MLWerke | Einleitung | Inhalt | 2. Abschnitt | Marx/Engels

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/ Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 20. Berlin/DDR. 1962. »Herrn Eugen Dührung's Umwälzung der Wissenschaft«, S. 32-135.
1. Korrektur
Erstellt am 30.08.1999

Friedrich Engels - Herrn Eugen Dühring's Umwälzung der Wissenschaft

Einleitung


III. Einteilung. Apriorismus

|32| Philosophie ist, nach Herrn Dühring, die Entwicklung der höchsten Form des Bewußtseins von Welt und Leben und umfaßt in einem weitern Sinne die Prinzipien alles Wissens und Wollens. Wo irgendeine Reihe von Erkenntnissen oder Antrieben oder eine Gruppe von Existenzformen für das menschliche Bewußtsein in Frage kommt, müssen die Prinzipien dieser Gestalten ein Gegenstand der Philosophie sein. Diese Prinzipien sind die einfachen oder bis jetzt als einfach vorausgesetzten Bestandteile, aus denen sich das mannigfaltige Wissen und Wollen zusammensetzen läßt. Ähnlich wie die chemische Konstitution der Körper kann auch die allgemeine Verfassung der Dinge auf Grundformen und Grundelemente zurückgeführt werden. Diese letzten Bestandteile oder Prinzipien gelten, sobald sie einmal gewonnen sind, nicht bloß für das unmittelbar Bekannte und Zugängliche, sondern auch für die uns unbekannte und unzugängliche Welt. Die philosophischen Prinzipien bilden mithin die letzte Ergänzung, deren die Wissenschaften bedürfen, um zu einem einheitlichen System der Erklärung von Natur und Menschenleben zu werden. Außer den Grundformen aller Existenz hat die Philosophie nur zwei eigentliche Gegenstände der Untersuchung, nämlich die Natur und die Menschenwelt. Hiernach ergeben sich für die Anordnung unsres Stoffs völlig ungezwungen drei Gruppen, nämlich die allgemeine Weltschematik, die Lehre von den Naturprinzipien und schließlich diejenige vom Menschen. In dieser Abfolge ist zugleich eine innere logische Ordnung enthalten; denn die formalen Grundsätze, welche für alles Sein gelten, gehn voran, und die gegenständlichen Gebiete, auf die sie anzuwenden sind, folgen in der Abstufung ihrer Unterordnung nach.

So weit Herr Dühring, und fast ausschließlich wörtlich. Also um Prinzipien handelt es sich bei ihm, um aus dem Denken, nicht aus der äußern Welt, abgeleitete formale Grundsätze, die auf die Natur und das Reich des Menschen anzuwenden sind, nach denen also Natur und Mensch sich zu richten haben. Aber woher nimmt das Denken diese Grundsätze? Aus sich selbst? Nein, denn Herr Dühring sagt selbst: das rein ideelle |33| Gebiet beschränkt sich auf logische Schemata und mathematische Gebilde (welches letztere noch dazu falsch ist, wie wir sehn werden). Die logischen Schemata können sich nur auf Denkformen beziehn; hier aber handelt es sich nur um die Formen des Seins, der Außenwelt, und diese Formen kann das Denken niemals aus sich selbst, sondern eben nur aus der Außenwelt schöpfen und ableiten. Damit aber kehrt sich das ganze Verhältnis um: die Prinzipien sind nicht der Ausgangspunkt der Untersuchung, sondern ihr Endergebnis; sie werden nicht auf Natur und Menschengeschichte angewandt, sondern aus ihnen abstrahiert; nicht die Natur und das Reich des Menschen richten sich nach den Prinzipien, sondern die Prinzipien sind nur insoweit richtig, als sie mit Natur und Geschichte stimmen. Das ist die einzige materialistische Auffassung der Sache, und die entgegenstehende des Herrn Dühring ist idealistisch, stellt die Sache vollständig auf den Kopf und konstruiert die wirkliche Welt aus dem Gedanken, aus irgendwo vor der Welt von Ewigkeit bestehenden Schematen, Schemen oder Kategorien, ganz wie - ein Hegel.

In der Tat. Legen wir die »Enzyklopädie« Hegels mit all ihren Fieberphantasien neben die endgültigen Wahrheiten letzter Instanz des Herrn Dühring. Bei Herrn Dühring haben wir erstens die allgemeine Weltschematik, die bei Hegel die Logik heißt. Dann haben wir bei beiden die Anwendung dieser Schemata, beziehungsweise logischen Kategorien auf die Natur: Naturphilosophie, und endlich deren Anwendung auf das Reich des Menschen, was Hegel die Philosophie des Geistes nennt. Die »innerlich logische Ordnung« der Dühringschen Abfolge führt uns also »völlig ungezwungen« auf Hegels »Enzyklopädie« zurück, aus der sie mit einer Treue entnommen ist, die den Ewigen Juden der Hegelschen Schule, den Professor Michelet in Berlin, zu Tränen rühren wird.

Das kommt davon, wenn man »das Bewußtsein«, »das Denken« ganz naturalistisch als etwas Gegebnes, von vornherein dem Sein, der Natur Entgegengesetztes, so hinnimmt. Dann muß man es auch höchst merkwürdig finden, daß Bewußtsein und Natur, Denken und Sein, Denkgesetze und Naturgesetze so sehr zusammenstimmen. Fragt man aber weiter, was denn Denken und Bewußtsein sind und woher sie stammen, so findet man, daß es Produkte des menschlichen Hirns und daß der Mensch selbst ein Naturprodukt, das sich in und mit seiner Umgebung entwickelt hat; wobei es sich dann von selbst versteht, daß die Erzeugnisse des menschlichen Hirns, die in letzter Instanz ja auch Naturprodukte sind, dem übrigen Naturzusammenhang nicht widersprechen, sondern entsprechen.

Aber Herr Dühring darf sich diese einfache Behandlung der Sache nicht |34| erlauben. Er denkt nicht nur im Namen der Menschheit - was doch schon eine ganz hübsche Sache wäre -, sondern im Namen der bewußten und denkenden Wesen aller Weltkörper:

In der Tat, es wäre »eine Herabwürdigung der Grundgestalten des Bewußtseins und Wissens, wenn man ihre souveräne Geltung und ihren unbedingten Anspruch auf Wahrheit durch das Epitheton menschlich ausschließen oder auch nur verdächtigen wollte«.

Damit also nicht der Verdacht aufkomme, als sei auf irgendeinem andern Weltkörper zwei mal zwei gleich fünf, darf Herr Dühring das Denken nicht als menschliches bezeichnen, muß es damit abtrennen von der einzigen wirklichen Grundlage, auf der es für uns vorkommt, nämlich vom Menschen und der Natur, und plumpst damit rettungslos in eine Ideologie, die ihn als Epigonen des »Epigonen« Hegel auftreten macht. Übrigens werden wir Herrn Dühring noch öfters auf andern Weltkörpern begrüßen.

Es versteht sich von selbst, daß man auf so ideologischer Grundlage keine materialistische Lehre gründen kann. Wir werden später sehn, daß Herr Dühring genötigt ist, der Natur mehr als einmal bewußte Handlungsweise unterzuschieben, also das, was man auf deutsch Gott nennt.

Indes hatte unser Wirklichkeitsphilosoph auch noch andre Beweggründe, die Grundlage aller Wirklichkeit aus der wirklichen Welt in die Gedankenwelt zu übertragen. Die Wissenschaft von diesem allgemeinen Weltschematismus, von diesen formellen Grundsätzen des Seins, ist ja grade die Grundlage von Herrn Dührings Philosophie. Wenn wir den Weltschematismus nicht aus dem Kopf, sondern bloß vermittelst des Kopfs aus der wirklichen Welt, die Grundsätze des Seins aus dem, was ist, ableiten, so brauchen wir dazu keine Philosophie, sondern positive Kenntnisse von der Welt und was in ihr vorgeht; und was dabei herauskommt, ist ebenfalls keine Philosophie, sondern positive Wissenschaft. Damit wäre aber Herrn Dührings ganzer Band nichts als verlorne Liebesmüh.

Ferner: wenn keine Philosophie als solche mehr nötig, dann auch kein System, selbst kein natürliches System der Philosophie mehr. Die Einsicht, daß die Gesamtheit der Naturvorgänge in einem systematischen Zusammenhang steht, treibt die Wissenschaft dahin, diesen systematischen Zusammenhang überall im einzelnen wie im ganzen nachzuweisen. Aber eine entsprechende, erschöpfende, wissenschaftliche Darstellung dieses Zusammenhangs, die Abfassung eines exakten Gedankenabbildes des Weltsystems, in dem wir leben, bleibt für uns sowohl wie für alle Zeiten eine Unmöglichkeit. Würde an irgendeinem Zeitpunkt der Menschheitsentwicklung ein solches endgültig abschließendes System der Weltzusammenhänge, |35| physischer wie geistiger und geschichtlicher, fertiggebracht, so wäre damit das Reich der menschlichen Erkenntnis abgeschlossen, und die zukünftige geschichtliche Fortentwicklung abgeschnitten von dem Augenblick an, wo die Gesellschaft im Einklang mit jenem System eingerichtet ist - was eine Absurdität, ein reiner Widersinn wäre. Die Menschen finden sich also vor den Widerspruch gestellt: einerseits das Weltsystem erschöpfend in seinem Gesamtzusammenhang zu erkennen, und andrerseits, sowohl ihrer eignen wie der Natur des Weltsystems nach, diese Aufgabe nie vollständig lösen zu können. Aber dieser Widerspruch liegt nicht nur in der Natur der beiden Faktoren: Welt und Menschen, sondern er ist auch der Haupthebel des gesamten intellektuellen Fortschritts und löst sich tagtäglich und fortwährend in der unendlichen progressiven Entwicklung der Menschheit, ganz wie z.B. mathematische Aufgaben in einer unendlichen Reihe oder einem Kettenbruch ihre Lösung finden. Tatsächlich ist und bleibt jedes Gedankenabbild des Weltsystems objektiv durch die geschichtliche Lage und subjektiv durch die Körper- und Geistesverfassung seines Urhebers beschränkt. Aber Herr Dühring erklärt von vornherein seine Denkweise für eine solche, die jede Anwandlung zu einer subjektivistisch beschränkten Weltvorstellung ausschließt. Wir sahn vorher, er war allgegenwärtig - auf allen möglichen Weltkörpern. Jetzt sehn wir auch, daß er allwissend ist. Er hat die letzten Aufgaben der Wissenschaft gelöst und so die Zukunft aller Wissenschaft mit Brettern zugenagelt.

Wie die Grundgestalten des Seins, meint Herr Dühring, auch die gesamte reine Mathematik apriorisch, d.h. ohne Benutzung der Erfahrungen, die uns die Außenwelt bietet, aus dem Kopf heraus fertigbringen zu können.

In der reinen Mathematik soll sich der Verstand befassen »mit seinen eignen freien Schöpfungen und Imaginationen«; die Begriffe von Zahl und Figur sind »ihr zureichendes und von ihr selbst erzeugbares Objekt«, und somit hat sie eine »von der besondern Erfahrung und dem realen Weltinhalt unabhängige Geltung«.

Daß die reine Mathematik eine von der besondern Erfahrung jedes einzelnen unabhängige Geltung hat, ist allerdings richtig und gilt von allen festgestellten Tatsachen aller Wissenschaften, ja von allen Tatsachen überhaupt. Die magnetischen Pole, die Zusammensetzung des Wassers aus Wasserstoff und Sauerstoff, die Tatsache, daß Hegel tot ist und Herr Dühring lebt, gelten unabhängig von meiner oder andrer einzelnen Leute Erfahrung, selbst unabhängig von der des Herrn Dühring, sobald er den Schlaf des Gerechten schläft. Keineswegs aber befaßt sich in der reinen |36| Mathematik der Verstand bloß mit seinen eignen Schöpfungen und Imaginationen. Die Begriffe von Zahl und Figur sind nirgends anders hergenommen, als aus der wirklichen Welt. Die zehn Finger, an denen die Menschen zählen, also die erste arithmetische Operation vollziehn gelernt haben, sind alles andre, nur nicht eine freie Schöpfung des Verstandes. Zum Zählen gehören nicht nur zählbare Gegenstände, sondern auch schon die Fähigkeit, bei Betrachtung dieser Gegenstände von allen ihren übrigen Eigenschaften abzusehn außer ihrer Zahl - und diese Fähigkeit ist das Ergebnis einer langen geschichtlichen, erfahrungsmäßigen Entwicklung. Wie der Begriff Zahl, so ist der Begriff Figur ausschließlich der Außenwelt entlehnt, nicht im Kopf aus dem reinen Denken entsprungen. Es mußte Dinge geben, die Gestalt hatten und deren Gestalten man verglich, ehe man auf den Begriff Figur kommen konnte. Die reine Mathematik hat zum Gegenstand die Raumformen und Quantitätsverhältnisse der wirklichen Welt, also einen sehr realen Stoff. Daß dieser Stoff in einer höchst abstrakten Form erscheint, kann seinen Ursprung aus der Außenwelt nur oberflächlich verdecken. Um diese Formen und Verhältnisse in ihrer Reinheit untersuchen zu können, muß man sie aber vollständig von ihrem Inhalt trennen, diesen als gleichgültig beiseite setzen; so erhält man die Punkte ohne Dimensionen, die Linien ohne Dicke und Breite, die a und b und x und y, die Konstanten und die Variablen, und kommt dann ganz zuletzt erst auf die eignen freien Schöpfungen und Imaginationen des Verstandes, nämlich die imaginären Größen. Auch die scheinbare Ableitung mathematischer Größen aus einander beweist nicht ihren apriorischen Ursprung, sondern nur ihren rationellen Zusammenhang. Ehe man auf die Vorstellung kam, die Form eines Zylinders aus der Drehung eines Rechtecks um eine seiner Seiten abzuleiten, muß man eine Anzahl wirklicher Rechtecke und Zylinder, wenn auch in noch so unvollkommner Form, untersucht haben. Wie alle andern Wissenschaften ist die Mathematik aus den Bedürfnissen der Menschen hervorgegangen: aus der Messung von Land und Gefäßinhalt, aus Zeitrechnung und Mechanik. Aber wie in allen Gebieten des Denkens werden auf einer gewissen Entwicklungsstufe die aus der wirklichen Welt abstrahierten Gesetze von der wirklichen Welt getrennt, ihr als etwas Selbständiges gegenübergestellt, als von außen kommende Gesetze, wonach die Welt sich zu richten hat. So ist es in Gesellschaft und Staat hergegangen, so und nicht anders wird die reine Mathematik nachher auf die Welt angewandt, obwohl sie eben dieser Welt entlehnt ist und nur einen Teil ihrer Zusammensetzungsformen darstellt - und grade nur deswegen überhaupt anwendbar ist.

|37| Wie aber Herr Dühring sich einbildet, aus den mathematischen Axiomen, die

»auch nach der rein logischen Vorstellung einer Begründung weder fähig noch bedürftig sind«,

ohne irgendwelche erfahrungsmäßige Zutat die ganze reine Mathematik ableiten und diese dann auf die Welt anwenden zu können, ebenso bildet er sich ein, zuerst die Grundgestalten des Seins, die einfachen Bestandteile alles Wissens, die Axiome der Philosophie, aus dem Kopf erzeugen, aus ihnen die ganze Philosophie oder Weltschematik ableiten und diese seine Verfassung der Natur und Menschenwelt Allerhöchst oktroyieren zu können. Leider besteht die Natur gar nicht und die Menschenwelt nur zum allergeringsten Teil aus den Manteuffelschen Preußen von 1850.

Die mathematischen Axiome sind die Ausdrücke des höchst dürftigen Gedankeninhalts, den die Mathematik der Logik entlehnen muß. Sie lassen sich auf zwei zurückführen:

1. Das Ganze ist größer als der Teil. Dieser Satz ist eine reine Tautologie, da die quantitativ gefaßte Vorstellung: Teil sich von vornherein in bestimmter Weise auf die Vorstellung: Ganzes bezieht, nämlich so, daß »Teil« ohne weiteres besagt, daß das quantitative »Ganze« aus mehreren quantitativen »Teilen« besteht. Indem das sogenannte Axiom dies ausdrücklich konstatiert, sind wir keinen Schritt weiter. Man kann diese Tautologie sogar gewissermaßen beweisen, wenn man sagt: ein Ganzes ist das, was aus mehreren Teilen besteht; ein Teil ist das, von dem mehrere ein Ganzes ausmachen, folglich ist der Teil kleiner als das Ganze - wo die Öde der Wiederholung die Öde des Inhalts noch stärker hervortreten läßt.

2. Wenn zwei Größen einer dritten gleich sind, so sind sie untereinander gleich. Dieser Satz ist, wie schon Hegel nachgewiesen hat, ein Schluß, für dessen Richtigkeit die Logik einsteht, der also bewiesen ist, wenn auch außerhalb der reinen Mathematik. Die übrigen Axiome über Gleichheit und Ungleichheit sind bloße logische Erweiterungen dieses Schlusses.

Diese magern Sätze locken weder in der Mathematik noch sonstwo einen Hund vom Ofen. Um weiterzukommen, müssen wir reale Verhältnisse hineinziehn, Verhältnisse und Raumformen, die von wirklichen Körpern hergenommen sind. Die Vorstellungen von Linien, Flächen, Winkeln, von Vielecken, Würfeln, Kugeln usw. sind alle der Wirklichkeit entlehnt, und es gehört ein gut Stück naiver Ideologie dazu, den Mathematikern zu glauben, die erste Linie sei durch Bewegung eines Punktes im Raum entstanden, die erste Fläche durch Bewegung einer Linie, der erste Körper durch |38| Bewegung einer Fläche usw. Schon die Sprache rebelliert dagegen. Eine mathematische Figur von drei Dimensionen heißt ein Körper, corpus solidum, also im Lateinischen sogar ein handgreiflicher Körper, führt also einen Namen, der keineswegs der freien Imagination des Verstandes, sondern der handfesten Realität entlehnt ist.

Aber wozu all diese Weitläufigkeiten? Nachdem Herr Dühring auf Seite 42 und 43 die Unabhängigkeit der reinen Mathematik von der Erfahrungswelt, ihre Apriorität, ihre Beschäftigung mit den eignen freien Schöpfungen und Imaginationen des Verstandes, begeistert besungen, sagt er auf Seite 63:

»Es wird nämlich leicht übersehn, daß jene mathematischen Elemente« (»Zahl, Größe, Zeit, Raum und geometrische Bewegung«) »nur ihrer Form nach ideell sind, ... die absoluten Größen sind daher etwas durchaus Empirisches, gleichviel welcher Gattung sie angehören«, ... aber »die mathematischen Schemata sind einer von der Erfahrung abgesonderten und dennoch zureichenden Charakteristik fähig«,

welches letztere mehr oder weniger von jeder Abstraktion gilt, aber keineswegs beweist, daß sie nicht aus der Wirklichkeit abstrahiert ist. In der Weltschematik ist die reine Mathematik aus dem reinen Denken entsprungen - in der Naturphilosophie ist sie etwas durchaus Empirisches, aus der Außenwelt Genommenes und dann Abgesondertes. Wem sollen wir nun glauben?

IV. Weltschematik

»Das allumfassende Sein ist einzig. In seiner Selbstgenügsamkeit hat es nichts neben oder über sich. Ihm ein zweites Sein zugesellen, hieße es zu dem machen, was es nicht ist, nämlich zu dem Teil oder Bestandstück eines umfangreicheren Ganzen. Indem wir unsern einheitlichen Gedanken gleichsam als Rahmen ausspannen, kann nichts, was in diese Gedankeneinheit eingehn muß, eine Doppelheit an sich behalten. Es kann sich aber dieser Gedankeneinheit auch nichts entziehn ... Das Wesen alles Denkens besteht in der Vereinigung von Bewußtseinselementen zu einer Einheit ... Es ist der Einheitspunkt der Zusammenfassung, wodurch der unteilbare Weltbegriff entstanden und das Universum, wie es schon das Wort besagt, als etwas erkannt wird, worin alles zu einer Einheit vereinigt ist.«

Soweit Herr Dühring. Die mathematische Methode:

»Jede Frage ist an einfachen Grundgestalten axiomatisch zu entscheiden, als wenn es sich um einfache ... Grundsätze der Mathematik handelte« -

diese Methode wird hier zuerst angewandt.

|39| »Das allumfassende Sein ist einzig.« Wenn Tautologie einfache Wiederholung, im Prädikat, dessen, was im Subjekte schon ausgesprochen worden - wenn das ein Axiom ausmacht, so haben wir hier eins vom reinsten Wasser. Im Subjekt sagt uns Herr Dühring, daß das Sein alles umfaßt, und im Prädikat behauptet er unerschrocken, daß alsdann nichts außer ihm ist. Welch kolossal »systemschaffender Gedanke«!

Systemschaffend in der Tat. Ehe wir sechs Zeilen weiter sind, hat Herr Dühring die Einzigkeit des Seins vermittelst unsres einheitlichen Gedankens in seine Einheit verwandelt. Da das Wesen alles Denkens in der Zusammenfassung zu einer Einheit besteht, so ist das Sein, sobald es gedacht wird, als einheitliches gedacht, der Weltbegriff ein unteilbarer, und weil das gedachte Sein, der Weltbegriff einheitlich ist, so ist das wirkliche Sein, die wirkliche Welt, ebenfalls eine unteilbare Einheit. Und somit

»haben die Jenseitigkeiten keinen Raum mehr, sobald der Geist einmal gelernt hat, das Sein in seiner gleichartigen Universalität zu erfassen«.

Das ist ein Feldzug, gegen den Austerlitz und Jena, Königgrätz und Sedan vollständig verschwinden. In ein paar Sätzen, kaum eine Seite, nachdem wir das erste Axiom mobil gemacht haben, haben wir bereits alle Jenseitigkeiten, Gott, die himmlischen Heerscharen, Himmel, Hölle und Fegefeuer samt der Unsterblichkeit der Seele abgeschafft, beseitigt, vernichtet.

Wie kommen wir von der Einzigkeit des Seins zu seiner Einheit? Indem wir es uns überhaupt vorstellen. Sowie wir unsern einheitlichen Gedanken als Rahmen um es ausspannen, wird das einzige Sein in Gedanken ein einheitliches, eine Gedankeneinheit; denn das Wesen alles Denkens besteht in der Vereinigung von Bewußtseinselementen zu einer Einheit.

