch nur so weit angenommen zu haben, wie unsre Schriftsprache sie bewahrt. Im Gegenteil, das Pfälzische protestiert vermittelst seiner Rückverschiebung gegen die hochdeutsche Stufe, die, von außen eingedrungen, bis heute sich als fremdes Element in der Mundart erweist.

Es ist hier der Ort, auf eine gewöhnlich verkannte Erscheinung einzugehn: auf die Verwechslung von d und t, b und p, selbst g und k bei denjenigen Deutschen, in deren Dialekt die Medien hochdeutsche Verschiebung erlitten haben. Diese Verwechslung findet nicht statt, solange jeder seine Mundart spricht. Im Gegenteil. Wir haben soeben gesehn, daß z.B. der Pfälzer hier sehr genau unterscheidet, so sehr, daß er sogar Fremdwörter rückwärts verschiebt, um sie den Anforderungen seines Dialekts anzupassen. Ausländisches anlautendes t wird ihm nur darum zu d, weil schriftdeutsches t seinem d, ausländisches p zu b, weil seinem p schriftdeutsches |518| pf entspricht. Ebensowenig werden in andern oberdeutschen Mundarten die stummen Konsonanten durcheinandergeworfen, solange man die Mundart spricht. Jede derselben hat ihr eignes, genau durchgeführtes Verschiebungsgesetz. Anders wird es, sobald die Schriftsprache oder eine fremde Sprache gesprochen wird. Der Versuch, das jedesmalige mundartliche Verschiebungsgesetz auf diese anzuwenden - und dieser Versuch wird unwillkürlich gemacht -, kollidiert mit dem Versuch, die neue Sprache korrekt zu sprechen. Dabei verlieren dann die geschriebenen b und p, d und t alle feste Bedeutung, und so konnte es kommen, daß z.B. Börne in seinen Pariser Briefen sich darüber beklagt, die Franzosen könnten b und p nicht unterscheiden, weil sie hartnäckig meinten, sein Name, den er Perne aussprach, finge mit einem p an.

Doch zurück zur Pfälzer Mundart. Der Nachweis, daß ihr die hochdeutsche Verschiebung sozusagen von außen aufgedrängt und bis heute noch ein fremdes Element geblieben, dazu auch nicht einmal die Lautstufe der Schriftsprache erreicht (über die weit hinausgehend Alamannen und Bayern im ganzen diese oder jene althochdeutsche Stufe bewahren) - dieser Beweis allein reicht hin, den vorwiegend fränkischen Charakter des Pfälzischen festzustellen. Denn selbst in dem weit nördlicher liegenden Hessen ist die Verschiebung im ganzen weiter durchgeführt und damit der angeblich vorwiegend hessische Charakter des Pfälzischen auf ein bescheidenes Maß zurückgeführt. Um hart an der alamanmschen Grenze, unter zurückgebliebnen Alamannen, der hochdeutschen Verschiebung solchen Widerstand zu leisten, dazu müssen neben den, selbst wesentlich hochdeutschen, Hessen mindestens ebenso zahlreiche Ripuarier am Platz gewesen sein. Und deren Anwesenheit wird ferner bewiesen - außer durch die Ortsnamen - durch zwei allgemein fränkische Eigenheiten: die Bewahrung des fränkischen w statt b im Inlaut und die Aussprache des g als ch im In- und Auslaut. Dazu kommen noch eine Menge einzelner Fälle von Übereinstimmung. Mit dem pfälzischen Gundach - "guten Tag" kommt man bis Dünkirchen und Amsterdam. Ebenso wie in der Pfalz "ein gewisser Mann" ein sichrer Mann heißt, so in ganz Niederland een zekeren man. Handsching für Handschuh stimmt zum ripuarischen Händschen. Sogar g für j in Ghannisnacht (Johannisnacht) ist ripuarisch und geht, wie wir sehen, bis ins Münsterland. Und das allen Franken, auch den Niederländern, gemeinsame baten (bessern, nützen von bat - besser) ist in der Pfalz gebräuchlich: 's badd alles nix - es hilft alles nichts - wo sogar das t nicht hochdeutsch zu tz verschoben, sondern pfälzisch zwischen Vokalen zu d erweicht ist.


Fußnoten von Friedrich Engels

(1) P. Roth, "Geschichte des Beneficialwesens", Erlangen 1850. Eins der besten Bücher der vormaurerschen Zeit, dem ich in diesem Kapitel manches entlehne. <=

(2) "Kleine altsächsische und altniederfränkische Grammatik" von Moritz Heyne, Paderborn 1873. <=

(3) (Anm.) In der Ebene finde ich nur Waterscheid, östlich Hasselt im belgischen Limburg, wo wir schon oben starke ripuarische Mischung beobachteten. <=

(4) Alle Zitate sind aus "Fröhlich Palz, Gott erhalt's! Gedichte in Pfälzer Mundart" von K. G. Nadler, Frankfurt a. M, 1851. <=