Dieser letzte Satz ist einfach falsch. Erstens besteht das Denken ebensosehr in der Zerlegung von Bewußtseinsgegenständen in ihre Elemente, wie in der Vereinigung zusammengehöriger Elemente zu einer Einheit. Ohne Analyse keine Synthese. Zweitens kann das Denken, ohne Böcke zu schießen, nur diejenigen Bewußtseinselemente zu einer Einheit zusammenfassen, in denen oder in deren realen Urbildern diese Einheit schon vorher bestanden. Wenn ich eine Schuhbürste unter die Einheit Säugetier zusammenfasse, so bekommt sie damit noch lange keine Milchdrüsen. Die Einheit des Seins, beziehentlich die Berechtigung seiner Gedankenauffassung als einer Einheit, ist also grade das, was zu beweisen war, und wenn Herr Dühring uns versichert, er denke sich das Sein einheitlich und nicht etwa als Doppelheit, so sagt er uns damit weiter nichts, als seine unmaßgebliche Meinung.

|40| Wenn wir seinen Gedankengang rein darstellen wollen, so ist er folgender: Ich fange an mit dem Sein. Also denke ich mir das Sein. Der Gedanke des Seins ist einheitlich. Denken und Sein müssen aber zusammenstimmen, sie entsprechen einander, sie »decken sich«. Also ist das Sein auch in der Wirklichkeit einheitlich. Also gibt's keine »Jenseitigkeiten«. Hätte Herr Dühring aber so unverhüllt gesprochen, statt uns obige Orakelstelle zum besten zu geben, so lag die Ideologie klar zutage. Aus der Identität von Denken und Sein die Realität irgendeines Denkergebnisses beweisen zu wollen, das war ja grade eine der tollsten Fieberphantasien - eines Hegel.

Den Spiritualisten hätte Herr Dühring, selbst wenn seine ganze Beweisführung richtig wäre, noch keinen Zollbreit Gebiet abgewonnen. Die Spiritualisten antworten ihm kurz: die Welt ist auch für uns einfach; die Spaltung in Diesseits und Jenseits existiert nur für unsern spezifisch irdischen, erbsündlichen Standpunkt; an und für sich, d.h. in Gott, ist das gesamte Sein ein einiges. Und sie werden Herrn Dühring auf seine beliebten andern Weltkörper begleiten und ihm einen oder mehrere zeigen, wo kein Sündenfall stattgefunden, wo also auch kein Gegensatz zwischen Diesseits und Jenseits besteht und die Einheitlichkeit der Welt Forderung des Glaubens ist.

Das komischste bei der Sache ist, daß Herr Dühring, um die Nichtexistenz Gottes aus dem Begriff des Seins zu beweisen, den ontologischen Beweis für das Dasein Gottes anwendet. Dieser lautet: Wenn wir uns Gott denken, so denken wir ihn uns als den Inbegriff aller Vollkommenheiten. Zum Inbegriff aller Vollkommenheiten gehört aber vor allem das Dasein, denn ein nicht daseiendes Wesen ist notwendig unvollkommen. Also müssen wir zu den Vollkommenheiten Gottes auch das Dasein rechnen. Also muß Gott existieren. - Genauso räsoniert Herr Dühring: Wenn wir uns das Sein denken, so denken wir es uns als einen Begriff. Was in Einem Begriff zusammengefaßt, das ist einheitlich. Das Sein entspräche also seinem Begriff nicht, wäre es nicht einheitlich. Folglich muß es einheitlich sein. Folglich gibt es keinen Gott usw.

Wenn wir vom Sein sprechen, und bloß vom Sein, so kann die Einheit nur darin bestehn, daß alle die Gegenstände, um die es sich handelt - sind, existieren. In der Einheit dieses Seins, und in keiner andern, sind sie zusammengefaßt und der gemeinsame Ausspruch, daß sie alle sind, kann ihnen nicht nur keine weiteren, gemeinsamen oder nicht gemeinsamen, Eigenschaften geben, sondern schließt alle solche von der Betrachtung vorläufig aus. Denn sowie wir uns von der einfachen Grundtatsache, daß allen diesen Dingen das Sein gemeinsam zukommt, auch nur einen Millimeter breit entfernen, so fangen die Unterschiede dieser Dinge an, vor unsern |41| Blick zu treten - und ob diese Unterschiede darin bestehn, daß die einen weiß, die andern schwarz, die einen belebt, die andern unbelebt, die einen etwa diesseitig, die andern etwa jenseitig sind, das können wir nicht daraus entscheiden, daß ihnen allen gleichmäßig die bloße Existenz zugeschrieben wird.

Die Einheit der Welt besteht nicht in ihrem Sein, obwohl ihr Sein eine Voraussetzung ihrer Einheit ist, da sie doch zuerst sein muß, ehe sie eins sein kann. Das Sein ist ja überhaupt eine offene Frage von der Grenze an, wo unser Gesichtskreis aufhört. Die wirkliche Einheit der Welt besteht in ihrer Materialität, und diese ist bewiesen nicht durch ein paar Taschenspielerphrasen, sondern durch eine lange und langwierige Entwicklung der Philosophie und der Naturwissenschaft.

Weiter im Text. Das Sein, wovon Herr Dühring uns unterhält, ist

»nicht jenes reine Sein, welches sich selbst gleich, aller besondern Bestimmungen ermangeln soll, und in der Tat nur ein Gegenbild des Gedankennichts oder der Gedankenabwesenheit vertritt«.

Nun werden wir aber sehr bald sehn, daß Herrn Dührings Welt allerdings mit einem Sein anhebt, welches aller innern Unterscheidung, aller Bewegung und Veränderung ermangelt und also in der Tat nur ein Gegenbild des Gedankennichts, also ein wirkliches Nichts ist. Erst aus diesem Sein-Nichts entwickelt sich der gegenwärtige differenzierte, wechselvolle, eine Entwicklung, ein Werden darstellende Weltzustand; und erst nachdem wir dies begriffen, kommen wir dahin, auch unter dieser ewigen Wandlung

»den Begriff des universellen Seins sich selbst gleich festzuhalten«.

Wir haben also jetzt den Begriff des Seins auf einer höhern Stufe, wo er sowohl Beharrung wie Veränderung, Sein wie Werden in sich begreift. Hier angekommen, finden wir, daß

»Gattung und Art, überhaupt Allgemeines und Besonderes die einfachsten Unterscheidungsmittel sind, ohne welche die Verfassung der Dinge nicht begriffen werden kann«.

Es sind dies aber Unterscheidungsmittel der Qualität; und nachdem diese verhandelt, gehn wir weiter:

»den Gattungen gegenüber steht der Begriff der Größe, als desjenigen Gleichartigen, in welchem keine Artdifferenzen mehr stattfinden«;

d.h. von der Qualität gehn wir über zur Quantität, und diese ist stets »meßbar«.

|42| Vergleichen wir nun diese »scharfe Sonderung der allgemeinen Wirkungsschemata« und ihren »wirklich kritischen Standpunkt« mit den Kruditäten, Wüstheiten und Fieberphantasien eines Hegel. Wir finden, daß Hegels Logik anfängt, vom Sein - wie Herr Dühring; daß das Sein sich herausstellt als das Nichts, wie bei Herrn Dühring; daß aus diesem Sein-Nichts übergegangen wird zum Werden, dessen Resultat das Dasein ist, d.h. eine höhere, erfülltere Form des Seins - ganz wie bei Herrn Dühring. Das Dasein führt zur Qualität, die Qualität zur Quantität - ganz wie bei Herrn Dühring. Und damit kein wesentliches Stück fehle, erzählt uns Herr Dühring bei einer andern Gelegenheit:

»Aus dem Reich der Empfindungslosigkeit tritt man in das der Empfindung, trotz aller quantitativen Allmählichkeit, nur mit einem qualitativen Sprung ein, von dem wir ... behaupten können, daß er sich unendlich von der bloßen Gradation einer und derselben Eigenschaft unterscheide.«

Dies ist ganz die Hegelsche Knotenlinie von Maßverhältnissen, wo bloß quantitative Steigerung oder Abnahme an gewissen bestimmten Knotenpunkten einen qualitativen Sprung verursacht, z.B. bei erwärmtem oder abgekühltem Wasser, wo der Siedepunkt und der Gefrierpunkt die Knoten sind, an denen der Sprung in einen neuen Aggregatzustand - unter Normaldruck - sich vollzieht, wo also Quantität in Qualität umschlägt.

Unsre Untersuchung hat ebenfalls versucht, bis an die Wurzeln zu reichen, und als die Wurzel der wurzelhaften Dühringschen Grundschemata findet sie - die »Fieberphantasien« eines Hegel, die Kategorien der Hegelschen »Logik«, erster Teil, Lehre vom Sein, in streng althegelscher »Abfolge« und mit kaum versuchter Verschleierung des Plagiats!

Und nicht zufrieden damit, seinem bestverleumdeten Vorgänger dessen ganze Schematik vom Sein zu entwenden, hat Herr Dühring, nachdem er selbst obiges Beispiel von sprungweisem Umschlagen der Quantität in die Qualität gegeben, die Gelassenheit, von Marx zu sagen:

»Wie komisch nimmt sich nicht z.B. die Berufung« (Marx') »auf die Hegelsche konfuse Nebelvorstellung aus, daß die Quantität in die Qualität umschlage

Konfuse Nebelvorstellung! Wer schlägt hier um, und wer nimmt sich hier komisch aus, Herr Dühring?

Alle diese schönen Sächelchen sind also nicht nur nicht vorschriftsmäßig »axiomatisch entschieden«, sondern einfach von außen, d.h. aus Hegels »Logik« hineingetragen. Und zwar so, daß in dem ganzen Kapitel auch nicht einmal der Schein eines innern Zusammenhangs figuriert, soweit er nicht auch aus Hegel entlehnt ist, und daß das Ganze schließlich in ein |43| inhaltloses Spintisieren über Raum und Zeit, Beharrung und Veränderung ausläuft.

Vom Sein kommt Hegel zum Wesen, zur Dialektik. Hier handelt er von den Reflexionsbestimmungen, deren innern Gegensätzen und Widersprüchen, wie z.B. positiv und negativ, kommt dann zur Kausalität oder dem Verhältnis von Ursache und Wirkung, und schließt mit der Notwendigkeit. Nicht anders Herr Dühring. Was Hegel Lehre vom Wesen nennt, übersetzt Herr Dühring in: logische Eigenschaften des Seins. Diese bestehn aber vor allem im »Antagonismus von Kräften«, in Gegensätzen. Den Widerspruch leugnet Herr Dühring dagegen radikal; wir werden später auf dies Thema zurückkommen. Dann geht er über auf die Kausalität und von dieser auf die Notwendigkeit. Wenn Herr Dühring also von sich sagt:

»Wir, die wir nicht aus dem Käfig philosophieren«,

so meint er wohl, er philosophiere im Käfig, nämlich dem Käfig des Hegelschen Kategorienschematismus.

V. Naturphilosophie. Zeit und Raum

Wir kommen jetzt zur Naturphilosophie. Hier hat Herr Dühring wieder alle Ursache, mit seinen Vorgängern unzufrieden zu sein.

Die Naturphilosophie »sank so tief, daß sie zur wüsten, auf Unwissenheit beruhenden Afterpoesie wurde« und »der prostituierten Philosophasterei eines Schelling und ähnlicher, im Priestertum des Absoluten kramender und das Publikum mystifizierender Gesellen anheimgefallen« war. Die Ermüdung hat uns aus diesen »Mißgestalten« gerettet, aber sie hat bisher nur der »Haltlosigkeit« Platz gemacht; »und was das größere Publikum betrifft, so ist für dasselbe bekanntlich der Abtritt eines größern Scharlatans oft nur die Gelegenheit für einen kleinern, aber geschäftserfahrenen Nachfolger, die Produktionen jenes unter einem andern Aushängeschild zu wiederholen«. die Naturforscher selbst verspüren wenig »Lust zu einem Ausflug in das Reich der weltumspannenden Ideen« und begehn daher lauter »zerfahrene Voreiligkeiten« auf theoretischem Gebiet.

Hier muß dringend Rettung geschaffen werden, und glücklicherweise ist Herr Dühring zur Stelle.

Um die nun folgenden Enthüllungen über die Entfaltung der Welt in der Zeit und ihre Begrenzung im Raum richtig zu würdigen, müssen wir wieder auf einige Stellen in der »Weltschematik« zurückgreifen.

Dem Sein wird, ebenfalls im Einklang mit Hegel (»Enzyklopädie« § 93), Unendlichkeit - was Hegel die schlechte Unendlichkeit nennt - zugeschrieben und nun diese Unendlichkeit untersucht.

|44| »die deutlichste Gestalt einer widerspruchslos zu denkenden Unendlichkeit ist die unbeschränkte Häufung der Zahlen in der Zahlenreihe ... Wie wir zu jeder Zahl noch eine weitere Einheit hinzufügen können, ohne jemals die Möglichkeit des Weiterzählens zu erschöpfen, so reiht sich auch an jeglichen Zustand des Seins ein fernerer an, und in der unbeschränkten Erzeugung dieser Zustände besteht die Unendlichkeit. Diese genau gedachte Unendlichkeit hat daher auch nur eine einzige Grundform mit einer einzigen Richtung. Wenn es nämlich auch für unser Denken gleichgültig ist, eine entgegengesetzte Richtung der Häufungen der Zustände zu entwerfen, so ist doch die rückwärts fortschreitende Unendlichkeit eben nur ein voreiliges Vorstellungsgebilde. Da sie nämlich in der Wirklichkeit in umgekehrter Richtung durchlaufen sein müßte, so würde sie bei jedem ihrer Zustände eine unendliche Zahlenreihe hinter sich haben. Hiermit wäre aber der unzulässige Widerspruch einer abgezählten unendlichen Zahlenreihe begangen, und so erweist es sich als widersinnig, noch eine zweite Richtung der Unendlichkeit vorauszusetzen.«

Die erste Folgerung, die aus dieser Auffassung der Unendlichkeit gezogen wird, ist, daß die Verkettung von Ursachen und Wirkungen in der Welt einmal einen Anfang gehabt haben muß:

»eine unendliche Zahl von Ursachen, die sich bereits aneinandergereiht haben soll, ist schon darum undenkbar, weil sie die Unzahl als abgezählt voraussetzt«.

Also eine Endursache erwiesen. Die zweite Folgerung ist

»das Gesetz der bestimmten Anzahl: die Häufung des Identischen irgendeiner realen Gattung von Selbständigkeiten ist nur als Bildung einer bestimmten Zahl denkbar«. Nicht nur die vorhandne Zahl der Weltkörper muß in jedem Zeitpunkt eine an sich bestimmte sein, sondern auch die Gesamtzahl aller in der Welt existierenden kleinsten selbständigen Teile der Materie. Letztere Notwendigkeit ist der wahre Grund, warum keine Zusammensetzung ohne Atome gedacht werden kann. Alle wirkliche Geteiltheit hat stets eine endliche Bestimmtheit und muß sie haben, wenn nicht der Widerspruch der abgezählten Unzahl eintreten soll. Nicht nur muß aus demselben Grund die bisherige Anzahl der Umläufe der Erde um die Sonne eine bestimmte, wenn auch nicht angebbare, sein, sondern alle periodischen Naturprozesse müssen irgendeinen Anfang gehabt haben, und alle Differenzenbildung, alle Mannigfaltigkeiten der Natur, die einander folgen, müssen in einem sich selbst gleichen Zustand wurzeln. Dieser kann ohne Widerspruch von Ewigkeit her existiert haben, aber auch diese Vorstellung wäre ausgeschlossen, wenn die Zeit an sich selbst aus realen Teilen bestände und nicht vielmehr bloß durch die ideelle Setzung der Möglichkeiten von unserm Verstand nach Belieben eingeteilt würde. Mit dem realen und in sich unterschiednen Zeitinhalt hat es eine andre Bewandtnis; diese wirkliche Erfüllung der Zeit mit unterscheidbar gearteten Tatsachen und die Existenzformen dieses Bereichs gehören eben, ihrer Unterschiedenheit wegen, dem Zählbaren an. Denken wir uns einen Zustand, der ohne Veränderungen ist und in seiner Sichselbstgleichheit gar keine Unterschiede der Folge darbietet, so |45| verwandelt sich auch der speziellere Zeitbegriff in die allgemeinere Idee des Seins. Was die Häufung einer leeren Dauer bedeuten soll, ist gar nicht erfindlich.

Soweit Herr Dühring, und er ist nicht wenig erbaut von der Bedeutung dieser Entdeckungen. Er hofft zunächst, daß man sie »mindestens nicht als eine geringfügige Wahrheit ansehn« wird; später aber heißt es:

»Man erinnere sich der höchst einfachen Wendungen, mit denen wir den Unendlichkeitsbegriffen und deren Kritik zu einer bisher ungekannten Tragweite verholfen haben ... die durch die gegenwärtige Verschärfung und Vertiefung so einfach gestalteten Elemente der universellen Raum- und Zeitauffassung.«

Wir haben verholfen! Gegenwärtige Vertiefung und Verschärfung! Wer sind wir, und wann spielt unsre Gegenwart? Wer vertieft und verschärft?

»Thesis. Die Welt hat einen Anfang in der Zeit und ist dem Raum nach auch in Grenzen eingeschlossen. - Beweis: Denn man nehme an, die Welt habe der Zeit nach keinen Anfang, so ist bis zu jedem gegebnen Zeitpunkt eine Ewigkeit abgelaufen, und mithin eine unendliche Reihe aufeinanderfolgender Zustände der Dinge in der Welt verflossen. Nun besteht aber eben darin die Unendlichkeit einer Reihe, daß sie durch sukzessive Synthesis niemals vollendet sein kann. Also ist eine unendliche verflossene Weltreihe unmöglich, mithin ein Anfang der Welt eine notwendige Bedingung ihres Daseins, welches zuerst zu beweisen war. - in Ansehung des Zweiten nehme man wiederum das Gegenteil an, so wird die Welt ein unendliches gegebnes Ganzes von zugleich existierenden Dingen sein. Nun können wir die Größe eines Quantums, welches nicht innerhalb gewisser Grenzen jeder Anschauung gegeben wird, auf keine Art als nur durch die Synthese der Teile, und die Totalität eines solchen Quantums nur durch die vollendete Synthese oder durch wiederholte Hinzusetzung der Einheit zu sich selbst denken. Demnach, um sich die Welt, die alle Räume erfüllt, als ein Ganzes zu denken, müßte die sukzessive Synthese der Teile einer unendlichen Welt als vollendet angesehn, d.i. eine unendliche Zeit müßte, in der Durchzählung aller koexistierenden Dinge, als abgelaufen angesehn werden, welches unmöglich ist. Demnach kann ein unendliches Aggregat wirklicher Dinge nicht als ein gegebnes Ganzes, mithin auch nicht als zugleich gegeben angesehn werden. Eine Welt ist folglich der Ausdehnung im Raum nach nicht unendlich, sondern in ihre Grenzen eingeschlossen, welches das Zweite« (zu beweisen) »war.«

Diese Sätze sind buchstäblich kopiert aus einem wohlbekannten Buch, welches im Jahre 1781 zuerst erschien und betitelt ist: »Kritik der reinen Vernunft«, von Immanuel Kant, wo männiglich sie nachlesen kann im ersten Teil, zweite Abteilung, zweites Buch, zweites Hauptstück, zweiter Abschnitt: Erste Antinomie der reinen Vernunft. Herrn Dühring gehört hiernach lediglich der Ruhm, den Namen: Gesetz der bestimmten Anzahl, auf einen von Kant ausgesprochenen Gedanken geklebt und die Entdeckung gemacht zu haben, daß einmal eine Zeit war, wo es noch keine Zeit gab, wohl aber eine |46| Welt. Für alles übrige, also für alles, was in Herrn Dührings Auseinandersetzung noch einigen Sinn hat, sind »Wir« - Immanuel Kant, und die »Gegenwart« ist nur fünfundneunzig Jahre alt. Allerdings »höchst einfach«! Merkwürdige »bisher ungekannte Tragweite«!

Nun stellt aber Kant obige Sätze keineswegs als durch seinen Beweis erledigt auf. Im Gegenteil; auf der gegenüberstehenden Seite behauptet und beweist er das Entgegengesetzte: daß die Welt nach der Zeit keinen Anfang und nach dem Raum kein Ende habe; und darin setzt er grade die Antinomie, den unlösbaren Widerspruch, daß das eine ebenso beweisbar ist wie das andre. Leute von geringerm Kaliber wären vielleicht dadurch etwas bedenklich geworden, daß »ein Kant« hier eine unlösbare Schwierigkeit fand. Nicht so unser kühner Verfertiger »von Grund aus eigentümlicher Ergebnisse und Anschauungen«: was ihm von Kants Antinomie dienen kann, schreibt er unverdrossen ab und wirft den Rest beiseite.

Die Sache selbst löst sich sehr einfach. Ewigkeit in der Zeit, Unendlichkeit im Raum, besteht schon von vornherein und dem einfachen Wortsinne nach darin, nach keiner Seite hin ein Ende zu haben, weder nach vorn oder nach hinten, nach oben oder nach unten, nach rechts oder nach links. Diese Unendlichkeit ist eine ganz andre als die einer unendlichen Reihe, denn diese fängt von vornherein immer mit Eins, mit einem ersten Gliede an. Die Unanwendbarkeit dieser Reihenvorstellung auf unsern Gegenstand zeigt sich sofort, wenn wir sie auf den Raum anwenden. Die unendliche Reihe, ins Räumliche übersetzt, ist die von einem bestimmten Punkt in bestimmter Richtung ins Unendliche gezogne Linie. Ist damit die Unendlichkeit des Raums auch nur entfernt ausgedrückt? Im Gegenteil, es gehören allein sechs von diesem einen Punkt in dreifach entgegengesetzten Richtungen aus gezogene Linien dazu, um die Dimensionen des Raums zu begreifen; und dieser Dimensionen hätten wir hiernach sechs. Kant sah dies so gut ein, daß er seine Zahlenreihe auch nur indirekt, auf einem Umweg, auf die Räumlichkeit der Welt übertrug. Herr Dühring dagegen zwingt uns zur Annahme von sechs Dimensionen im Raum, und hat gleich nachher nicht Worte der Entrüstung genug über den mathematischen Mystizismus von Gauß, der sich nicht mit den gewöhnlichen drei Raumdimensionen begnügen wollte.

Auf die Zeit angewandt, hat die nach beiden Seiten endlose Linie oder Reihe von Einheiten einen gewissen bildlichen Sinn. Stellen wir uns aber die Zeit als eine von Eins an gezählte oder von einem bestimmten Punkt ausgehende Linie vor, so sagen wir damit von vornherein, daß die Zeit einen Anfang hat: wir setzen voraus, was wir grade beweisen sollen. Wir geben |47| der Unendlichkeit der Zeit einen einseitigen, halben Charakter; aber eine einseitige, eine halbierte Unendlichkeit ist auch ein Widerspruch in sich, das grade Gegenteil von einer »widerspruchslos gedachten Unendlichkeit«. Über diesen Widerspruch kommen wir nur hinaus, wenn wir annehmen, daß die Eins, mit der wir anfangen, die Reihe zu zählen, der Punkt, von dem aus wir die Linie weitermessen, eine beliebige Eins in der Reihe, ein beliebiger Punkt in der Linie sind, von denen es für die Linie oder Reihe gleichgültig ist, wohin wir sie verlegen.

Aber der Widerspruch der »abgezählten unendlichen Zahlenreihe«? Wir werden imstande sein, ihn näher zu untersuchen, sobald Herr Dühring uns das Kunststück vorgemacht haben wird, sie abzuzählen. Wenn er es fertiggebracht hat, von minus Unendlich bis Null zu zählen, dann mag er wiederkommen. Es ist ja klar, daß, wo auch immer er anfängt zu zählen, er eine unendliche Reihe hinter sich läßt und mit ihr die Aufgabe, die er lösen soll. Er kehre nur seine eigne unendliche Reihe 1 + 2 + 3 + 4 ... um und versuche, vom unendlichen Ende wieder nach Eins zu zählen; es ist augenscheinlich der Versuch eines Menschen, der gar nicht sieht, worum es sich handelt. Noch mehr. Wenn Herr Dühring behauptet, die unendliche Reihe der verflossenen Zeit sei abgezählt, so behauptet er damit, daß die Zeit einen Anfang hat; denn sonst könnte er ja gar nicht anfangen »abzuzählen«. Er schiebt also wieder als Voraussetzung unter, was er beweisen soll. Die Vorstellung der abgezählten unendlichen Reihe, mit andern Worten, das weltumspannende Dühringsche Gesetz der bestimmten Anzahl, ist also eine contradictio in adjecto, enthält einen Widerspruch in sich selbst, und zwar einen absurden Widerspruch.

Es ist klar: die Unendlichkeit, die ein Ende hat, aber keinen Anfang, ist nicht mehr und nicht weniger unendlich, als die, die einen Anfang hat, aber kein Ende. Die geringste dialektische Einsicht hätte Herrn Dühring sagen müssen, daß Anfang und Ende notwendig zusammengehören, wie Nordpol und Südpol, und daß, wenn man das Ende wegläßt, der Anfang eben das Ende wird - das eine Ende, das die Reihe hat, und umgekehrt. Die ganze Täuschung wäre unmöglich ohne die mathematische Gewohnheit, mit unendlichen Reihen zu operieren. Weil man in der Mathematik vom Bestimmten, Endlichen ausgehn muß, um zum Unbestimmten, Endlosen zu kommen, so müssen alle mathematischen Reihen, positive oder negative, mit Eins anfangen, sonst kann man nicht damit rechnen. Das ideelle Bedürfnis des Mathematikers ist aber weit davon entfernt, ein Zwangsgesetz für die reale Welt zu sein.

Übrigens wird Herr Dühring es nie fertigbringen, sich die wirkliche |48| Unendlichkeit widerspruchslos zu denken. Die Unendlichkeit ist ein Widerspruch und voll von Widersprüchen. Es ist schon ein Widerspruch, daß eine Unendlichkeit aus lauter Endlichkeiten zusammengesetzt sein soll, und doch ist dies der Fall. Die Begrenztheit der materiellen Welt führt nicht weniger zu Widersprüchen als ihre Unbegrenztheit, und jeder Versuch, diese Widersprüche zu beseitigen, führt, wie wir gesehn haben, zu neuen und schlimmeren Widersprüchen. Eben weil die Unendlichkeit ein Widerspruch ist, ist sie unendlicher, in Zeit und Raum ohne Ende sich abwickelnder Prozeß. Die Aufhebung des Widerspruchs wäre das Ende der Unendlichkeit. Das hatte Hegel schon ganz richtig eingesehn und behandelt daher auch die über diesen Widerspruch spintisierenden Herren mit verdienter Verachtung.

Gehn wir weiter. Also, die Zeit hat einen Anfang gehabt. Was war vor diesem Anfang? die in einem sich selbst gleichen, unveränderlichen Zustand befindliche Welt. Und da in diesem Zustand keine Veränderungen aufeinanderfolgen, so verwandelt sich auch der speziellere Zeitbegriff in die allgemeinere Idee des Seins. Erstens geht es uns hier gar nichts an, welche Begriffe sich im Kopf des Herrn Dühring verwandeln. Es handelt sich nicht um den Zeitbegriff, sondern um die wirkliche Zeit, die Herr Dühring so wohlfeilen Kaufs keineswegs los wird. Zweitens mag sich der Zeitbegriff noch so sehr in die allgemeinere Idee des Seins verwandeln, so kommen wir damit keinen Schritt weiter. Denn die Grundformen alles Seins sind Raum und Zeit, und ein Sein außer der Zeit ist ein ebenso großer Unsinn, wie ein Sein außerhalb des Raums. Das Hegelsche »zeitlos vergangne Sein« und das neuschellingsche »unvordenkliche Sein« sind rationelle Vorstellungen verglichen mit diesem Sein außer der Zeit. Darum geht Herr Dühring auch sehr behutsam zu Werke: eigentlich ist es wohl eine Zeit, aber eine solche, die man im Grunde keine Zeit nennen kann: die Zeit besteht ja nicht an sich selbst aus realen Teilen und wird bloß von unserm Verstand nach Belieben eingeteilt - nur eine wirkliche Erfüllung der Zeit mit unterscheidbaren Tatsachen gehört dem Zählbaren an - was die Häufung einer leeren Dauer bedeuten soll, ist gar nicht erfindlich. Was diese Häufung bedeuten soll, ist hier ganz gleichgültig; es fragt sich, ob die Welt, in dem hier vorausgesetzten Zustand, dauert, eine Zeitdauer durchmacht? daß nichts dabei herauskommt, eine solche inhaltslose Dauer zu messen, ebensowenig wie dabei, in den leeren Raum zwecklos und ziellos hinauszumessen, das wissen wir längst, und Hegel nennt ja auch, gerade wegen der Langweiligkeit dieses Verfahrens, diese Unendlichkeit die schlechte. Nach Herrn Dühring existiert die Zeit nur durch die Veränderung, nicht die Veränderung |49| in und durch die Zeit. Eben weil die Zeit von der Veränderung verschieden, unabhängig ist, kann man sie durch die Veränderung messen, denn zum Messen gehört immer ein von dem zu messenden Verschiednes. Und die Zeit, in der keine erkennbaren Veränderungen vorgehn, ist weit entfernt davon, keine Zeit zu sein; sie ist vielmehr die reine, von keinen fremden Beimischungen affizierte, also die wahre Zeit, die Zeit als solche. In der Tat, wenn wir den Zeitbegriff in seiner ganzen Reinheit, abgetrennt von allen fremden und ungehörigen Beimischungen erfassen wollen, so sind wir genötigt, alle die verschiednen Ereignisse, die neben- und nacheinander in der Zeit vor sich gehn, als nicht hierhergehörig beiseite zu setzen und uns somit eine Zeit vorzustellen, in der nichts passiert. Wir haben damit also nicht den Zeitbegriff in der allgemeinen Idee des Seins untergehn lassen, sondern wir sind damit erst beim reinen Zeitbegriff angekommen.

Alle diese Widersprüche und Unmöglichkeiten sind aber noch pures Kinderspiel gegen die Verwirrung, in die Herr Dühring mit seinem sich selbst gleichen Anfangszustand der Welt gerät. War die Welt einmal in einem Zustand, in dem absolut keine Veränderung in ihr vorging, wie konnte sie aus diesem Zustand zur Veränderung übergehn? Das absolut Veränderungslose, noch dazu, wenn es von Ewigkeit in diesem Zustand war, kann durch sich selbst unmöglich aus diesem Zustand herauskommen, in den der Bewegung und Veränderung übergehn. Es muß also von außen her, von außerhalb der Welt, ein erster Anstoß gekommen sein, der sie in Bewegung setzte. Der »erste Anstoß« ist aber bekanntlich nur ein andrer Ausdruck für Gott. Der Gott und das Jenseits, die Herr Dühring in seiner Weltschematik so schön abgetakelt zu haben vorgab, er bringt sie beide hier, verschärft und vertieft, selbst wieder in die Naturphilosophie.

Ferner. Herr Dühring sagt:

»Wo die Größe einem beharrlichen Element des Seins zukommt, wird sie in ihrer Bestimmtheit unverändert bleiben. Dies gilt ... von der Materie und der mechanischen Kraft.«

Der erste Satz gibt, beiläufig gesagt, ein kostbares Beispiel von der axiomatisch-tautologischen Grandiloquenz des Herrn Dühring: Wo die Größe sich nicht verändert, da bleibt sie dieselbe. Also die Menge der mechanischen Kraft, die einmal in der Welt ist, bleibt ewig dieselbe. Wir sehn davon ab, daß, soweit dies richtig, in der Philosophie Descartes dies schon vor beinahe dreihundert Jahren gewußt und gesagt hat, und daß in der Naturwissenschaft die Lehre von der Erhaltung der Kraft seit zwanzig Jahren allgemein grassiert; daß Herr Dühring, indem er sie auf die mechanische |50| Kraft beschränkt, sie keineswegs verbessert. Wo aber war die mechanische Kraft zur Zeit des veränderungslosen Zustands ? Auf diese Frage verweigert uns Herr Dühring hartnäckig jede Antwort.

Wo, Herr Dühring, war damals die sich ewig gleichbleibende mechanische Kraft, und was trieb sie? Antwort:

»Der Ursprungszustand des Universums, oder deutlicher bezeichnet, eines veränderungslosen, keine zeitliche Häufung von Veränderungen einschließenden Seins der Materie, ist eine Frage, die nur derjenige Verstand abweisen kann, der in der Selbstverstümmlung seiner Zeugungskraft den Gipfel der Weisheit sieht.«

Also: Entweder ihr nehmt meinen veränderungslosen Urzustand unbesehn hin oder ich, der zeugungsfähige Eugen Dühring, erkläre euch für geistige Eunuchen. Das mag allerdings manchen abschrecken. Wir, die wir von der Zeugungskraft des Herrn Dühring schon einige Beispiele gesehn haben, können uns erlauben, das elegante Schimpfwort vorderhand unerwidert zu lassen und nochmals zu fragen: Aber, Herr Dühring, wenn's gefällig ist, wie ist das mit der mechanischen Kraft?

Herr Dühring wird sofort verlegen.

In der Tat, stammelt er, »die absolute Identität jenes anfänglichen Grenzzustandes liefert an sich selbst kein Übergangsprinzip. Erinnern wir uns jedoch, daß es mit jedem kleinsten neuen Gliede in der uns wohlbekannten Daseinskette im Grunde eine gleiche Bewandtnis hat. Wer also in dem vorliegenden Hauptfall Schwierigkeiten erheben will, mag zusehn, daß er sie sich nicht bei weniger scheinbaren Gelegenheiten erlasse. Überdies steht die Einschaltungsmöglichkeit von allmählich graduierten Zwischenzuständen, und mithin die Brücke der Stetigkeit offen, um rückwärts bis zu dem Erlöschen des Wechselspiels zu gelangen. Rein begrifflich hilft freilich diese Stetigkeit nicht über den Hauptgedanken hinweg, aber sie ist uns die Grundform aller Gesetzmäßigkeit und jedes sonst bekannten Übergangs, so daß wir ein Recht haben, sie auch als Vermittlung zwischen jenem ersten Gleichgewicht und dessen Störung zu gebrauchen. Dächten wir uns nun aber das sozusagen (!) regungslose Gleichgewicht nach Maßgabe der Begriffe, die in unsrer heutigen Mechanik ohne sonderliche Anstandnahme (!) zugelassen werden, so ließe sich gar nicht angeben, wie die Materie zu dem Veränderungsspiel gelangt sein könnte.« Außer der Mechanik der Massen gebe es aber auch noch eine Verwandlung von Massenbewegung in Bewegung kleinster Teilchen, aber wie diese erfolge, »dafür haben wir bis jetzt kein allgemeines Prinzip zur Verfügung, und wir dürfen uns daher nicht wundern, wenn diese Vorgänge ein wenig ins Dunkle auslaufen«.

Das ist alles, was Herr Dühring zu sagen hat. Und in der Tat, wir müßten nicht nur in der Selbstverstümmelung der Zeugungskraft, sondern auch im blinden Köhlerglauben den Gipfel der Weisheit sehn, wollten wir uns mit diesen wahrhaft jammervollen faulen Ausflüchten und Redensarten |51| abspeisen lassen. Aus sich selbst, das gesteht Herr Dühring ein, kann die absolute Identität nicht zur Veränderung kommen. Aus sich selbst gibt es kein Mittel, wodurch das absolute Gleichgewicht in Bewegung überzugehn vermag. Was gibt's denn? Drei falsche faule Wendungen.

Erstens: Es sei ebenso schwer, von jedem kleinsten Gliede in der uns wohlbekannten Daseinskette zum nächsten den Übergang nachzuweisen. - Herr Dühring scheint seine Leser für Säuglinge zu halten. Der Nachweis der einzelnen Übergänge und Zusammenhänge der kleinsten Glieder in der Daseinskelte macht eben den Inhalt der Naturwissenschaft aus, und wenn es dabei irgendwo hapert, so denkt niemand, selbst nicht Herr Dühring, daran, die vorgegangne Bewegung aus Nichts zu erklären, sondern stets nur aus der Übertragung, Verwandlung oder Fortpflanzung einer vorgängigen Bewegung. Hier aber handelt es sich eingestandnermaßen darum, die Bewegung aus der Bewegungslosigkeit, also aus Nichts entstehn zu lassen.

Zweitens haben wir die »Brücke der Stetigkeit«. Diese hilft uns freilich rein begrifflich nicht über die Schwierigkeiten hinweg, aber wir haben doch ein Recht, sie als Vermittlung zwischen der Bewegungslosigkeit und der Bewegung zu gebrauchen. Leider besteht die Stetigkeit der Bewegungslosigkeit dann, sich nicht zu bewegen; wie also damit Bewegung zu erzeugen ist, bleibt geheimnisvoller als je. Und wenn Herr Dühring seinen Übergang vom Nichts der Bewegung zur universellen Bewegung noch so sehr in unendlich kleine Teilchen zerlegt und ihm eine noch so lange Zeitdauer zuschreibt, so sind wir noch keinen Zehntausendstel Millimeter weiter vom Fleck. Von Nichts können wir nun einmal ohne Schöpfungsakt nicht zu Etwas kommen, und wäre das Etwas so klein wie ein mathematisches Differential. Die Brücke der Stetigkeit ist also nicht einmal eine Eselsbrücke, sie ist nur für Herrn Dühring passierbar.

Drittens. Solange die heutige Mechanik gilt, und diese ist nach Herrn Dühring einer der wesentlichsten Hebel zur Bildung des Denkens, läßt sich gar nicht angeben, wie man von der Bewegungslosigkeit zur Bewegung kommt. Aber die mechanische Wärmetheorie zeigt uns, daß Massenbewegung unter Umständen in Molekularbewegung umschlägt (obwohl auch hier Bewegung aus andrer Bewegung hervorgeht, nie aber aus Bewegungslosigkeit), und dies, deutet Herr Dühring schüchtern an, könnte möglicherweise eine Brücke bieten zwischen dem streng Statischen (Gleichgewichtlichen) und Dynamischen (sich Bewegenden). Aber diese Vorgänge laufen »ein wenig ins Dunkle aus«. Und im Dunklen ist es, wo Herr Dühring uns sitzen läßt.

|52| Dahin sind wir gekommen mit aller Vertiefung und Verschärfung, daß wir uns stets tiefer in stets verschärften Blödsinn vertieft haben und endlich anlanden, wo wir notwendig anlanden müssen - im »Dunkeln«. Das aber geniert Herrn Dühring wenig. Gleich auf der nächsten Seite hat er die Stirn zu behaupten, er habe

»den Begriff der sich selbst gleichen Beharrung unmittelbar aus dem Verhalten der Materie und der mechanischen Kräfte mit einem realen Inhalt ausstatten können«.

Und dieser Mann bezeichnet andere Leute als »Scharlatans«!

Zum Glück bleibt uns bei all dieser hülflosen Verirrung und Verwirrung »im Dunkeln« noch ein Trost, und der ist allerdings herzerhebend:

»die Mathematik der Bewohner andrer Weltkörper kann auf keinen andern Axiomen beruhen, als die unsrige!«

VI. Naturphilosophie. Kosmogonie, Physik, Chemie

Im weitern Verlauf kommen wir nun auf die Theorien von der Art und Weise, wie die jetzige Welt zustande gekommen ist.

Einuniverseller Zerstreuungszustand der Materie sei schon die Ausgangsvorstellung der ionischen Philosophen gewesen, seit Kant aber besonders habe die Annahme eines Urnebels eine neue Rolle gespielt, wobei Gravitation und Wärmeausstrahlung die allmähliche Bildung der einzelnen festen Weltkörper vermittelten. Die mechanische Wärmetheorie unsrer Zeit gestatte, die Rückschlüsse auf die frühern Zustände des Universums weit bestimmter zu gestalten. Bei alledem kann »der gasförmige Zerstreuungszustand nur dann ein Ausgangspunkt für ernsthafte Ableitungen sein, wenn man das in ihm gegebne mechanische System zuvor bestimmter zu kennzeichnen vermag. Andernfalls bleibt nicht nur die Idee in der Tat äußerst nebelhaft, sondern der ursprüngliche Nebel wird auch wirklich im Fortschritt der Ableitungen immer dichter und undurchdringlicher; ... vorläufig bleibt noch alles im Vagen und Formlosen einer nicht näher bestimmbaren Diffusionsidee«, und so haben wir »mit diesem Gasuniversum nur eine höchst luftige Konzeption«.

die Kantische Theorie von der Entstehung aller jetzigen Weltkörper aus rotierenden Nebelmassen war der größte Fortschritt, den die Astronomie seit Kopernikus gemacht hatte. Zum ersten Male wurde an der Vorstellung gerüttelt, als habe die Natur keine Geschichte in der Zeit. Bis dahin galten die Weltkörper als von Anfang an in stets gleichen Bahnen und Zuständen verharrend; und wenn auch auf den einzelnen Weltkörpern die organischen Einzelwesen abstarben, so galten doch die Gattungen und Arten |53| für unveränderlich. Die Natur war zwar augenscheinlich in steter Bewegung begriffen, aber diese Bewegung erschien als die unaufhörliche Wiederholung derselben Vorgänge. In diese, ganz der metaphysischen Denkweise entsprechende Vorstellung legte Kant die erste Bresche, und zwar in so wissenschaftlicher Weise, daß die meisten von ihm gebrauchten Beweisgründe auch heute noch Geltung haben. Allerdings ist die Kantsche Theorie bis jetzt noch, streng genommen, eine Hypothese. Aber mehr ist auch das Kopernikanische Weltsystem bis auf den heutigen Tag nicht, und nach der spektroskopischen, allen Widerspruch zu Boden schlagenden Nachweisung solcher glühenden Gasmassen am Sternenhimmel hat die wissenschaftliche Opposition gegen Kants Theorie geschwiegen. Auch Herr Dühring kann seine Weltkonstruktion nicht ohne ein solches Nebelstadium fertigbringen, rächt sich aber dafür, indem er verlangt, man soll ihm das in diesem Nebelzustand gegebne mechanische System zeigen, und indem er, weil man dies nicht kann, den Nebelzustand mit allerhand geringschätzigen Beiwörtern belegt. Die heutige Wissenschaft kann dies System leider nicht zur Zufriedenheit des Herrn Dühring kennzeichnen. Ebensowenig vermag sie auf viele andre Fragen zu antworten. Auf die Frage: warum haben die Kröten keine Schwänze? kann sie bis jetzt nur antworten: weil sie sie verloren haben. Wenn man nun aber sich ereifern wollte und sagen, das sei ja alles im Vagen und Formlosen einer nicht näher bestimmbaren Verlustidee und eine höchst luftige Konzeption, so kämen wir mit dergleichen Anwendungen der Moral auf die Naturwissenschaft keinen Schritt weiter. Dergleichen Mißliebigkeiten und Äußerungen der Verdrießlichkeit kann man immer und überall anbringen, und eben deswegen sind sie nie und nirgends angebracht. Wer hindert denn Herrn Dühring, selbst das mechanische System des Urnebels auszufinden?

Zum Glück erfahren wir jetzt, daß die Kantsche Nebelmasse

»weit davon entfernt ist, sich mit einem völlig identischen zustande des Weltmediums oder, anders ausgedrückt, mit dem sich selbst gleichen Zustand der Materie zu decken«.

Ein wahres Glück für Kant, der zufrieden sein konnte, von den bestehenden Weltkörpern zum Nebelball zurückgehn zu können, und der sich noch nichts träumen ließ von dem sich selbst gleichen Zustand der Materie! Beiläufig bemerkt, wenn in der heutigen Naturwissenschaft der Kantsche Nebelball als Urnebel bezeichnet wird, so ist dies selbstredend nur beziehungsweise zu verstehn, Urnebel ist er, einerseits, als Ursprung der bestehenden Weltkörper und andrerseits als die frühste Form der Materie, auf die wir bis jetzt zurückgehn können. Was durchaus nicht ausschließt, sondern viel- |54| mehr bedingt, daß die Materie vor dem Urnebel eine unendliche Reihe andrer Formen durchgemacht habe.

Herr Dühring merkt seinen Vorteil hier. Wo wir, mit der Wissenschaft, beim einstweiligen Urnebel einstweilen stehnbleiben, hilft ihm seine Wissenschaftswissenschaft viel weiter zurück zu jenem

»Zustand des Weltmediums, der sich weder als rein statisch im heutigen Sinne der Vorstellung, noch als dynamisch«

- der sich also überhaupt nicht -

»begreifen läßt. Die Einheit von Materie und mechanischer Kraft, die wir als Weltmedium bezeichnen, ist eine sozusagen logisch-reale Formel, um den sich selbst gleichen Zustand der Materie als die Voraussetzung aller zählbaren Entwicklungsstadien anzuzeigen.«

Wir sind offenbar den sich selbst gleichen Urzustand der Materie noch lange nicht los. Hier wird er bezeichnet als Einheit von Materie und mechanischer Kraft, und dies als eine logisch-reale Formel usw. Sobald also die Einheit von Materie und mechanischer Kraft aufhört, fängt die Bewegung an.

Die logisch-reale Formel ist nichts als ein lahmer Versuch, die Hegelschen Kategorien des Ansich und Fürsich für die Wirklichkeitsphilosophie nutzbar zu machen. Im Ansich besteht bei Hegel die ursprüngliche Identität der in einem Ding, einem Vorgang, einem Begriff verborgenen unentwickelten Gegensätze; im Fürsich tritt die Unterscheidung und Trennung dieser verborgenen Elemente ein und ihr Widerstreit beginnt. Wir sollen uns also den regungslosen Urzustand vorstellen als Einheit von Materie und mechanischer Kraft, und den Übergang zur Bewegung als Trennung und Entgegensetzung beider. Was wir damit gewonnen haben, ist nicht der Nachweis der Realität jenes phantastischen Urzustands, sondern nur dies, daß man ihn unter die Hegelsche Kategorie des Ansich fassen kann, und sein ebenso phantastisches Aufhören unter die des Fürsich. Hegel hilf!

die Materie, sagt Herr Dühring, ist der Träger alles Wirklichen; wonach es keine mechanische Kraft außer der Materie geben kann. Die mechanische Kraft ist ferner ein Zustand der Materie. Im Urzustand nun, wo nichts passierte, war die Materie und ihr Zustand, die mechanische Kraft, Eins. Nachher, als etwas vorzugehn anfing, muß sich also wohl der Zustand von der Materie unterschieden haben. Also mit solchen mystischen Phrasen und mit der Versicherung, daß der sich selbst gleiche Zustand weder statisch noch dynamisch, weder im Gleichgewicht noch in der Bewegung war, sollen wir uns abspeisen lassen. Wir wissen noch immer nicht, wo die |55| mechanische Kraft in jenem Zustand war, und wie wir ohne Anstoß von außen, d.h. ohne Gott, von der absoluten Bewegungslosigkeit zur Bewegung kommen sollen.

Vor Herrn Dühring sprachen die Materialisten von Materie und Bewegung. Er reduziert die Bewegung auf die mechanische Kraft als ihre angebliche Grundform und macht es sich damit unmöglich, den wirklichen Zusammenhang zwischen Materie und Bewegung zu verstehn, der übrigens auch allen frühern Materialisten unklar war. Und doch ist die Sache einfach genug. Die Bewegung ist die Daseinsweise der Materie. Nie und nirgends hat es Materie ohne Bewegung gegeben oder kann es sie geben. Bewegung im Weltraum, mechanische Bewegung kleinerer Massen auf den einzelnen Weltkörpern, Molekularschwingung als Wärme oder als elektrische oder magnetische Strömung, chemische Zersetzung und Verbindung. organisches Leben - in einer oder der andern dieser Bewegungsformen oder in mehreren zugleich befindet sich jedes einzelne Stoffatom der Welt in jedem gegebnen Augenblick. Alle Ruhe, alles Gleichgewicht ist nur relativ, hat nur Sinn in Beziehung auf diese oder jene bestimmte Bewegungsform. Ein Körper kann z.B. auf der Erde im mechanischen Gleichgewicht, mechanisch in Ruhe sich befinden; dies hindert durchaus nicht, daß er an der Bewegung der Erde wie an der des ganzen Sonnensystems teilnimmt, ebensowenig wie es seine kleinsten physikalischen Teilchen verhindert, die durch seine Temperatur bedingten Schwingungen zu vollziehn, oder seine Stoffatome, einen chemischen Prozeß durchzumachen. Materie ohne Bewegung ist ebenso undenkbar wie Bewegung ohne Materie. Die Bewegung ist daher ebenso unerschaffbar und unzerstörbar wie die Materie selbst; was die ältere Philosophie (Descartes) so ausdrückt, daß die Quantität der in der Welt vorhandnen Bewegung stets dieselbe sei. Bewegung kann also nicht erzeugt, sie kann nur übertragen werden. Wenn Bewegung von einem Körper auf einen andern übertragen wird, so kann man sie, soweit sie sich überträgt, aktiv ist, ansehn als die Ursache der Bewegung, soweit diese übertragen wird, passiv ist. Diese aktive Bewegung nennen wir Kraft, die passive Kraftäußerung. Es ist hiernach sonnenklar, daß die Kraft ebenso groß ist wie ihre Äußerung, weil es in beiden ja dieselbe Bewegung ist, die sich vollzieht.

Ein bewegungsloser Zustand der Materie erweist sich hiernach als eine der hohlsten und abgeschmacktesten Vorstellungen, als eine reine »Fieberphantasie«. Um dahin zu kommen, muß man das relativ mechanische Gleichgewicht, worin sich ein Körper auf dieser Erde befinden kann, sich als absolute Ruhe vorstellen und dann es auf das gesamte Weltall übertragen. |56| Das wird allerdings erleichtert, wenn man die universelle Bewegung auf die bloße mechanische Kraft reduziert. Und dann bietet die Beschränkung der Bewegung auf bloße mechanische Kraft noch den Vorteil, daß man sich eine Kraft als ruhend, als gebunden, also augenblicklich unwirksam vorstellen kann. Wenn nämlich die Übertragung einer Bewegung, was sehr oft vorkommt, ein einigermaßen verwickelter Vorgang ist, zu dem verschiedne Mittelglieder gehören, so kann man die wirkliche Übertragung auf einen beliebigen Augenblick verschieben, indem man das letzte Glied in der Kette ausläßt. So z.B., wenn man eine Flinte ladet und sich den Augenblick vorbehält, wann durch Abziehen des Drückers die Entladung, die Übertragung der durch Verbrennung des Pulvers freigesetzten Bewegung sich vollziehn soll. Man kann sich also vorstellen, während des bewegungslosen, sich selbst gleichen Zustandes sei die Materie mit Kraft geladen gewesen, und dies scheint Herr Dühring, wenn überhaupt etwas, unter Einheit von Materie und mechanischer Kraft zu verstehn. Diese Vorstellung ist widersinnig, weil sie auf das Weltall einen Zustand als absolut überträgt, der seiner Natur nach relativ ist, und dem also immer nur ein Teil der Materie gleichzeitig unterworfen sein kann. Sehn wir jedoch selbst hiervon ab, so bleibt immer noch die Schwierigkeit, erstens, wie die Welt dazu kam, geladen zu werden, da sich heutzutage die Flinten nicht von selbst laden, und zweitens, wessen Finger dann den Drücker abgezogen hat? Wir mögen uns drehn und wenden, wie wir wollen, unter Herrn Dührings Leitung kommen wir immer wieder auf - Gottes Finger.

Von der Astronomie geht unser Wirklichkeitsphilosoph auf die Mechanik und Physik über und beklagt sich, daß die mechanische Wärmetheorie in einem Menschenalter seit ihrer Entdeckung nicht wesentlich weiter gefördert worden sei, als wozu Robert Mayer sie selbst nach und nach gebracht. Außerdem sei die ganze Sache noch sehr dunkel;

wir müssen »immer wieder erinnern, daß mit den Bewegungszuständen der Materie auch statische Verhältnisse gegeben sind, und daß diese letztern an der mechanischen Arbeit kein Maß haben ... wenn wir früher die Natur als eine große Arbeiterin bezeichnet haben und diesen Ausdruck jetzt streng nehmen, so müssen wir noch hinzufügen, daß die sich selbst gleichen Zustände und ruhenden Verhältnisse keine mechanische Arbeit repräsentieren. Wir vermissen also wiederum die Brücke vom Statischen zum Dynamischen, und wenn die sogenannte latente Wärme bis jetzt für die Theorie ein Anstoß geblieben ist, so müssen wir auch hier einen Mangel anerkennen, der sich am wenigsten in den kosmischen Anwendungen verleugnen sollte.«

Dies ganze orakelhafte Gerede ist wieder nichts als der Ausfluß des bösen Gewissens, das sehr wohl fühlt, daß es sich mit seiner Erzeugung der |57| Bewegung aus der absoluten Bewegungslosigkeit unrettbar festgeritten hat und sich doch schämt, an den einzigen Retter zu appellieren, nämlich an den Schöpfer Himmels und der Erden. Wenn sogar in der Mechanik, die der Wärme eingeschlossen, die Brücke vom Statischen zum Dynamischen, vom Gleichgewicht zur Bewegung, nicht gefunden werden kann, wie sollte dann Herr Dühring verpflichtet sein, die Brücke von seinem bewegungslosen Zustand zur Bewegung zu finden? Und damit wäre er dann glücklich aus der Not.

In der gewöhnlichen Mechanik ist die Brücke vom Statischen zum Dynamischen - der Anstoß von außen. Wenn ein Stein vom Gewicht eines Zentners zehn Meter hochgehoben und frei aufgehängt wird, so daß er in einem sich selbst gleichen Zustand und ruhenden Verhältnis dort hängenbleibt, so muß man an ein Publikum von Säuglingen appellieren, um behaupten zu können, daß die jetzige Lage dieses Körpers keine mechanische Arbeit repräsentiere oder ihr Abstand von seiner frühern Lage an der mechanischen Arbeit kein Maß habe. Jeder Vorübergehende wird Herrn Dühring ohne Mühe begreiflich machen, daß der Stein nicht von selbst da oben an den Strick gekommen ist, und das erste beste Handbuch der Mechanik kann ihm sagen, daß, wenn er den Stein wieder fallenläßt, dieser im Fallen ebensoviel mechanisches Werk leistet als nötig war, ihn die zehn Meter hochzuheben. Selbst die einfachste Tatsache, daß der Stein da oben hängt, repräsentiert mechanisches Werk, denn wenn er lange genug hängenbleibt, reißt der Strick, sobald er infolge chemischer Zersetzung nicht mehr stark genug ist, den Stein zu tragen. Auf solche einfache Grundgestalten, um mit Herrn Dühring zu reden, lassen sich aber alle mechanischen Vorgänge reduzieren, und der Ingenieur soll noch geboren werden, der die Brücke vom Statischen zum Dynamischen nicht finden kann, solange er über hinreichenden Anstoß verfügt.

Allerdings ist es eine harte Nuß und bittre Pille für unsern Metaphysiker, daß die Bewegung ihr Maß finden soll in ihrem Gegenteil, in der Ruhe. Das ist ja ein schreiender Widerspruch, und jeder Widerspruch ist, nach Herrn Dühring, ein Widersinn. Nichtsdestoweniger ist es eine Tatsache, daß der hängende Stein eine bestimmte, durch sein Gewicht und seine Entfernung vom Erdboden genau meßbare, in verschiedner Art - z.B. durch direkten Fall, durch Herabgleiten auf der schiefen Ebene, durch Umdrehung einer Welle - beliebig verwendbare Menge von mechanischer Bewegung vertritt, und eine geladne Flinte ebenfalls. Für die dialektische Auffassung bietet die Ausdrückbarkeit von Bewegung in ihrem Gegenteil, in Ruhe, durchaus keine Schwierigkeit. Für sie ist der ganze Gegensatz, wie |58| wir gesehn haben, nur relativ; absolute Ruhe, unbedingtes Gleichgewicht gibt es nicht. Die einzelne Bewegung strebt dem Gleichgewicht zu, die Gesamtbewegung hebt das Gleichgewicht wieder auf. So sind Ruhe und Gleichgewicht, wo sie vorkommen, das Resultat einer beschränkten Bewegung, und es ist selbstredend, daß diese Bewegung an ihrem Resultat meßbar, in ihm ausdrückbar, und aus ihm in einer oder der andern Form wieder herstellbar ist. Mit einer so einfachen Darstellung der Sache darf aber Herr Dühring sich nicht zufriedengeben. Als guter Metaphysiker reißt er zwischen Bewegung und Gleichgewicht zuerst eine in der Wirklichkeit nicht existierende, gähnende Kluft auf, und wundert sich dann, wenn er keine Brücke über diese selbstfabrizierte Kluft finden kann. Er könnte ebensogut seine metaphysische Rosinante besteigen und dem Kantschen »Ding an sich« nachjagen; denn das und nichts andres ist es, was schließlich hinter dieser unerfindlichen Brücke steckt.

Aber wie steht's mit der mechanischen Wärmetheorie und der gebundnen oder latenten Wann«, die für diese Theorie »ein Anstoß geblieben« ist?

Wenn man ein Pfund Eis von der Temperatur des Gefrierpunkts und bei Normalluftdruck durch Wärme in ein Pfund Wasser von derselben Temperatur verwandelt, so verschwindet eine Wärmemenge, die hinreichend wäre, dasselbe Pfund Wasser von 0 bis auf 794/10 Grad des hundertteiligen Thermometers oder um 794/10 Pfund Wasser um einen Grad zu erwärmen. Wenn man dies Pfund Wasser auf den Siedepunkt, also auf 100° erhitzt und nun in Dampf von 100° verwandelt, so verschwindet, bis das letzte Wasser in Dampf verwandelt ist, eine fast siebenfach größere Wärmemenge, hinreichend, um die Temperatur von 5372/10 Pfund Wasser um einen Grad zu erhöhen. Diese verschwundne Wärme nennt man gebunden. Verwandelt sich durch Abkühlung der Dampf wieder in Wasser und das Wasser wieder in Eis, so wird dieselbe Menge Wärme, die vorher gebunden wurde, wieder frei, d.h. als Wärme fühlbar und meßbar. Dies Freiwerden von Wärme beim Verdichten des Dampfs und beim Gefrieren des Wassers ist die Ursache, daß Dampf, wenn er auf 100° abgekühlt, sich erst allmählich in Wasser und daß eine Wassermasse von der Temperatur des Gefrierpunkts nur sehr langsam sich in Eis verwandelt. Dies sind die Tatsachen. Die Frage ist nun: was wird aus der Wärme, während sie gebunden ist?

Die mechanische Wärmetheorie, nach der die Wärme in einer nach Temperatur und Aggregatzustand größern oder geringern Schwingung der kleinsten physikalisch tätigen Teilchen (Moleküle) der Körper besteht, einer Schwingung, die unter Umständen in jede andre Form der Bewegung umschlagen kann, erklärt die Sache daraus, daß die verschwundne Wärme |59| Werk verrichtet hat, in Werk umgesetzt worden ist. Beim Schmelzen des Eises ist der enge feste Zusammenhang der einzelnen Moleküle unter sich aufgehoben und in lose Aneinanderlegung verwandelt; beim Verdampfen des Wassers auf dem Siedepunkt ist ein Zustand eingetreten, worin die einzelnen Moleküle gar keinen merklichen Einfluß aufeinander ausüben und unter der Einwirkung der Wärme sogar in allen Richtungen auseinanderfliegen. Es ist nun klar, daß die einzelnen Moleküle eines Körpers im gasförmigen zustande mit einer weit größern Energie begabt sind als im flüssigen, und im flüssigen wieder mehr als im festen zustande Die gebundne Wärme ist also nicht verschwunden, sie ist einfach verwandelt worden und hat die Form der molekularen Spannkraft angenommen. Sobald die Bedingung aufhört, unter der die einzelnen Moleküle diese absolute oder relative Freiheit gegeneinander behaupten können, sobald nämlich die Temperatur unter das Minimum von 100°, beziehungsweise 0° herabgeht, wird diese Spannkraft losgelassen, die Moleküle drängen sich wieder aneinander mit derselben Kraft, mit der sie vorher auseinandergerissen; und diese Kraft verschwindet, aber nur, um als Wärme wiederzuerscheinen, und zwar als genau dieselbe Quantität Wärme, die vorher gebunden war. Diese Erklärung ist natürlich eine Hypothese wie die ganze mechanische Wärmetheorie, insofern niemand bis jetzt ein Molekül, geschweige ein schwingendes, je gesehn hat. Sie ist eben deswegen sicher voller Mängel wie die ganze noch sehr junge Theorie, aber sie kann wenigstens den Hergang erklären, ohne irgendwie mit der Unzerstörbarkeit und Unerschaffbarkeit der Bewegung in Widerstreit zu kommen, und sie weiß sogar genau von dem Verbleib der Wärme innerhalb ihrer Verwandlung Rechenschaft zu geben. Die latente oder gebundne Wärme ist also keineswegs ein Anstoß für die mechanische Wärmetheorie. Im Gegenteil bringt diese Theorie zum erstenmal eine rationelle Erklärung des Vorgangs fertig, und ein Anstoß kann höchstens daraus entstehn, daß die Physiker fortfahren, die in eine andre Form von Molekularenergie verwandelte Wärme mit dem veralteten und unpassend gewordenen Ausdruck »gebunden« zu bezeichnen.

Also repräsentieren die sich selbst gleichen Zustände und ruhenden Verhältnisse des festen, tropfbarflüssigen und gasförmigen Aggregatzustandes allerdings mechanisches Werk, insofern das mechanische Werk das Maß der Wärme ist. Sowohl die feste Erdkruste wie das Wasser des Ozeans repräsentiert in seinem jetzigen Aggregatzustand eine ganz bestimmte Quantität frei gewordner Wärme, der selbstredend ein ebenso bestimmtes Quantum mechanischer Kraft entspricht. Bei dem Übergang des Gasballs, aus dem die Erde entstanden, in den tropfbarflüssigen und später in den großen- |60| teils festen Aggregatzustand, ist ein bestimmtes Quantum Molekularenergie als Wärme in den Weltraum ausgestrahlt worden. Die Schwierigkeit, von der Herr Dühring in geheimnisvoller Weise munkelt, existiert also nicht, und selbst bei den kosmischen Anwendungen mögen wir zwar auf Mängel und Lücken stoßen - die unsern unvollkommnen Erkenntnismitteln geschuldet - aber nirgendswo auf theoretisch unüberwindliche Hindernisse. Die Brücke vom Statischen zum Dynamischen ist auch hier der Anstoß von außen - Abkühlung oder Erwärmung, veranlaßt durch andre Körper, die auf den im Gleichgewicht befindlichen Gegenstand einwirken. Je weiter wir in dieser Dühringschen Naturphilosophie vordringen, desto unmöglicher erscheinen alle Versuche, die Bewegung aus der Bewegungslosigkeit zu erklären oder die Brücke zu finden, auf der das rein Statische, Ruhende aus sich selbst zum Dynamischen, zur Bewegung kommen kann.

Hiermit wären wir dann den sich selbst gleichen Urzustand für einige Zeit glücklich los. Herr Dühring geht zur Chemie über, und enthüllt uns bei dieser Gelegenheit drei bis jetzt durch die Wirklichkeitsphilosophie gewonnene Beharrungsgesetze der Natur, wie folgt:

1. der Größenbestand der allgemeinen Materie, 2. der der einfachen (chemischen) Elemente und 3. der der mechanischen Kraft sind unveränderlich.

Also: die Unerschaffbarkeit und Unzerstörbarkeit der Materie sowie ihrer einfachen Bestandteile, soweit sie deren hat, und der Bewegung - diese alten, weltbekannten Tatsachen, höchst ungenügend ausgedrückt -, das ist das einzig wirklich Positive, das uns Herr Dühring als Resultat seiner Naturphilosophie der unorganischen Welt zu bieten imstande ist. Alles Dinge, die wir längst gewußt. Aber was wir nicht gewußt haben, ist: daß es »Beharrungsgesetze« und als solche »schematische Eigenschaften des Systems der Dinge« sind. Es geht uns wieder wie oben bei Kant: Herr Dühring nimmt irgendwelche allbekannte Schnurre, klebt eine Dühringsche Etikette drauf, und nennt das:

»von Grund aus eigentümliche Ergebnisse und Anschauungen ... systemschaffende Gedanken ... wurzelhafte Wissenschaft«.

Doch wir brauchen deswegen noch lange nicht zu verzweifeln. Welche Mängel auch die wurzelhafteste Wissenschaft und die beste Gesellschaftseinrichtung haben mögen, eins kann Herr Dühring mit Bestimmtheit behaupten:

|61| »Das im Universum vorhandne Gold muß jederzeit dieselbe Menge gewesen sein und kann sich ebensowenig wie die allgemeine Materie vermehrt oder vermindert haben.«

Was wir uns aber für dies »vorhandne Gold« kaufen können, das sagt Herr Dühring leider nicht.

VII. Naturphilosophie. Organische Welt

»Von der Mechanik in Druck und Stoß bis zur Verknüpfung der Empfindungen und Gedanken reicht eine einheitliche und einzige Stufenleiter von Einschaltungen.«

Mit dieser Versicherung erspart es sich Herr Dühring, über die Entstehung des Lebens etwas weiteres zu sagen, obwohl man von einem Denker, der die Entwicklung der Welt bis auf den sich selbst gleichen Zustand zurück verfolgt hat, und der auf den andern Weltkörpern so heimisch ist, wohl erwarten dürfte, daß er auch hier genau Bescheid wisse. Im übrigen ist jene Versicherung nur halb richtig, solange sie nicht durch die schon erwähnte Hegelsche Knotenlinie von Maßverhältnissen ergänzt wird. Bei aller Allmählichkeit bleibt der Übergang von einer Bewegungsform zur andern immer ein Sprung, eine entscheidende Wendung. So der Übergang von der Mechanik der Weltkörper zu der der kleineren Massen auf einem einzelnen Weltkörper; ebenso der von der Mechanik der Massen zu der Mechanik der Moleküle - die Bewegungen umfassend, die wir in der eigentlich sogenannten Physik untersuchen: Wärme, Licht, Elektrizität, Magnetismus; ebenso vollzieht sich der Übergang von der Physik der Moleküle zu der Physik der Atome - der Chemie - wieder durch einen entschiednen Sprung, und noch mehr ist dies der Fall beim Übergang von gewöhnlicher chemischer Aktion zum Chemismus des Eiweißes, den wir Leben nennen. Innerhalb der Sphäre des Lebens werden dann die Sprünge immer seltner und unmerklicher. - Es ist also wieder Hegel, der Herrn Dühring berichtigen muß.

Den begrifflichen Übergang zur organischen Welt liefert Herrn Dühring der Zweckbegriff. Dies ist wieder entlehnt aus Hegel, der in der »Logik« - Lehre vom Begriff - vermittelst der Teleologie oder Lehre vom Zweck, vom Chemismus zum Leben übergeht. Wohin wir blicken, stoßen wir bei Herrn Dühring auf eine Hegelsche »Krudität«, die er ganz ungeniert für seine eigne wurzelhafte Wissenschaft ausgibt. Es würde zu weit |62| führen, hier zu untersuchen, inwieweit die Anwendung der Vorstellungen von Zweck und Mittel auf die organische Welt berechtigt und angebracht ist. Jedenfalls führt auch die Anwendung des Hegelschen »inneren Zwecks«, d.h. eines Zwecks, der nicht durch einen absichtlich handelnden Dritten, etwa die Weisheit der Vorsehung, in die Natur importiert ist, sondern der in der Notwendigkeit der Sache selbst liegt, bei Leuten, die nicht vollständig philosophisch geschult sind, fortwährend zur gedankenlosen Unterschiebung bewußter und absichtlicher Handlung. Derselbe Herr Dühring, der bei der geringsten »spiritistischen« Regung andrer Leute in ungemessene sittliche Entrüstung gerät, versichert

»mit Bestimmtheit, daß die Triebempfindungen in der Hauptsache um der Befriedigung willen geschaffen worden sind, die mit ihrem Spiel verbunden ist«.

Er erzählt uns, die arme Natur

»muß immer wieder von neuem die gegenständliche Welt in Ordnung halten«, und daneben hat sie noch mehr als eine Angelegenheit zu erledigen, »die von seiten der Natur mehr Subtilität erforderlich macht, als man gewöhnlich zugesteht«. Aber die Natur weiß nicht nur, warum sie dies und jenes schafft, sie hat nicht nur Hausmagdsdienste zu verrichten, sie hat nicht nur Subtilität, was doch schon eine ganz hübsche Vervollkommnung im subjektiven bewußten Denken ist, sie hat auch einen Willen; denn die Zugabe zu den Trieben, daß sie nebenbei reale Naturbedingungen: Ernährung, Fortpflanzung usw. erfüllen, diese Zugabe »dürfen wir nicht als direkt, sondern nur als indirekt gesollt ansehen«.

Wir sind hiermit bei einer bewußt denkenden und handelnden Natur angekommen, stehn also schon auf der »Brücke« zwar nicht vom Statischen zum Dynamischen, aber doch vom Pantheismus zum Deismus. Oder beliebt es Herrn Dühring etwa, auch einmal ein wenig »naturphilosophische Halbpoesie« zu treiben?

Unmöglich. Alles was uns unser Wirklichkeitsphilosoph über die organische Natur zu sagen weiß, beschränkt sich auf den Kampf gegen diese naturphilosophische Halbpoesie, gegen »die Scharlatanerie mit ihren leichtfertigen Oberflächlichkeiten und sozusagen wissenschaftlichen Mystifikationen«, gegen die »dichtelnden Züge« des Darwinismus.

Vor allen Dingen wird Darwin vorgeworfen, daß er die Malthussche Bevölkerungstheorie aus der Ökonomie in die Naturwissenschaft übertrage, daß er in den Vorstellungen des Tierzüchters befangen sei, daß er mit dem Kampf ums Dasein unwissenschaftliche Halbpoesie treibe, und daß der ganze Darwinismus, nach Abzug des von Lamarck Entlehnten, ein Stück gegen die Humanität gekehrte Brutalität sei.

|63| Darwin hatte von seinen wissenschaftlichen Reisen die Ansicht nach Hause gebracht, daß die Arten der Pflanzen und Tiere nicht beständige, sondern sich verändernde sind. Um diesen Gedanken zu Hause weiter zu verfolgen, bot sich ihm kein besseres Feld als das der Tier- und Pflanzenzüchtung. Grade hierfür ist England das klassische Land; die Leistungen andrer Länder, z.B. Deutschlands, können nicht entfernt einen Maßstab abgeben für das in dieser Beziehung in England Erreichte. Dabei gehören die meisten Erfolge den letzten hundert Jahren an, so daß die Konstatierung der Tatsachen wenig Schwierigkeiten macht. Darwin fand nun, daß diese Züchtung künstlich, an Tieren und Pflanzen derselben Art, Unterschiede hervorgerufen hatte, größer als diejenigen, die bei allgemein als verschieden anerkannten Arten vorkommen. Einerseits war also die Veränderlichkeit der Arten bis auf einen gewissen Grad nachgewiesen, andrerseits die Möglichkeit gemeinschaftlicher Vorfahren für Organismen, die verschiedne Artcharaktere besaßen. Darwin untersuchte nun, ob nicht etwa in der Natur sich Ursachen finden, die - ohne die bewußte Absicht des Züchters - dennoch auf die Dauer an den lebenden Organismen ähnliche Veränderungen hervorrufen mußten, wie die künstliche Züchtung. Diese Ursachen fand er in dem Mißverhältnis zwischen der ungeheuren Zahl der von der Natur geschaffenen Keime und der geringen von wirklich zur Reife gelangenden Organismen. Da nun aber jeder Keim zur Entwicklung strebt, so entsteht notwendig ein Kampf ums Dasein, der nicht bloß als direkte, körperliche Bekämpfung oder Verzehrung, sondern auch als Kampf um Raum und Licht, selbst bei Pflanzen noch, sich zeigt. Und es ist augenscheinlich, das in diesem Kampfe diejenigen Individuen am meisten Aussicht haben, zur Reife zu gelangen und sich fortzupflanzen, die irgendeine, noch so unbedeutende, aber im Kampf ums Dasein vorteilhafte individuelle Eigentümlichkeit besitzen. Diese individuellen Eigentümlichkeiten haben demnach die Tendenz, sich zu vererben, und wenn sie bei mehreren Individuen derselben Art vorkommen, sich durch gehäufte Vererbung in der einmal angenommenen Richtung zu steigern; während die diese Eigentümlichkeit nicht besitzenden Individuen im Kampf ums Dasein leichter erliegen und allmählich verschwinden. Auf diese Weise verändert sich eine Art durch natürliche Züchtung, durch das Überleben der Geeignetsten.

Gegen diese Darwinsche Theorie sagt nun Herr Dühring, der Ursprung der Vorstellung vom Kampf ums Dasein sei, wie es Darwin selbst eingestanden habe, in einer Verallgemeinerung der Ansichten des nationalökonomischen Bevölkerungstheoretikers Malthus zu suchen und demgemäß auch mit allen denjenigen Schäden behaftet, die den priesterlich malthusiani- |64| sehen Anschauungen über das Bevölkerungsgedränge eigen sind. - Nun fällt es Darwin gar nicht ein zu sagen, der Ursprung der Vorstellung vom Kampf ums Dasein sei bei Malthus zu suchen. Er sagt nur: seine Theorie vom Kampf ums Dasein sei die Theorie von Malthus, angewandt auf die ganze tierische und pflanzliche Welt. Wie groß auch der Bock sein mag, den Darwin geschossen, indem er in seiner Naivetät die Malthussche Lehre so unbesehn akzeptierte, so sieht doch jeder auf den ersten Blick, daß man keine Malthus-Brille braucht, um den Kampf ums Dasein in der Natur wahrzunehmen - den Widerspruch zwischen der zahllosen Menge von Keimen, die die Natur verschwenderisch erzeugt, und der geringen Anzahl von ihnen, die überhaupt zur Reife kommen können; einen Widerspruch, der sich in der Tat größtenteils in einem - stellenweise äußerst grausamen - Kampf ums Dasein löst. Und wie das Gesetz des Arbeitslohns seine Geltung behalten hat, auch nachdem die malthusianischen Argumente längst verschollen sind, auf die Ricardo es stützte -, so kann der Kampf ums Dasein in der Natur ebenfalls stattfinden, auch ohne irgendeine malthusianische Interpretation. Übrigens haben die Organismen der Natur ebenfalls ihre Bevölkerungsgesetze, die so gut wie gar nicht untersucht sind, deren Feststellung aber für die Theorie von der Entwicklung der Arten von entscheidender Wichtigkeit sein wird. Und wer hat auch in dieser Richtung den entscheidenden Anstoß gegeben? Niemand anders als Darwin.

Herr Dühring hütet sich wohl, auf diese positive Seite der Frage einzugehn. Statt dessen muß der Kampf ums Dasein immer wieder vorhalten. Von einem Kampf ums Dasein unter bewußtlosen Pflanzen und gemütlichen Pflanzenfressern könne von vornherein keine Rede sein:

»in genau bestimmtem Sinne ist nun der Kampf ums Dasein innerhalb der Brutalität insoweit vertreten, als die Ernährung durch Raub und Verzehrung erfolgt«.

Und nachdem er den Begriff: Kampf ums Dasein, auf diese engen Grenzen reduziert, kann er über die Brutalität dieses von ihm selbst auf die Brutalität beschränkten Begriffs seiner vollen Entrüstung freien Lauf lassen. Diese sittliche Entrüstung trifft aber nur Herrn Dühring selbst, der ja der alleinige Verfasser des Kampfs ums Dasein in dieser Beschränkung und daher auch allein dafür verantwortlich ist. Es ist also nicht Darwin, der

»im Gebiet der Bestien die Gesetze und das Verständnis aller Naturaktion sucht« -

Darwin hatte ja grade die ganze organische Natur mit in den Kampf eingeschlossen -, sondern ein von Herrn Dühring selbst zurechtgemachter Phantasiepopanz. Der Name: Kampf ums Dasein, kann übrigens dem hochmoralischen Zorn des Herrn Dühring gern preisgegeben werden. Daß |65| die Sache auch unter Pflanzen existiert, kann ihm jede Wiese, jedes Kornfeld, jeder Wald beweisen, und nicht um den Namen handelt es sich, ob man das »Kampf ums Dasein« nennen soll oder »Mangel der Existenzbedingungen und mechanische Wirkungen«, sondern darum, wie diese Tatsache auf die Erhaltung oder Veränderung der Arten einwirkt. Darüber verharrt Herr Dühring in einem hartnäckig sich selbst gleichen Stillschweigen. Es wird also wohl vorläufig bei der Naturzüchtung sein Bewenden haben.

Aber der Darwinismus »produziert seine Verwandlungen und Differenzen aus nichts«.

Allerdings sieht Darwin, wo er von der Naturzüchtung handelt, ab von den Ursachen, die die Veränderungen in den einzelnen Individuen hervorgerufen haben, und handelt zunächst von der Art und Weise, in der solche individuelle Abweichungen nach und nach zu Kennzeichen einer Race, Spielart oder Art werden. Für Darwin handelt es sich zunächst weniger darum, diese Ursachen zu finden - die bis jetzt teilweise ganz unbekannt, teilweise nur ganz allgemein angebbar sind -, als vielmehr eine rationelle Form, in der sich ihre Wirkungen festsetzen, dauernde Bedeutung erhalten. Daß Darwin dabei seiner Entdeckung einen übermäßigen Wirkungskreis zuschrieb, sie zum ausschließlichen Hebel der Artveränderung machte und die Ursachen der wiederholten individuellen Veränderungen über der Form ihrer Verallgemeinerung vernachlässigte, ist ein Fehler, den er mit den meisten Leuten gemein hat, die einen wirklichen Fortschritt machen. Zudem, wenn Darwin seine individuellen Verwandlungen aus nichts produziert und dabei »die Weisheit des Züchters« ausschließlich anwendet, so muß hiernach der Züchter seine nicht bloß vorgestellten, sondern wirklichen Verwandlungen der Tier- und Pflanzenformen ebenfalls aus nichts produzieren. Wer aber den Anstoß gegeben hat, zu untersuchen, woraus denn eigentlich diese Verwandlungen und Differenzen entstehn, ist wieder niemand anders als Darwin.

Neuerdings ist, namentlich durch Haeckel, die Vorstellung von der Naturzüchtung erweitert und die Artveränderung gefaßt als Resultat der Wechselwirkung von Anpassung und Vererbung, wobei dann die Anpassung als die ändernde, die Vererbung als die erhaltende Seite des Prozesses dargestellt wird. Auch dies ist Herrn Dühring wieder nicht recht.

»Eigentliche Anpassung an Lebensbedingungen, wie sie durch die Natur geboten oder entzogen werden, setzt Antriebe und Tätigkeiten voraus, die sich nach Vorstellungen bestimmen. Andernfalls ist die Anpassung nur ein Schein und die alsdann |66| wirkende Kausalität erhebt sich nicht über die niedern Stufen des Physikalischen, Chemischen und pflanzlich Physiologischen.«

Es ist wieder der Name, der Herrn Dühring zum Ärgernis dient. Wie er aber auch den Vorgang bezeichnen möge: die Frage ist hier die, ob durch solche Vorgänge Veränderungen in den Arten der Organismen hervorgerufen werden oder nicht? Und Herr Dühring gibt wieder keine Antwort.

»Wenn eine Pflanze in ihrem Wachstum den Weg nimmt, auf welchem sie das meiste Licht erhält, so ist diese Wirkung des Reizes nichts als eine Kombination physikalischer Kräfte und chemischer Agenzien, und wenn man hier nicht metaphorisch, sondern eigentlich von einer Anpassung reden will, so muß dies in die Begriffe eine spiritistische Verworrenheit bringen.«

So streng gegen andre ist derselbe Mann, der ganz genau weiß, um wessen Willen die Natur dies oder jenes tut, der von der Subtililät der Natur spricht, ja von ihrem Willen! Spiritistische Verworrenheit in der Tat - aber wo, bei Haeckel oder bei Herrn Dühring?

Und nicht nur spiritistische, sondern auch logische Verworrenheit. Wir sahen, daß Herr Dühring mit aller Gewalt darauf besteht, den Zweckbegriff in der Natur geltend zu machen:

»Die Beziehung von Mittel und Zweck setzt keineswegs eine bewußte Absicht voraus.«

Was ist nun aber die Anpassung ohne bewußte Absicht, ohne Vermittlung von Vorstellungen, gegen die er so eifert, anders als eine solche unbewußte Zwecktätigkeit?

Wenn also Laubfrösche und laubfressende Insekten grüne, Wüstentiere sandgelbe, Polarlandtiere vorwiegend schneeweiße Farbe haben, so haben sie sich diese sicher nicht absichtlich oder nach irgendwelchen Vorstellungen angeeignet; im Gegenteil lassen sich die Farben nur aus physikalischen Kräften und chemischen Agenzien erklären. Und doch ist es unleugbar, daß diese Tiere, durch jene Farben, dem Mittel, in dem sie leben, zweckmäßig angepaßt sind, und zwar so, daß sie ihren Feinden dadurch weit weniger sichtbar geworden. Ebenso sind die Organe, womit gewisse Pflanzen die sich darauf niedersetzenden Insekten fangen und verzehren, dieser Tätigkeit angepaßt, und sogar zweckmäßig angepaßt. Wenn nun Herr Dühring darauf besteht, daß die Anpassung durch Vorstellungen bewirkt sein muß, so sagt er nur mit andern Worten, daß die Zwecktätigkeit ebenfalls durch Vorstellungen vermittelt, bewußt, absichtlich sein muß. Womit wir wieder, wie gewöhnlich in der Wirklichkeitsphilosophie, beim zwecktätigen Schöpfer, bei Gott angekommen sind.

|67| »Sonst nannte man eine solche Auskunft Deismus und hielt nicht viel davon« (sagt Herr Dühring); »jetzt aber scheint man sich auch in dieser Beziehung rückwärtsentwickelt zu haben.«

Von der Anpassung kommen wir auf die Vererbung. Auch hier ist der Darwinismus, nach Herrn Dühring, vollständig auf dem Holzwege. Die ganze organische Welt, behaupte Darwin, soll von einem Urwesen abstammen, sozusagen die Brut eines einzigen Wesens sein. Die selbständige Nebenordnung gleichartiger Naturproduktionen ohne Abstammungsvermittlung sei für Darwin gar nicht vorhanden, und er müsse daher mit seinen rückwärtsgekehrten Anschauungen sofort am Ende sein, wo ihm der Faden der Zeugung oder sonstigen Fortpflanzung reißt.

Die Behauptung, Darwin leite alle jetzigen Organismen von Einem Urwesen her, ist, um uns höflich auszudrücken, eine »eigne freie Schöpfung und Imagination« des Herrn Dühring. Darwin sagt ausdrücklich auf der vorletzten Seite der »Origin of Species«, 6. Auflage, er sehe

»alle Wesen nicht als besondre Schöpfungen, sondern als die Nachkommen, in gerader Linie, einiger weniger Wesen« |Hervorhebung von Engels| an.

Und Haeckel geht noch bedeutend weiter und nimmt

»einen ganz selbständigen Stamm für das Pflanzenreich, einen zweiten für das Tierreich« an und zwischen beiden »eine Anzahl von selbständigen Protistenstämmen, deren jeder ganz unabhängig von jenen aus einer eignen archigonen Monerenform sich entwickelt hat« (»Schöpfungsgeschichte« S. 397).

Dieses Urwesen ist von Herrn Dühring nur erfunden worden, um es durch Parallele mit dem Urjuden Adam möglichst in Verruf zu bringen; wobei ihm - nämlich Herrn Dühring - das Unglück passiert, daß ihm unbekannt geblieben, wieso dieser Urjude durch [George] Smiths assyrische Entdeckungen sich als Ursemit entpuppt; daß die ganze Schöpfungs- und Sündflutgeschichte der Bibel sich erweist als ein Stück aus dem altheidnischen, den Juden mit Babyloniern, Chaldäern und Assyrern gemeinsamen religiösen Sagenkreise.

Es ist allerdings ein harter, aber nicht abzuweisender Vorwurf gegen Darwin, daß er sofort am Ende ist, wo ihm der Faden der Abstammung reißt. Leider verdient ihn unsre gesamte Naturwissenschaft. Wo ihr der Faden der Abstammung reißt, ist sie »am Ende«. Sie hat es bisher noch nicht fertiggebracht, organische Wesen ohne Abstammung zu erzeugen; ja noch nicht einmal einfaches Protoplasma oder andre Eiweißkörper aus den chemischen Elementen herzustellen. Sie kann also über den Ursprung des |68| Lebens bis jetzt nur soviel mit Bestimmtheit sagen, daß er sich auf chemischem Wege vollzogen haben muß. Vielleicht aber ist die Wirklichkeitsphilosophie in der Lage, hier abhelfen zu können, da sie über selbständig nebengeordnete Naturproduktionen verfügt, die nicht durch Abstammung untereinander vermittelt sind. Wie können diese entstanden sein? Durch Urzeugung? Aber bis jetzt haben selbst die verwegensten Vertreter der Urzeugung nichts als Bakterien, Pilzkeime und andere sehr ursprüngliche Organismen auf diesem Wege zu erzeugen beansprucht - keine Insekten, Fische, Vögel oder Säugetiere. Wenn nun diese gleichartigen Naturproduktionen - wohlverstanden organische, von denen ist hier allein die Rede - nicht durch Abstammung zusammenhängen, so müssen sie oder jeder ihrer Vorfahren da, »wo der Faden der Abstammung reißt«, durch einen aparten Schöpfungsakt in die Welt gesetzt sein. Also schon wieder beim Schöpfer und dem, was man Deismus nennt.

Ferner erklärt Herr Dühring es für eine große Oberflächlichkeit von Darwin,

»den bloßen Akt geschlechtlicher Komposition von Eigenschaften zum Fundamentalprinzip der Entstehung dieser Eigenschaften zu machen«.

Dies ist wieder eine freie Schöpfung und Imagination unseres wurzelhaften Philosophen. Im Gegenteil erklärt Darwin bestimmt: der Ausdruck Naturzüchtung schließe nur ein die Erhaltung von Veränderungen, nicht aber ihre Erzeugung (S. 63). Diese neue Unterschiebung von Sachen, die Darwin nie gesagt, dient aber dazu, uns zu folgendem Dühringschen Tiefsinn zu verhelfen:

»Hätte man im innern Schematismus der Zeugung irgendein Prinzip der selbständigen Veränderung aufgesucht, so würde dieser Gedanke ganz rationell gewesen sein; denn es ist ein natürlicher Gedanke, das Prinzip der allgemeinen Genesis mit dem der geschlechtlichen Fortpflanzung zu einer Einheit zusammenzufassen und die sogenannte Urzeugung aus einem hohem Gesichtspunkt nicht als absoluten Gegensatz der Reproduktion, sondern eben als eine Produktion anzusehn.«

Und der Mann, der solchen Gallimathias verfassen konnte, geniert sich nicht, Hegel seinen »Jargon« vorzuwerfen!

doch genug der verdrießlichen, widerspruchsvollen Quengelei und Nörgelei, mit der Herr Dühring seinem Ärger über den kolossalen Aufschwung Luft macht, den die Naturwissenschaft dem Anstoß der Darwinschen Theorie verdankt. Weder Darwin noch seine Anhänger unter den Naturforschern denken daran, die großen Verdienste Lamarcks irgendwie zu verkleinern; sind sie es doch grade, die ihn zuerst wieder auf den Schild |69| gehoben haben. Aber wir dürfen nicht übersehn, daß zu Lamarcks Zeit die Wissenschaft bei weitem noch nicht über hinreichendes Material verfügte, um die Frage nach dem Ursprung der Arten anders als antizipierend, sozusagen prophetisch beantworten zu können. Außer dem enormen Material aus dem Gebiet der sammelnden wie der anatomischen Botanik und Zoologie, das seitdem angehäuft, sind aber seit Lamarck zwei ganz neue Wissenschaften entstanden, die hier von entscheidender Wichtigkeit sind: die Untersuchung der Entwicklung der pflanzlichen und tierischen Keime (Embryologie) und die der, in den verschiednen Schichten der Erdoberfläche aufbewahrten, organischen Überreste (Paläontologie). Es findet sich nämlich eine eigentümliche Übereinstimmung zwischen der stufenweisen Entwicklung der organischen Keime zu reifen Organismen und der Reihenfolge der nacheinander in der Geschichte der Erde auftretenden Pflanzen und Tiere. Und grade diese Übereinstimmung ist es, die der Entwicklungstheorie die sicherste Grundlage gegeben hat. Die Entwicklungstheorie selbst ist aber noch sehr jung, und es ist daher unzweifelhaft, daß die weitere Forschung die heutigen, auch die streng darwinistischen Vorstellungen von dem Hergang der Artenentwicklung sehr bedeutend modifizieren wird.

Was hat uns nun die Wirklichkeitsphilosophie über die Entwicklung des organischen Lebens Positives zu sagen?

»Die ... Abänderlichkeit der Arten ist eine annehmbare Voraussetzung.« Daneben gilt aber auch »die selbständige Nebenordnung gleichartiger Naturproduktionen, ohne Abstammungsvermittlung«.

Hiernach sollte man meinen, die ungleichartigen Naturproduktionen, d.h. die sich ändernden Arten stammten voneinander ab, die gleichartigen aber nicht. Dies stimmt aber auch nicht ganz; denn auch bei sich ändernden Arten dürfte

»die Vermittlung durch Abstammung im Gegenteil erst ein ganz sekundärer Akt der Natur sein«.

Also doch Abstammung, aber »zweiter Klasse«. Seien wir froh, daß die Abstammung, nachdem Herr Dühring ihr soviel Übles und Dunkles nachgesagt, dennoch endlich durch die Hintertür wieder zugelassen wird. Ebenso geht es der Naturzüchtung, denn nach all der sittlichen Entrüstung über den Kampf ums Dasein, vermittelst dessen die Naturzüchtung sich ja vollzieht, heißt es plötzlich:

»Der tiefere Grund der Beschaffenheit der Gebilde ist mithin in den Lebensbedingungen und kosmischen Verhältnissen zu suchen, während die von Darwin betonte Naturzüchtung erst in zweiter Linie in Frage kommen kann.«

|70| Also doch Naturzüchtung, wenn auch zweiter Klasse; also mit der Naturzüchtung auch Kampf ums Dasein und damit auch priesterlich-malthusianisches Bevölkerungsgedränge! Das ist alles, im übrigen verweist uns Herr Dühring auf Lamarck.

Schließlich warnt er uns vor dem Mißbrauch der Worte Metamorphose und Entwicklung. Metamorphose sei ein unklarer Begriff und der Begriff der Entwicklung nur soweit zulässig, als sich Entwicklungsgesetze wirklich nachweisen lassen. Statt beider sollen wir sagen »Komposition«, und dann sei alles gut. Es ist wieder die alte Geschichte: die Sachen bleiben, wie sie waren, und Herr Dühring ist ganz zufrieden, sobald wir nur die Namen ändern, wenn wir von der Entwicklung des Hühnchens im Ei sprechen, so machen wir Konfusion, weil wir die Entwicklungsgesetze nur mangelhaft nachweisen können. Sprechen wir aber von seiner Komposition, so wird alles klar. Wir werden also nicht mehr sagen: dies Kind entwickelt sich prächtig, sondern: es komponiert sich ausgezeichnet, und wir dürfen Herrn Dühring Glück wünschen, daß er dem Schöpfer des Nibelungenringes nicht nur in edler Selbstschätzung würdig zur Seite steht, sondern auch in seiner Eigenschaft als Komponist der Zukunft.

VIII. Naturphilosophie. Organische Welt

(Schluß)

»Man erwäge, ... was zu unserm naturphilosophischen Abschnitt an positiver Erkenntnis gehöre, um ihn mit allen seinen wissenschaftlichen Voraussetzungen auszustatten. Ihm liegen zunächst alle wesentlichen Errungenschaften der Mathematik und alsdann die Hauptfeststellungen des exakten Wissens in Mechanik, Physik, Chemie, sowie überhaupt die naturwissenschaftlichen Ergebnisse in Physiologie, Zoologie und in ähnlichen Forschungsgebieten zugrunde.«

So zuversichtlich und entschieden spricht sich Herr Dühring aus über die mathematische und naturwissenschaftliche Gelehrsamkeit des Herrn Dühring. Man sieht es dem magern Abschnitt selbst nicht an, und noch weniger seinen noch dürftigeren Resultaten, welche Wurzelhaftigkeit positiver Erkenntnis dahintersteckt. Jedenfalls braucht man, um die Dühringschen Orakel über Physik und Chemie zustande zu bringen, von der Physik nichts zu wissen als die Gleichung, die das mechanische Äquivalent der Wärme ausdrückt, und von der Chemie nur dies, daß alle Körper sich einteilen in Elemente und Zusammensetzungen von Elementen. Wer zudem, |71| wie Herr Dühring S. 131, von »gravitierenden Atomen« sprechen kann, beweist nur damit, daß er über den Unterschied von Atom und Molekül gänzlich »im Dunkeln« ist. Atome existieren bekanntlich nicht für die Gravitation oder andre mechanische oder physikalische Bewegungsformen, sondern nur für die chemische Aktion. Und wenn man gar das Kapitel über die organische Natur liest, so kann man bei dem leeren, sich widersprechenden, am entscheidenden Punkt orakelhaft sinnlosen Hin- und Hergerede, und bei der absoluten Nichtigkeit des Schlußergebnisses schon von vornherein sich der Ansicht nicht erwehren, daß Herr Dühring hier von Dingen spricht, von denen er merkwürdig wenig weiß. Diese Ansicht wird zur Gewißheit, wenn man zu seinem Vorschlag kommt, in der Lehre von dem organischen Wesen (Biologie) fernerhin Komposition zu sagen statt Entwicklung. Wer so etwas vorschlagen kann, beweist, daß er von der Bildung organischer Körper nicht die geringste Ahnung hat.

Alle organischen Körper, mit Ausnahme der allerniedrigsten, bestehn aus Zellen, kleinen, nur durch starke Vergrößerung sichtbaren Eiweißklümpchen mit einem Zellenkern im Innern. In der Regel entwickelt die Zelle auch eine äußere Haut, und der Inhalt ist dann mehr oder weniger flüssig. Die niedrigsten Zellenkörper bestehn aus einer Zelle; die ungeheure Mehrzahl der organischen Wesen ist vielzellig, ein zusammengehöriger Komplex vieler Zellen, die, bei niedrigem Organismen noch gleichartig, bei den höhern mehr und mehr verschiedne Formen, Gruppierungen und Tätigkeiten erhalten. Im menschlichen Körper z. B. sind Knochen, Muskel, Nerven, Sehnen, Bänder, Knorpel. Haut, kurz, alle Gewebe aus Zellen entweder zusammengesetzt oder doch entstanden. Aber allen organischen Zellengebilden, von der Amöbe, die ein einfaches, die meiste Zeit hautloses Eiweißklümpchen mit einem Zeilenkern im Innern ist, bis zum Menschen, und von der kleinsten einzelligen Desmidiacee bis zur höchstentwickelten Pflanze, ist die Art gemeinsam wie die Zellen sich vermehren: durch Spaltung. Der Zellenkern schnürt sich zuerst in der Mitte ein, die Einschnürung, die die beiden Kolben des Kerns trennt, wird immer stärker, zuletzt trennen sie sich und bilden zwei Zellenkerne. Derselbe Vorgang findet an der Zelle selbst statt, jeder der beiden Kerne wird der Mittelpunkt einer Ansammlung von Zellstoff, die mit der andern durch eine immer enger werdende Einschnürung zusammenhängt, bis zuletzt beide sich trennen und als selbständige Zellen fortleben. Durch solche wiederholte Zellenspaltung wird aus dem Keimbläschen des tierischen Eies, nach eingetretener Befruchtung, nach und nach das ganze fertige Tier entwickelt, und ebenso beim |72| erwachsenen Tier der Ersatz der verbrauchten Gewebe vollzogen. Einen solchen Vorgang eine Komposition, und seine Bezeichnung als Entwicklung »eine pure Imagination« zu nennen, dazu gehört doch sicher jemand, der - so schwer das auch heutzutage anzunehmen ist - von diesem Vorgang gar nichts weiß; hier wird ja eben nur, und zwar im buchstäblichsten Sinn entwickelt, komponiert aber ganz und gar nicht!

Über das, was Herr Dühring im allgemeinen unter Leben versteht, werden wir weiter unten noch etwas zu sagen haben. Im besondern stellt er sich unter Leben folgendes vor:

»Auch die unorganische Welt ist ein System sich selbst vollziehender Regungen; aber erst da, wo die eigentliche Gliederung und die Vermittlung der Zirkulation der Stoffe durch besondre Kanäle von einem innern Punkt und nach einem an ein kleineres Gebilde übertragbaren Keimschema beginnt, darf man im engeren und strengeren Sinne von eigentlichem Leben zu reden unternehmen.«

Dieser Satz ist im engern und strengern Sinn ein System sich selbst vollziehender Regungen (was das auch immer für Dinger sein mögen) von Unsinn, selbst abgesehn von der hülflos verworrenen Grammatik. Wenn das Leben erst anfängt, wo die eigentliche Gliederung beginnt, dann müssen wir das ganze Haeckelsche Protistenreich und vielleicht noch viel mehr für tot erklären, je nachdem der Begriff von Gliederung gefaßt wird. Wenn das Leben erst da beginnt, wo diese Gliederung durch ein kleineres Keimschema übertragbar ist, so sind mindestens alle Organismen bis zu den einzeiligen hinauf, und diese eingeschlossen, nicht lebendig. Ist die Vermittlung der Zirkulation der Stoffe durch besondre Kanäle das Kennzeichen des Lebens, so müssen wir außer den obigen noch die ganze Oberklasse der Coelenterata, allenfalls mit Ausnahme der Medusen, also sämtliche Polypen und andre Pflanzentiere aus der Reihe der lebenden Wesen ausstreichen. Gilt aber gar die Zirkulation der Stoffe durch besondre Kanäle von einem innern Punkt für das wesentliche Kennzeichen des Lebens, so müssen wir alle diejenigen Tiere für tot erklären, die kein Herz, oder auch die mehrere Herzen haben. Dazu gehören außer den vorerwähnten noch sämtliche Würmer, Seesterne und Rädertiere (Annuloida und Annulosa, Huxleys Einteilung), ein Teil der Krustentiere (Krebse) und endlich sogar ein Wirbeltier, das Lanzettierchen (Amphioxus). Dazu sämtliche Pflanzen.

Indem also Herr Dühring unternimmt, das eigentliche Leben im engern und strengern Sinne zu kennzeichnen, gibt er vier einander total widersprechende Kennzeichen des Lebens an, von denen das eine nicht nur das ganze Pflanzenreich, sondern auch ungefähr das halbe Tierreich zu ewigem |73| Tode verdammt. Wahrhaftig, niemand kann sagen, er habe uns angeführt, als er uns

»von Grund aus eigentümliche Ergebnisse und Anschauungen«

versprach!

An einer andern Stelle heißt es:

»auch in der Natur liegt allen Organisationen von der niedrigsten bis zur höchsten ein einfacher Typus zugrunde«, und dieser Typus ist »schon in der untergeordnetsten Regung der unvollkommensten Pflanze in seinem allgemeinen Wesen voll und ganz anzutreffen.«

Diese Behauptung ist wieder »voll und ganz« Unsinn. Der allereinfachste Typus, der in der ganzen organischen Natur anzutreffen, ist die Zelle; und sie liegt den höchsten Organisationen allerdings zugrunde. Dagegen finden sich unter den niedrigsten Organismen eine Menge, die noch tief unter der Zelle stehn - die Protamöbe, ein einfaches Eiweißklümpchen, ohne irgendwelche Differenzierung, eine ganze Reihe andrer Monere und sämtliche Schlauchalgen (Siphoneen). Diese sind sämtlich mit den höhern Organismen nur dadurch verknüpft, daß ihr wesentlicher Bestandteil Eiweiß ist und sie demnach Eiweißfunktionen vollziehn, d.h. leben und sterben.

Weiter erzählt uns Herr Dühring:

»Physiologisch ist die Empfindung an das Vorhandensein irgendeines, wenn auch noch so einfachen Nervenapparates geknüpft. Es ist daher das Charakteristische aller tierischen Gebilde, der Empfindung, d.h. einer subjektiv bewußten Auffassung ihrer Zustände fähig zu sein. Die scharfe Grenze zwischen Pflanze und Tier liegt da, wo der Sprung zur Empfindung vollzogen wird. Diese Grenze läßt sich so wenig durch die bekannten Übergangsgebilde verwischen, daß sie vielmehr grade durch diese äußerlich unentschiednen oder unentscheidbaren Gestaltungen erst recht zum logischen Bedürfnis gemacht wird.«

Und ferner:

»Dagegen sind die Pflanzen gänzlich und für immer ohne die leiseste Spur von Empfindung und auch ohne jede Anlage dazu.«

Erstens sagt Hegel, »Naturphilosophie« §351, Zusatz, daß

»die Empfindung die differentia specifica, das absolut Auszeichnende des Tieres ist«.

Also wieder eine »Krudität« Hegels, die durch einfache Annexion von Seiten Herrn Dührings in den Adelstand einer endgültigen Wahrheit letzter Instanz erhoben wird.

|74| Zweitens hören wir hier zum ersten Male von Übergangsgebilden, äußerlich unentschiednen oder unentscheidbaren Gestaltungen (schönes Kauderwelsch!) zwischen Pflanze und Tier. Daß diese Zwischenformen existieren; daß es Organismen gibt, von denen wir platterdings nicht sagen können, ob sie Pflanzen oder Tiere sind; daß wir also überhaupt die Grenze zwischen Pflanze und Tier nicht scharf feststellen können - das macht es für Herrn Dühring grade zum logischen Bedürfnis, ein Unterscheidungsmerkmal aufzustellen, von dem er im selben Atem zugibt, daß es nicht stichhaltig ist! Aber wir brauchen gar nicht auf das zweifelhafte Gebiet zwischen Pflanzen und Tieren zurückzugehen; sind die sensitiven Pflanzen, die bei der leisesten Berührung ihre Blätter falten oder ihre Blumen schließen, sind die insektenfressenden Pflanzen ohne die leiseste Spur von Empfindung und auch ohne jede Anlage dazu? Das kann selbst Herr Dühring nicht ohne »unwissenschaftliche Halbpoesie« behaupten.

Drittens ist es wieder eine freie Schöpfung und Imagination des Herrn Dühring, wenn er behauptet, die Empfindung sei psychologisch |muß offenbar »physiologisch« heißen| an das Vorhandensein irgendeines, wenn auch noch so einfachen Nervenapparates geknüpft. Nicht nur alle Urtiere, auch noch die Pflanzentiere, wenigstens ihrer großen Mehrzahl nach, weisen keine Spur eines Nervenapparates auf. Erst von den Würmern an wird ein solcher regelmäßig vorgefunden, und Herr Dühring ist der erste, der die Behauptung aufstellt, jene Tiere hätten keine Empfindung, weil keine Nerven. Die Empfindung ist nicht notwendig an Nerven geknüpft, wohl aber an gewisse, bisher nicht näher festgestellte Eiweißkörper.

Übrigens werden die biologischen Kenntnisse des Herrn Dühring hinreichend charakterisiert durch die Frage, die er sich nicht scheut, Darwin gegenüber aufzuwerfen:

»Soll sich das Tier aus der Pflanze entwickelt haben?«

So kann nur jemand fragen, der weder von Tieren noch von Pflanzen das geringste weiß.

Vom Leben im allgemeinen weiß uns Herr Dühring nur zu sagen:

»Der Stoffwechsel, der sich vermittelst einer plastisch bildenden Schematisierung« (was in aller Welt ist das nur ein Ding?) »vollzieht, bleibt stets ein auszeichnender Charakter des eigentlichen Lebensprozesses.«

Das ist alles, was wir vom Leben erfahren, wobei wir noch gelegentlich der »plastisch bildenden Schematisierung« knietief im sinnlosen Kauderwelsch des reinsten Dühring-Jargons steckenbleiben. Wenn wir also wissen |75| wollen, was Leben ist, so werden wir uns wohl selbst näher danach umsehn müssen.

Daß der organische Stoffwechsel die allgemeinste und bezeichnendste Erscheinung des Lebens, ist seit dreißig Jahren von physiologischen Chemikern und chemischen Physiologen unzähligemal gesagt und hier von Herrn Dühring einfach in seine eigne elegante und klare Sprache übersetzt. Aber das Leben als organischen Stoffwechsel definieren, heißt das Leben definieren als - Leben; denn organischer Stoffwechsel oder Stoffwechsel mit plastisch bildender Schematisierung ist eben ein Ausdruck, der selbst wieder der Erklärung durch das Leben bedarf, der Erklärung durch den Unterschied von Organischem und Unorganischem, d.h. Lebendem und Nichtlebendem. Mit dieser Erklärung kommen wir also nicht vom Fleck.

Stoffwechsel als solcher findet statt auch ohne Leben. Es gibt eine ganze Reihe von Prozessen in der Chemie, die bei genügender Zufuhr von Rohstoffen ihre eignen Bedingungen stets wieder erzeugen und zwar so, daß dabei ein bestimmter Körper Träger des Prozesses ist. So bei der Fabrikation von Schwefelsäure durch Verbrennung von Schwefel. Es erzeugt sich dabei Schwefeldioxyd, SO2, und indem man Wasserdampf und Salpetersäure zuführt, nimmt das Schwefeldioxyd Wasserstoff und Sauerstoff auf und verwandelt sich in Schwefelsäure, H2SO4. Die Salpetersäure gibt dabei Sauerstoff ab und wird zu Stickoxyd reduziert; dies Stickoxyd nimmt sogleich wieder aus der Luft neuen Sauerstoff auf und verwandelt sich in höhere Oxyde des Stickstoffs, aber nur um diesen Sauerstoff sofort wieder an das Schwefeldioxyd abzugeben und von neuem denselben Prozeß durchzumachen, so daß theoretisch eine unendlich kleine Menge von Salpetersäure hinreichen sollte, um eine unbeschränkte Menge von Schwefeldioxyd, Sauerstoff und Wasser in Schwefelsäure zu verwandeln. - Stoffwechsel findet ferner statt bei dem Durchtritt von Flüssigkeiten durch tote organische und selbst durch unorganische Membranen, sowie bei Traubes künstlichen Zellen. Es zeigt sich hier wiederum, daß wir mit dem Stoffwechsel nicht vom Fleck kommen; denn der eigentümliche Stoffwechsel, der das Leben erklären soll, bedarf selbst wieder der Erklärung durch das Leben. Wir müssen es also anders versuchen.

Leben ist die Daseinsweise der Eiweißkörper, und diese Daseinsweise besteht wesentlich in der beständigen Selbsterneuerung der chemischen Bestandteile dieser Körper.

Eiweißkörper ist hier verstanden im Sinn der modernen Chemie, die unter diesem Namen alle dem gewöhnlichen Eiweiß analog zusammen- |76| gesetzten Körper, sonst auch Proteinsubstanzen genannt, zusammenfaßt. Der Name ist ungeschickt, weil das gewöhnliche Eiweiß von allen ihm verwandten Substanzen die lebloseste, passivste Rolle spielt, indem es neben dem Eidotter lediglich Nahrungssubstanz für den sich entwickelnden Keim ist. Solange indes über die chemische Zusammensetzung der Eiweißkörper noch so wenig bekannt, ist dieser Name immer noch besser, weil allgemeiner, als alle andern.

Überall, wo wir Leben vorfinden, finden wir es an einen Eiweißkörper gebunden, und überall, wo wir einen nicht in der Auflösung begriffenen Eiweißkörper vorfinden, da finden wir ausnahmslos auch Lebenserscheinungen. Unzweifelhaft ist die Gegenwart auch andrer chemischer Verbindungen in einem lebenden Körper notwendig, um besondre Differenzierungen dieser Lebenserscheinungen hervorzurufen; zum nackten Leben sind sie nicht erforderlich, es sei denn soweit sie als Nahrung eingehn und in Eiweiß verwandelt werden. Die niedrigsten lebenden Wesen, die wir kennen, sind eben nichts als einfache Eiweißklümpchen, und sie zeigen schon alle wesentlichen Lebenserscheinungen.

Worin aber bestehn diese überall, bei allen lebenden Wesen gleichmäßig vorhandnen Lebenserscheinungen? Vor allem darin, daß der Eiweißkörper aus seiner Umgebung andre geeignete Stoffe in sich aufnimmt, sie sich assimiliert, während andre, ältere Teile des Körpers sich zersetzen und ausgeschieden werden. Andre, nicht lebende Körper verändern, zersetzen oder kombinieren sich auch im Lauf der natürlichen Dinge; aber dabei hören sie auf, das zu sein, was sie waren. Der Fels, der verwittert, ist kein Fels mehr; das Metall, das oxydiert, geht in Rost über. Aber was bei toten Körpern Ursache des Untergangs, das ist beim Eiweiß Grundbedingung der Existenz. Von dem Augenblick an, wo diese ununterbrochene Umsetzung der Bestandteile im Eiweißkörper, dieser andauernde Wechsel von Ernährung und Ausscheidung aufhört, von dem Augenblick an hört der Eiweißkörper selbst auf, zersetzt sich, d.h. stirbt. Das Leben, die Daseinsweise des Eiweißkörpers besteht also vor allem darin, daß er in jedem Augenblick er selbst und zugleich ein andrer ist; und dies nicht infolge eines Prozesses, dem er von außen her unterworfen wird, wie dies auch bei toten Körpern der Fall sein kann. Im Gegenteil, das Leben, der durch Ernährung und Ausscheidung erfolgende Stoffwechsel ist ein sich selbst vollziehender Prozeß, der seinem Träger, dem Eiweiß, inhärent, eingeboren ist, ohne den es nicht sein kann. Und daraus folgt, daß, wenn es der Chemie jemals gelingen sollte, Eiweiß künstlich herzustellen, dies Eiweiß Lebenserscheinungen zeigen muß, mögen sie auch noch so schwach sein. Es ist freilich fraglich, |77| ob die Chemie auch gleichzeitig das richtige Futter für dies Eiweiß entdecken wird.

Aus dem durch Ernährung und Ausscheidung vermittelten Stoffwechsel als wesentlicher Funktion des Eiweißes und aus der ihm eignen Plastizität leiten sich dann alle übrigen einfachsten Faktoren des Lebens ab: Reizbarkeit - die schon in der Wechselwirkung zwischen dem Eiweiß und seiner Nahrung eingeschlossen liegt; Kontraktibilität - die sich schon auf sehr niedriger Stufe bei der Verzehrung des Futters zeigt, Wachstumsmöglichkeit, die auf niedrigster Stufe die Fortpflanzung durch Teilung einschließt; innere Bewegung, ohne die weder Verzehrung noch Assimilation der Nahrung möglich ist.

Unsre Definition des Lebens ist natürlich sehr ungenügend, indem sie, weit entfernt alle Lebenserscheinungen einzuschließen, sich vielmehr auf die allerallgemeinsten und einfachsten beschränken muß. Alle Definitionen sind wissenschaftlich von geringem Wert. Um wirklich erschöpfend zu wissen, was das Leben ist, müßten wir alle seine Erscheinungsformen durchgehn, von der niedrigsten bis zur höchsten. Für den Handgebrauch sind jedoch solche Definitionen sehr bequem und stellenweise nicht gut zu entbehren; sie können auch nicht schaden, solange man nur ihre unvermeidlichen Mängel nicht vergißt.

Doch zurück zu Herrn Dühring. Wenn es ihm im Bereich der irdischen Biologie einigermaßen schlecht ergeht, so weiß er sich zu trösten, er flüchtet in seinen Sternenhimmel.

»Es ist nicht erst die besondre Einrichtung eines empfindenden Organs, sondern schon die ganze objektive Welt, welche auf die Hervorbringung von Lust und Schmerz angelegt ist. Aus diesem Grunde nehmen wir an, daß der Gegensatz von Lust und Schmerz, und zwar genau in der uns bekannten Weise, ein universeller sei und in den verschiednen Welten des Alls durch wesentlich gleichartige Gefühle vertreten sein müsse ... Diese Übereinstimmung bedeutet aber nicht wenig; denn sie ist der Schlüssel zu dem Universum der Empfindungen ... Uns ist mithin die subjektive kosmische Welt nicht viel fremder als die objektive. Die Konstitution beider Reiche ist nach einem übereinstimmenden Typus zu denken, und hiermit haben wir die Anfänge zu einer Bewußtseinslehre, die eine größere als bloß terrestrische Tragweite hat.«

Was verschlagen ein paar grobe Schnitzer in der irdischen Naturwissenschaft für den, der den Schlüssel zu dem Universum der Empfindungen in der Tasche trägt? Allons donc! |Also wohlan!|

IX. Moral und Recht. Ewige Wahrheiten

|78| Wir enthalten uns, Pröbchen zu geben von dem Mischmasch von Plattheit und Orakelhaftigkeit, kurz von dem simplen Kohl, den Herr Dühring seinen Lesern fünfzig volle Seiten zu genießen gibt, als wurzelhafte Wissenschaft von den Elementen des Bewußtseins. Wir zitieren nur dies:

»Wer nur an der Hand der Sprache zu denken vermag, hat noch nie erfahren, was abgesondertes und eigentliches Denken zu bedeuten habe.«

Danach sind die Tiere die abgesondertsten und eigentlichsten Denker, weil ihr Denken nie durch die zudringliche Einmischung der Sprache getrübt wird. Allerdings sieht man es den Dühringschen Gedanken und der sie ausdrückenden Sprache an, wie wenig diese Gedanken für irgendeine Sprache gemacht sind und wie wenig die deutsche Sprache für diese Gedanken.

Endlich erlöst uns der vierte Abschnitt, der uns, außer jenem zerfließenden Redebrei, wenigstens hie und da etwas Greifbares über Moral und Recht bietet. Gleich im Anfang werden wir diesmal zu einer Reise auf die andern Weltkörper eingeladen:

die Elemente der Moral müssen sich »bei allen außermenschlichen Wesen, in denen sich ein tätiger Verstand mit der bewußten Ordnung von triebförmigen Lebensregungen zu befassen hat, in übereinstimmender Weise ... wiederfinden ... Doch wird unsre Teilnahme für solche Folgerungen gering bleiben ... Außerdem aber bleibt es immer eine den Gesichtskreis wohltätig erweiternde Idee, wenn wir uns vorstellen, daß auf andern Weltkörpern das Einzel- und das Gemeinleben von einem Schema ausgehen muß, welches ... nicht vermag, die allgemeine Grundverfassung eines verstandesmäßig handelnden Lesens aufzuheben oder zu umgehn.«

Wenn hier ausnahmsweise die Gültigkeit der Dühringschen Wahrheiten auch für alle andern möglichen Welten an die Spitze, statt ans Ende des betreffenden Kapitels gestellt wird, so hat das seinen zureichenden Grund. Hat man erst die Gültigkeit der Dühringschen Moral- und Gerechtigkeitsvorstellungen für alle Welten festgestellt, so wird man um so leichter ihre Gültigkeit auf alle Zeiten wohltätig erweitern können. Es handelt sich aber hier wieder um nichts Geringeres als um endgültige Wahrheit letzter Instanz.

Die moralische Welt hat »so gut wie diejenige des allgemeinen Wissens ... ihre bleibenden Prinzipien und einfachen Elemente«, die moralischen Prinzipien stehn »über der Geschichte und über den heutigen Unterschieden der Völkerbeschaffenheiten ... Die besondern Wahrheiten, aus denen sich im Lauf der Entwicklung das |79| vollere moralische Bewußtsein und sozusagen das Gewissen zusammensetzt, können, soweit sie bis in ihre letzten Gründe erkannt sind, eine ähnliche Geltung und Tragweite beanspruchen, wie die Einsichten und Anwendungen der Mathematik. Echte Wahrheiten sind überhaupt nicht wandelbar ... so daß es überhaupt eine Torheit ist, die Richtigkeit der Erkenntnis als von der Zeit und den realen Veränderungen angreifbar vorzustellen.« Daher läßt uns die Sicherheit strengen Wissens und die Zulänglichkeit der gemeineren Erkenntnis nicht dazu kommen, im besonnenen zustande an der absoluten Gültigkeit der Wissensprinzipien zu verzweifeln. »Schon der dauernde Zweifel selbst ist ein krankhafter Schwächezustand und nichts als der Ausdruck wüster Verworrenheit, die bisweilen in dem systematischen Bewußtsein ihrer Nichtigkeit den Schein von etwas Haltung aufzutreiben sucht. In den sittlichen Angelegenheiten klammert sich die Leugnung allgemeiner Prinzipien an die geographischen und geschichtlichen Mannigfaltigkeiten der Sitten und Grundsätze, und gibt man ihr die unausweichliche Notwendigkeit des sittlich Schlimmen und Bösen zu, so glaubt sie erst recht über die Anerkennung der ernsthaften Geltung und tatsächlichen Wirksamkeit übereinstimmender moralischer Antriebe hinaus zu sein. Diese aushöhlende Skepsis, die sich nicht etwa gegen einzelne falsche Lehren, sondern gegen die menschliche Fähigkeit zur bewußten Moralität selbst kehrt, mündet schließlich in ein wirkliches Nichts, ja eigentlich in etwas, was schlimmer ist als der bloße Nihilismus ... Sie schmeichelt sich, in ihrem wirren Chaos von aufgelösten sittlichen Vorstellungen leichten Kaufes herrschen und dem grundsatzlosen Belieben alle Tore öffnen zu können. Sie täuscht sich aber gewaltig: denn die bloße Hinweisung auf die unvermeidlichen Schicksale des Verstandes in Irrtum und Wahrheit genügt, um schon durch diese einzige Analogie erkennbar zu machen, wie die naturgesetzliche Fehlbarkeit die Vollbringung des Zutreffenden nicht auszuschließen braucht.«

Wir haben bis jetzt alle diese pompösen Aussprüche des Herrn Dühring über endgültige Wahrheiten letzter Instanz, Souveränetät des Denkens, absolute Sicherheit des Erkennens usw. ruhig hingenommen, weil die Sache doch erst an dem Punkt zum Austrag gebracht werden konnte, wo wir jetzt angelangt sind. Bisher genügte die Untersuchung, inwieweit die einzelnen Behauptungen der Wirklichkeitsphilosophie »souveräne Geltung« und »unbedingten Anspruch auf Wahrheit« hatten; hier kommen wir vor die Frage, ob und welche Produkte des menschlichen Erkennens überhaupt souveräne Geltung und unbedingten Anspruch auf Wahrheit haben können. Wenn ich sage: des menschlichen Erkennens, so sage ich dies nicht etwa in beleidigender Absicht gegen die Bewohner andrer Weltkörper, die ich nicht die Ehre habe zu kennen, sondern nur weil auch die Tiere erkennen, aber keineswegs souverän. Der Hund erkennt in seinem Herrn seinen Gott, wobei dieser Herr der größte Lump sein kann.

Ist das menschliche Denken souverän? Ehe wir ja oder nein antworten, müssen wir erst untersuchen, was das menschliche Denken ist. Ist es das |80| Denken eines einzelnen Menschen? Nein. Aber es existiert nur als das Einzeldenken von vielen Milliarden vergangner, gegenwärtiger und zukünftiger Menschen. Wenn ich nun sage, daß dies in meiner Vorstellung zusammengefaßte Denken aller dieser Menschen, die zukünftigen eingeschlossen, souverän, imstande ist, die bestehende Welt zu erkennen, sofern die Menschheit nur lange genug dauert und soweit nicht in den Erkenntnisorganen und den Erkenntnisgegenständen diesem Erkennen Schranken gesetzt sind, so sage ich etwas ziemlich Banales und zudem ziemlich Unfruchtbares. Denn das wertvollste Resultat dürfte dies sein, uns gegen unsre heutige Erkenntnis äußerst mißtrauisch zu machen, da wir ja aller Wahrscheinlichkeit nach so ziemlich am Anfang der Menschheitsgeschichte stehn, und die Generationen, die uns berichtigen werden, wohl viel zahlreicher sein dürften als diejenigen, deren Erkenntnis wir - oft genug mit beträchtlicher Geringschätzung - zu berichtigen im Falle sind.

Herr Dühring selbst erklärt es für eine Notwendigkeit, daß das Bewußtsein, also auch das Denken und Erkennen, nur in einer Reihe von Einzelwesen zur Erscheinung kommen könne. Dem Denken jedes dieser Einzelnen können wir nur insofern Souveränetät zuschreiben, als wir keine Macht kennen, die imstande wäre, ihm im gesunden und wachenden Zustand irgendeinen Gedanken mit Gewalt aufzunötigen. Was aber die souveräne Geltung der Erkenntnisse jedes Einzeldenkens angeht, so wissen wir alle, daß davon gar keine Rede sein kann, und daß nach aller bisherigen Erfahrung sie ohne Ausnahme stets viel mehr Verbesserungsfähiges als Nichtverbesserungsfähiges oder Richtiges enthalten.

Mit andern Worten: die Souveränetät des Denkens verwirklicht sich in einer Reihe höchst unsouverän denkender Menschen; die Erkenntnis, welche unbedingten Anspruch auf Wahrheit hat, in einer Reihe von relativen Irrtümern; weder die eine noch die andre kann anders als durch eine unendliche Lebensdauer der Menschheit vollständig verwirklicht werden.

Wir haben hier wieder denselben Widerspruch, wie schon oben, zwischen dem notwendig als absolut vorgestellten Charakter des menschlichen Denkens, und seiner Realität in lauter beschränkt denkenden Einzelmenschen, ein Widerspruch, der sich nur im unendlichen Progreß, in der für uns wenigstens praktisch endlosen Aufeinanderfolge der Menschengeschlechter lösen kann. In diesem Sinn ist das menschliche Denken ebensosehr souverän wie nicht souverän und seine Erkenntnisfähigkeit ebensosehr unbeschränkt wie beschränkt. Souverän und unbeschränkt der Anlage, |81| dem Beruf, der Möglichkeit, dem geschichtlichen Endziel nach; nicht souverän und beschränkt der Einzelausführung und der jedesmaligen Wirklichkeit nach.

Ebenso verhält es sich mit den ewigen Wahrheiten. Käme die Menschheit je dahin, daß sie nur noch mit ewigen Wahrheiten, mit Denkresultaten operierte, die souveräne Geltung und unbedingten Anspruch auf Wahrheit haben, so wäre sie auf dem Punkt angekommen, wo die Unendlichkeit der intellektuellen Welt nach Wirklichkeit wie Möglichkeit erschöpft und damit das vielberühmte Wunder der abgezählten Unzahl vollzogen wäre.

Nun gibt es aber doch Wahrheiten, die so feststehn, daß jeder Zweifel daran uns als gleichbedeutend mit Verrücktheit erscheint? daß zwei mal zwei vier ist, daß die drei Winkel eines Dreiecks gleich zwei Rechten sind, daß Paris in Frankreich liegt, daß ein Mensch ohne Nahrung Hungers stirbt usw.? Also gibt es doch ewige Wahrheiten, endgültige Wahrheiten letzter Instanz?

allerdings Wir können das ganze Gebiet des Erkennens nach altbekannter Art in drei große Abschnitte teilen. Der erste umfaßt alle Wissenschaften, die sich mit der unbelebten Natur beschäftigen und mehr oder minder einer mathematischen Behandlung fähig sind: Mathematik, Astronomie, Mechanik, Physik, Chemie. Wenn es jemandem Vergnügen macht, gewaltige Worte auf sehr einfache Dinge anzuwenden, so kann man sagen, daß gewisse Ergebnisse dieser Wissenschaften ewige Wahrheiten, endgültige Wahrheiten letzter Instanz sind: weshalb man diese Wissenschaften auch die exakten genannt hat. Aber noch lange nicht alle Ergebnisse. Mit der Einführung der veränderlichen Größen und der Ausdehnung ihrer Veränderlichkeit bis ins unendlich Kleine und unendlich Große hat die sonst so sittenstrenge Mathematik den Sündenfall begangen; sie hat den Apfel der Erkenntnis gegessen, der ihr die Laufbahn der riesenhaftesten Erfolge eröffnete, aber auch die der Irrtümer. Der jungfräuliche Zustand der absoluten Gültigkeit, der unumstößlichen Bewiesenheit alles Mathematischen war auf ewig dahin; das Reich der Kontroversen brach an, und wir sind dahin gekommen, daß die meisten Leute differenzieren und integrieren, nicht weil sie verstehn, was sie tun, sondern aus reinem Glauben, weil es bisher immer richtig herausgekommen ist. Mit der Astronomie und Mechanik steht es noch schlimmer, und in Physik und Chemie befindet man sich inmitten der Hypothesen wie inmitten eines Bienenschwarms. Es ist dies auch gar nicht anders möglich. In der Physik haben wir es mit der Bewegung von Molekülen, in der Chemie mit der Bildung von Molekülen aus Atomen zu tun, und wenn nicht die Interferenz der Lichtwellen eine Fabel |82| ist, so haben wir absolut keine Aussicht, jemals diese interessanten Dinger mit unsern Augen zu sehn. Die endgültigen Wahrheiten letzter Instanz werden da mit der Zeit merkwürdig selten.

Noch schlimmer sind wir dran in der Geologie, die ihrer Natur nach sich hauptsächlich mit Vorgängen beschäftigt, bei denen nicht nur nicht wir, sondern überhaupt kein Mensch dabeigewesen ist. Die Ausbeute an endgültigen Wahrheiten letzter Instanz ist daher hier mit sehr vieler Mühe verknüpft und dabei äußerst sparsam.

Die zweite Klasse von Wissenschaften ist die, welche die Erforschung der lebenden Organismen in sich begreift. Auf diesem Gebiet entwickelt sich eine solche Mannigfaltigkeit der Wechselbeziehungen und Ursächlichkeiten, daß nicht nur jede gelöste Frage eine Unzahl neuer Fragen aufwirft, sondern auch jede einzelne Frage meist nur stückweise, durch eine Reihe von oft Jahrhunderte in Anspruch nehmenden Forschungen gelöst werden kann; wobei dann das Bedürfnis systematischer Auffassung der Zusammenhänge stets von neuem dazu nötigt, die endgültigen Wahrheiten letzter Instanz mit einer überwuchernden Anpflanzung von Hypothesen zu umgeben. Welche lange Reihe von Mittelstufen von Galen bis Malpighi war nötig, um eine so einfache Sache wie die Zirkulation des Bluts bei Säugetieren richtig festzustellen, wie wenig wissen wir von der Entstehung der Blutkörperchen, und wieviel Mittelglieder fehlen uns heute noch, um z.B. die Erscheinungen einer Krankheit mit ihren Ursachen in rationellen Zusammenhang zu bringen! Dabei kommen oft genug Entdeckungen vor wie die der Zelle, die uns zwingen, alle bisher festgestellten endgültigen Wahrheiten letzter Instanz auf dem Gebiet der Biologie einer totalen Revision zu unterwerfen und ganze Haufen davon ein für allemal zu beseitigen. Wer also hier wirklich echte, unwandelbare Wahrheiten aufstellen will, der wird sich mit Plattheiten begnügen müssen wie: Alle Menschen müssen sterben, alle weiblichen Säugetiere haben Milchdrüsen usw.; er wird nicht einmal sagen können, daß die höheren Tiere mit dem Magen und Darmkanal verdauen und nicht mit dem Kopf, denn die im Kopf zentralisierte Nerventätigkeit ist zur Verdauung unumgänglich.

Noch schlimmer aber steht es mit den ewigen Wahrheiten in der dritten Gruppe von Wissenschaften, der historischen, die die Lebensbedingungen der Menschen, die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Rechts- und Staatsformen mit ihrem idealen Überbau von Philosophie, Religion, Kunst usw. in ihrer geschichtlichen Folge und ihrem gegenwärtigen Ergebnis untersucht. In der organischen Natur haben wir es doch wenigstens mit einer Reihenfolge von Hergängen zu tun, die sich, soweit unsre unmittelbare |83| Beobachtung in Frage kommt, innerhalb sehr weiter Grenzen ziemlich regelmäßig wiederholen. Die Arten der Organismen sind seit Aristoteles im ganzen und großen dieselben geblieben. In der Geschichte der Gesellschaft dagegen sind die Wiederholungen der Zustände die Ausnahme, nicht die Regel, sobald wir über die Urzustände der Menschen, das sogenannte Steinalter, hinausgehn; und wo solche Wiederholungen vorkommen, da ereignen sie sich nie genau unter denselben Umständen. So das Vorkommen des ursprünglichen Gemeineigentums am Boden bei allen Kulturvölkern und die Form seiner Auflösung. Wir sind daher auf dem Gebiet der Menschengeschichte mit unsrer Wissenschaft noch weit mehr im Rückstand als auf dem der Biologie; und mehr noch: wenn einmal ausnahmsweise der innere Zusammenhang der gesellschaftlichen und politischen Daseinsformen eines Zeitabschnitts erkannt wird, so geschieht es regelmäßig dann, wenn diese Formen sich schon halb überlebt haben, dem Verfall entgegengehn. Die Erkenntnis ist hier also wesentlich relativ, indem sie sich beschränkt auf die Einsicht in den Zusammenhang und auf die Folgen gewisser, nur zu einer gegebnen Zeit und für gegebne Völker bestehenden und ihrer Natur nach vergänglichen Gesellschafts- und Staatsformen. Wer hier also auf endgültige Wahrheiten letzter Instanz, auf echte, überhaupt nicht wandelbare Wahrheiten Jagd macht, der wird wenig heimtragen, es seien denn Plattheiten und Gemeinplätze der ärgsten Art, z.B. daß die Menschen im allgemeinen ohne Arbeit nicht leben können, daß sie sich bisher meist eingeteilt haben in Herrschende und Beherrschte, daß Napoleon am 5. Mal 1821 gestorben ist usw.

Nun ist es aber merkwürdig, daß gerade auf diesem Gebiet die angeblichen ewigen Wahrheiten, die endgültigen Wahrheiten letzter Instanz usw. uns am häufigsten begegnen. Daß zwei mal zwei vier ist, daß die Vögel Schnäbel haben, oder derartiges wird nur der für ewige Wahrheiten erklären, der mit der Absicht umgeht, aus dem Dasein ewiger Wahrheiten überhaupt zu folgern, daß es auch auf dem Gebiete der Menschengeschichte ewige Wahrheiten gebe, eine ewige Moral, eine ewige Gerechtigkeit usw., die eine ähnliche Geltung und Tragweite beanspruchen wie die Einsichten und Anwendungen der Mathematik. Und dann können wir mit Bestimmtheit darauf rechnen, daß derselbe Menschenfreund uns bei erster Gelegenheit erklären wird, alle früheren Fabrikanten ewiger Wahrheiten seien mehr oder weniger Esel und Scharlatane, seien alle im Irrtum befangen gewesen, hätten gefehlt; das Vorhandensein ihres Irrtums und ihrer Fehlbarkeit aber sei naturgesetzlich und beweise das Dasein der Wahrheit und des Zutreffenden bei ihm, und er, der jetzt erstandne Prophet, trage die endgültige Wahr- |84| heit letzter Instanz, die ewige Moral, die ewige Gerechtigkeit, fix und fertig im Sack. Das alles ist schon so hundertmal und tausendmal dagewesen, daß man sich nur wundern muß, wenn es noch Menschen gibt, leichtgläubig genug, um dies nicht von andern, nein, von sich selbst zu glauben. Und dennoch erleben wir hier wenigstens noch einen solchen Propheten, der denn auch ganz in gewohnter Weise in hochmoralischen Harnisch gerät, wenn andre Leute es ableugnen, daß irgendein einzelner die endgültige Wahrheit letzter Instanz zu liefern imstande sei. Solche Leugnung, ja schon der bloße Zweifel ist ein Schwächezustand, wüste Verworrenheit, Nichtigkeit, aushöhlende Skepsis, schlimmer als der bloße Nihilismus, wirres Chaos und was dergleichen Liebenswürdigkeiten mehr sind. Wie bei allen Propheten, wird nicht kritisch-wissenschaftlich untersucht und beurteilt, sondern ohne weiteres moralisch verdonnert.

Wir hätten oben noch die Wissenschaften erwähnen können, die die Gesetze des menschlichen Denkens untersuchen, also Logik und Dialektik. Hier aber sieht es mit den ewigen Wahrheiten nicht besser aus. Die eigentliche Dialektik erklärt Herr Dühring für reinen Widersinn, und die vielen Bücher, die über Logik geschrieben worden sind und noch geschrieben werden, beweisen zur Genüge, daß auch da die endgültigen Wahrheiten letzter Instanz viel dünner gesäet sind, als mancher glaubt.

Übrigens brauchen wir uns keineswegs darüber zu erschrecken, daß die Erkenntnisstufe, auf der wir heute stehn, ebensowenig endgültig ist als alle vorhergegangenen. Sie umfaßt schon ein ungeheures Material von Einsichten und erfordert eine sehr große Spezialisierung der Studien für jeden, der in irgendeinem Fach heimisch werden will. Wer aber den Maßstab echter, unwandelbarer, endgültiger Wahrheit letzter Instanz an Erkenntnisse legt, die der Natur der Sache nach entweder für lange Reihen von Generationen relativ bleiben und stückweise vervollständigt werden müssen, oder gar an solche, die, wie in Kosmogonie, Geologie, Menschheitsgeschichte schon wegen der Mangelhaftigkeit des geschichtlichen Materials stets lückenhaft und unvollständig bleiben werden - der beweist damit nur seine eigne Unwissenheit und Verkehrtheit, selbst wenn nicht, wie hier, der Anspruch auf persönliche Unfehlbarkeit den eigentlichen Hintergrund bildet. Wahrheit und Irrtum, wie alle sich in polaren Gegensätzen bewegenden Denkbestimmungen, haben absolute Gültigkeit eben nur für ein äußerst beschränktes Gebiet; wie wir das eben gesehn haben, und wie auch Herr Dühring wissen würde, bei einiger Bekanntschaft mit den ersten Elementen der Dialektik, die grade von der Unzulänglichkeit aller polaren Gegensätze handeln. Sobald wir den Gegensatz von Wahrheit und Irrtum außerhalb |85| jenes oben bezeichneten engen Gebiets anwenden, wird er relativ und damit für genaue wissenschaftliche Ausdrucksweise unbrauchbar; versuchen wir aber, ihn außerhalb jenes Gebiets als absolut gültig anzuwenden, so kommen wir erst recht in die Brüche; die beiden Pole des Gegensatzes schlagen in ihr Gegenteil um, Wahrheit wird Irrtum und Irrtum Wahrheit. Nehmen wir als Beispiel das bekannte Boylesche Gesetz, wonach bei gleichbleibender Temperatur das Volumen der Gase sich umgekehrt verhält wie der Druck, dem sie ausgesetzt sind. Regnault fand, daß dies Gesetz für gewisse Fälle nicht zutraf. Wäre er nun ein Wirklichkeitsphilosoph gewesen, so war er verpflichtet zu sagen: das Boylesche Gesetz ist wandelbar, also keine echte Wahrheit, also überhaupt keine Wahrheit, also Irrtum. Damit hätte er aber einen weit größeren Irrtum begangen, als der im Boyleschen Gesetz enthaltene war; in einem Sandhaufen von Irrtum wäre sein Körnchen Wahrheit verschwunden; er hätte also sein ursprünglich richtiges Resultat zu einem Irrtum verarbeitet, gegen den das Boylesche Gesetz mitsamt dem bißchen Irrtum, das an ihm klebte, als Wahrheit erschien. Regnault, als wissenschaftlicher Mann, ließ sich aber auf dergleichen Kindereien nicht ein, sondern untersuchte weiter und fand, daß das Boylesche Gesetz überhaupt nur annähernd richtig ist, und besonders seine Gültigkeit verliert bei Gasen, die durch Druck tropfbarflüssig gemacht werden können, und zwar sobald der Druck sich dem Punkt nähert, wo die Tropfbarkeit eintritt. Das Boylesche Gesetz erwies sich also als richtig nur innerhalb bestimmter Grenzen. Ist es aber absolut, endgültig wahr innerhalb dieser Grenzen? Kein Physiker wird das behaupten. Er wird sagen, daß es Gültigkeit hat innerhalb gewisser Druck- und Temperaturgrenzen und für gewisse Gase; und er wird innerhalb dieser noch enger gesteckten Grenzen die Möglichkeit nicht ausschließen einer noch engeren Begrenzung oder veränderter Fassung durch künftige Untersuchungen.(1) So steht es also um die endgül- |86| tigen Wahrheiten letzter Instanz, z.B. in der Physik. Wirklich wissenschaftliche Arbeiten vermeiden daher regelmäßig solche dogmatisch-moralische Ausdrücke wie Irrtum und Wahrheit, während diese uns überall entgegentreten in Schriften wie die Wirklichkeitsphilosophie, wo leeres Hin- und Herreden uns als souveränstes Resultat des souveränen Denkens sich aufdrängen will.

Aber, könnte ein naiver Leser fragen, wo hat denn Herr Dühring ausdrücklich gesagt, daß der Inhalt seiner Wirklichkeitsphilosophie endgültige Wahrheit sei, und zwar letzter Instanz? Wo? Nun, zum Beispiel in dem Dithyrambus auf sein System (S. 13), den wir im II. Kapitel teilweise ausgezogen. Oder wenn er in dem oben zitierten Satz sagt: Die moralischen Wahrheiten, soweit sie bis in ihre letzten Gründe erkannt sind, beanspruchen eine ähnliche Geltung wie die Einsichten der Mathematik. Und behauptet nicht Herr Dühring, von seinem wirklich kritischen Standpunkt aus und vermittelst seiner bis an die Wurzeln reichenden Untersuchung bis zu diesen letzten Gründen, den Grundschematen, vorgedrungen zu sein, also den moralischen Wahrheiten Endgültigkeit letzter Instanz verliehen zu haben? Oder aber, wenn Herr Dühring diesen Anspruch weder für sich noch für seine Zeit stellt, wenn er nur sagen will, daß irgendeinmal in nebelgrauer Zukunft endgültige Wahrheiten letzter Instanz festgestellt werden können, wenn er also ungefähr, nur konfuser, dasselbe sagen will wie die »aushöhlende Skepsis« und »wüste Verworrenheit« - ja dann, wozu der Lärm, was steht dem Herrn zu Diensten?

Wenn wir schon mit Wahrheit und Irrtum nicht weit vom Fleck kamen, so noch viel weniger mit Gut und Böse. Dieser Gegensatz bewegt sich ausschließlich auf moralischem, also auf einem der Menschengeschichte angehörigen Gebiet, und hier sind die endgültigen Wahrheiten letzter Instanz grade am dünnsten gesäet. Von Volk zu Volk, von Zeitalter zu Zeitalter haben die Vorstellungen von Gut und Böse so sehr gewechselt, daß sie einander oft geradezu widersprachen. - Aber, wird jemand einwerfen, Gut ist doch nicht Böse, und Böse nicht Gut; wenn Gut und Böse zusammengeworfen werden, so hört alle Moralität auf, und jeder kann tun und lassen, was er will. - dies ist auch, aller Orakelhaftigkeit entkleidet, die Meinung des Herrn Dühring. Aber so einfach erledigt sich die Sache doch nicht. Wenn das so einfach ginge, würde ja über Gut und Böse gar kein Streit sein, würde jeder wissen, was Gut und was Böse ist. Wie steht's aber heute? Welche Moral wird uns heute gepredigt? Da ist zuerst die christlich-feudale, |87| aus frühern glaubten Zeiten überkommne, die sich wesentlich wieder in eine katholische und protestantische teilt, wobei wieder Unterabteilungen von der jesuitisch-katholischen und orthodox-protestantischen bis zur lax-aufgeklärten Moral nicht fehlen. Daneben figuriert die modern-bürgerliche und neben dieser wieder die proletarische Zukunftsmoral, so daß Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft allein in den fortgeschrittensten Ländern Europas drei große Gruppen gleichzeitig und nebeneinander geltender Moraltheorien liefern. Welche ist nun die wahre? Keine einzige, im Sinn absoluter Endgültigkeit; aber sicher wird diejenige Moral die meisten, Dauer versprechenden, Elemente besitzen, die in der Gegenwart die Umwälzung der Gegenwart, die Zukunft, vertritt, also die proletarische.

Wenn wir nun aber sehn, daß die drei Klassen der modernen Gesellschaft, die Feudalaristokratie, die Bourgeoisie und das Proletariat jede ihre besondre Moral haben, so können wir daraus nur den Schluß ziehn, daß die Menschen, bewußt oder unbewußt, ihre sittlichen Anschauungen in letzter Instanz aus den praktischen Verhältnissen schöpfen, in denen ihre Klassenlage begründet ist - aus den ökonomischen Verhältnissen, in denen sie produzieren und austauschen.

Aber in den obigen drei Moraltheorien ist doch manches allen dreien gemeinsam - wäre dies nicht wenigstens ein Stück der ein für allemal feststehenden Moral? - Jene Moraltheorien vertreten drei verschiedne Stufen derselben geschichtlichen Entwicklung, haben also einen gemeinsamen geschichtlichen Hintergrund, und schon deshalb notwendig viel Gemeinsames. Noch mehr. Für gleiche oder annähernd gleiche ökonomische Entwicklungsstufen müssen die Moraltheorien notwendig mehr oder weniger übereinstimmen. Von dem Augenblick an, wo das Privateigentum an beweglichen Sachen sich entwickelt hatte, mußte allen Gesellschaften, wo dies Privateigentum galt, daß Moralgebot gemeinsam sein: Du sollst nicht stehlen. Wird dies Gebot dadurch zum ewigen Moralgebot? Keineswegs. In einer Gesellschaft, wo die Motive zum Stehlen beseitigt sind, wo also auf die Dauer nur noch höchstens von Geisteskranken gestohlen werden kann, wie würde da der Moralprediger ausgelacht werden, der feierlich die ewige Wahren proklamieren wollte: Du sollst nicht stehlen!

Wir weisen demnach eine jede Zumutung zurück, uns irgendwelche Moraldogmatik als ewiges, endgültiges, fernerhin unwandelbares Sittengesetz aufzudrängen, unter dem Vorwand, auch die moralische Welt habe ihre bleibenden Prinzipien, die über der Geschichte und den Völkerverschiedenheiten stehn. Wir behaupten dagegen, alle bisherige Moraltheorie sei das Erzeugnis, in letzter Instanz, der jedesmaligen ökonomischen |88| Gesellschaftslage. Und wie die Gesellschaft sich bisher in Klassengegensätzen bewegte, so war die Moral stets eine Klassenmoral; entweder rechtfertigte sie die Herrschaft und die Interessen der herrschenden Klasse, oder aber sie vertrat, sobald die unterdrückte Klasse mächtig genug wurde, die Empörung gegen diese Herrschaft und die Zukunftsinteressen der Unterdrückten. Daß dabei im ganzen und großen für die Moral sowohl, wie für alle andern Zweige der menschlichen Erkenntnis ein Fortschritt zustande gekommen ist, daran wird nicht gezweifelt. Aber über die Klassenmoral sind wir noch nicht hinaus. Eine über den Klassengegensätzen und über der Erinnerung an sie stehende, wirklich menschliche Moral wird erst möglich auf einer Gesellschaftsstufe, die den Klassengegensatz nicht nur überwunden, sondern auch für die Praxis des Lebens vergessen hat. Und nun ermesse man die Selbstüberheburg des Herrn Dühring, der mitten aus der alten Klassengesellschaft heraus den Anspruch macht, am Vorabend einer sozialen Revolution der künftigen, klassenlosen Gesellschaft eine ewige, von der Zeit und den realen Veränderungen unabhängige Moral aufzuzwingen! Vorausgesetzt selbst - was uns bis jetzt noch unbekannt -, daß er die Struktur dieser künftigen Gesellschaft wenigstens in ihren Grundzügen verstehe.

Schließlich noch eine »von Grund aus eigentümliche«, aber darum nicht weniger »bis an die Wurzeln reichende« Enthüllung: in Beziehung auf den Ursprung des Bösen

»steht uns die Tatsache, daß der Typus der Katze mit der zugehörigen Falschheit in einer Tierbildung vorhanden ist, mit dem Umstande auf gleicher Stufe, daß sich eine ähnliche Charaktergestaltung auch im Menschen vorfindet ... Das Böse ist daher nichts Geheimnisvolles, wenn man nicht etwa Lust hat, auch in dem Dasein der Katze oder überhaupt des Raubtiers etwas Mystisches zu wittern.«

Das Böse ist - die Katze. Der Teufel hat also keine Hörner und Pferdefuß, sondern Krallen und grüne Augen. Und Goethe beging einen unverzeihlichen Fehler, wenn er den Mephistopheles als schwarzen Hund, statt als ditto Katze einführt. Das Böse ist die Katze! Das ist Moral, nicht nur für alle Welten, sondern auch - für die Katze!

X. Moral und Recht, Gleichheit

Wir haben die Methode des Herrn Dühring schon mehrfach kennengelernt. Sie besteht darin, jede Gruppe von Erkenntnisgegenständen in ihre angeblichen einfachsten Elemente zu zerlegen, auf diese Elemente ebenso einfache, angeblich selbstverständliche Axiome anzuwenden, und mit den |89| so gewonnenen Resultaten weiter zu operieren. Auch eine Frage aus dem Bereich des gesellschaftlichen Lebens

»ist an einzelnen einfachen Grundgestalten axiomatisch so zu entscheiden, als wenn es sich um einfache ... Grundgestalten der Mathematik handelte«.

Und so soll die Anwendung der mathematischen Methode auf Geschichte, Moral und Recht uns auch hier mathematische Gewißheit verschaffen für die Wahrheit der erlangten Resultate, sie kennzeichnen als echte, unwandelbare Wahrheiten.

Es ist dies nur eine andere Wendung der alten beliebten, ideologischen, sonst auch aprioristisch genannten Methode, die Eigenschaften eines Gegenstandes nicht aus dem Gegenstand selbst zu erkennen, sondern sie aus dem Begriff des Gegenstandes beweisend abzuleiten. Erst macht man sich aus dem Gegenstand den Begriff des Gegenstandes; dann dreht man den Spieß um und mißt den Gegenstand an seinem Abbild, dem Begriff. Nicht der Begriff soll sich nun nach dem Gegenstand, der Gegenstand soll sich nach dem Begriff richten. Bei Herrn Dühring tun die einfachsten Elemente, die letzten Abstraktionen, zu denen er gelangen kann, Dienst für den Begriff, was an der Sache nichts ändert; diese einfachsten Elemente sind im besten Fall rein begrifflicher Natur. Die Wirklichkeitsphilosophie erweist sich also auch hier als pure Ideologie, Ableitung der Wirklichkeit nicht aus sich selbst, sondern aus der Vorstellung.

Wenn nun ein solcher Ideolog die Moral und das Recht, statt aus den wirklichen gesellschaftlichen Verhältnissen der ihn umgebenden Menschen, aus dem Begriff oder den sogenannten einfachsten Elementen »der Gesellschaft« herauskonstruiert, welches Material liegt dann vor für diesen Aufbau? Offenbar zweierlei: erstens der dürftige Rest von wirklichem Inhalt, der noch in jenen zugrunde gelegten Abstraktionen möglicherweise vorhanden ist, und zweitens der Inhalt, den unser Ideolog aus seinem eignen Bewußtsein wieder hineinträgt. Und was findet er vor in seinem Bewußtsein? Größtenteils moralische und rechtliche Anschauungen, die ein mehr oder weniger entsprechender Ausdruck - positiv oder negativ, bestätigend oder bekämpfend - der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse sind, unter denen er lebt; ferner vielleicht Vorstellungen, die der einschlägigen Literatur entlehnt sind: endlich möglicherweise noch persönliche Schrullen. Unser Ideolog mag sich drehn und wenden, wie er will, die historische Realität, die er zur Tür hinausgeworfen, kommt zum Fenster wieder herein, und während er glaubt, eine Sitten- und Rechtslehre für alle Welten und Zeiten zu entwerfen, verfertigt er in der Tat ein verzerrtes, weil von seinem |90| wirklichen Boden losgerissenes, wie im Hohlspiegel auf den Kopf gestelltes Konterfei der konservativen oder revolutionären Strömungen seiner Zeit.

Herr Dühring zerlegt also die Gesellschaft in ihre einfachsten Elemente und findet dabei, daß die einfachste Gesellschaft mindestens aus zwei Menschen besteht. Mit diesen zwei Menschen wird nun axiomatisch operiert. Und da bietet sich ungezwungen das moralische Grundaxiom dar:

»Zwei menschliche Willen sind als solche einander völlig gleich, und der eine kann dem andern zunächst positiv gar nichts zumuten.« Hiermit ist die »Grundform der moralischen Gerechtigkeit gekennzeichnet«; und ebenfalls die der juristischen, denn »zur Entwicklung der prinzipiellen Rechtsbegriffe bedürfen wir nur das gänzlich einfache und elementare Verhältnis von zwei Menschen«.

daß zwei Menschen oder zwei menschliche Willen als solche einander völlig gleich sind, ist nicht nur kein Axiom, sondern sogar eine starke Übertreibung. Zwei Menschen können zunächst, selbst als solche, ungleich sein nach dem Geschlecht, und diese einfache Tatsache führt uns sofort darauf, daß die einfachsten Elemente der Gesellschaft - wenn wir für einen Augenblick auf die Kinderei eingehn - nicht zwei Männer sind, sondern ein Männlein und ein Weiblein, die eine Familie stiften, die einfachste und erste Form der Vergesellschaftung behufs der Produktion. Aber dies kann Herrn Dühring keineswegs konvenieren. Denn einerseits müssen die beiden Gesellschaftsstifter möglichst gleichgemacht werden, und zweitens brachte es selbst Herr Dühring nicht fertig, aus der Urfamilie die moralische und rechtliche Gleichstellung von Mann und Weib herauszukonstruieren. Also von zwei Dingen eins: entweder ist das Dühringsche Gesellschaftsmolekül, aus dessen Vervielfachung sich die ganze Gesellschaft aufbauen soll, von vornherein auf den Untergang angelegt, da die beiden Männer unter sich nie ein Kind zustande bringen, oder aber wir müssen sie uns als zwei Familienhäupter vorstellen. Und in diesem Fall ist das ganze einfache Grundschema in sein Gegenteil verkehrt; statt der Gleichheit der Menschen beweist es höchstens die Gleichheit der Familienhäupter, und da die Weiber nicht gefragt werden, außerdem noch die Unterordnung der Weiber.

Wir haben hier dem Leser die unangenehme Mitteilung zu machen, daß er von nun an auf geraume Zeit diese beiden famosen Männer nicht wieder loswerden wird. Sie spielen auf dem Gebiet der gesellschaftlichen Verhältnisse eine ähnliche Rolle, wie bisher die Bewohner anderer Weltkörper, mit denen wir jetzt hoffentlich fertig sind. Gibt es eine Frage der Ökonomie, der Politik usw. zu lösen, flugs marschieren die beiden Männer auf und machen die Sache im Nu »axiomatisch« ab. Ausgezeichnete, schöpferische, systemschaffende Entdeckung unseres Wirklichkeitsphilosophen: Aber |91| leider, wenn wir der Wahrheit die Ehre geben wollen, hat er die beiden Männer nicht entdeckt. Sie sind dem ganzen 18. Jahrhundert gemein. Sie kommen schon vor in Rousseaus Abhandlung über die Ungleichheit 1754, wo sie beiläufig das Gegenteil von den Dühringschen Behauptungen axiomatisch beweisen. Sie spielen eine Hauptrolle bei den politischen Ökonomen von Adam Smith bis Ricardo; aber hier sind sie wenigstens darin ungleich, daß sie jeder ein verschiednes Geschäft betreiben - meist der Jäger und der Fischer - und ihre Produkte gegenseitig austauschen. Auch dienen sie im ganzen 18. Jahrhundert hauptsächlich als bloßes erläuterndes Beispiel, und Herrn Dührings Originalität besteht nur darin, daß er diese Beispielsmethode zur Grundmethode aller Gesellschaftswissenschaft und zum Maßstab aller geschichtlichen Bildungen erhebt, Leichter kann man sich die »strengwissenschaftliche Auffassung von Dingen und Menschen« allerdings nicht machen.

Um das Grundaxiom fertigzubringen, daß zwei Menschen und ihre Willen einander völlig gleich sind und keiner dem andern etwas zu befehlen hat, dazu können wir noch keineswegs jede beliebigen zwei Männer gebrauchen. Es müssen zwei Menschen sein, die so sehr von aller Wirklichkeit, von allen auf der Erde vorkommenden nationalen, ökonomischen, politischen, religiösen Verhältnissen, von allen geschlechtlichen und persönlichen Eigentümlichkeiten befreit sind, daß von dem einen wie von dem andern nichts übrigbleibt als der bloße Begriff: Mensch, und dann sind sie allerdings »völlig gleich«. Sie sind also zwei vollständige Gespenster, beschworen von demselben Herrn Dühring, der überall »spiritistische« Regungen wittert und denunziert. Diese beiden Gespenster müssen natürlich alles tun, was ihr Beschwörer von ihnen verlangt, und ebendeshalb sind ihre sämtlichen Kunstproduktionen von der höchsten Gleichgültigkeit für die übrige Welt.

Doch verfolgen wir Herrn Dührings Axiomatik etwas weiter. Die beiden Willen können der eine dem andern gar nichts positiv zumuten. Tut der eine dies dennoch und setzt seine Zumutung mit Gewalt durch, so entsteht ein ungerechter Zustand, und an diesem Grundschema erklärt Herr Dühring die Ungerechtigkeit, die Vergewaltigung, die Knechtschaft, kurz die ganze bisherige verwerfliche Geschichte. Nun hat schon Rousseau, in der oben angeführten Schrift, grade vermittelst der beiden Männer das Gegenteil ebenso axiomatisch nachgewiesen, nämlich daß von Zweien A den B nicht durch Gewalt knechten kann, sondern nur dadurch, daß er den B in eine Lage versetzt, worin dieser den A nicht entbehren kann; was für Herrn Dühring allerdings eine schon viel zu materialistische Auffassung ist. Fassen wir also dieselbe Sache etwas anders. Zwei Schiffbrüchige sind auf einer |92| Insel allein und bilden eine Gesellschaft. Ihre Willen sind formell völlig gleich, und dies ist von beiden anerkannt. Aber materiell besteht eine große Ungleichheit. A ist entschlossen und energisch, B unentschieden, träg und schlapp; A ist aufgeweckt, B ist dumm. Wie lange dauert's, so nötigt A seinen Willen dem B erst durch Überredung, nachher gewohnheitsmäßig, aber immer unter der Form der Freiwilligkeit, regelmäßig auf? Ob die Form der Freiwilligkeit gewahrt oder mit Füßen getreten wird, Knechtschaft bleibt Knechtschaft. Freiwilliger Eintritt in die Knechtschaft geht durchs ganze Mittelalter, in Deutschland bis nach dem Dreißigjährigen Krieg. Als in Preußen nach den Niederlagen von 1806 und 1807 die Hörigkeit abgeschafft wurde und mit ihr die Verpflichtung der gnädigen Herrn, für ihre Untertanen in Not, Krankheit und Alter zu sorgen, da petitionierten die Bauern an den König, man möge sie doch in der Knechtschaft lassen - wer solle sonst im Elend für sie sorgen? Es ist also das Schema der zwei Männer auf die Ungleichheit und Knechtschaft ebensosehr »angelegt« wie auf die Gleichheit und den gegenseitigen Beistand; und da wir sie, bei Strafe des Aussterbens, als Familienhäupter annehmen müssen, so ist auch schon die erbliche Knechtschaft darin vorgesehn.

Lassen wir indes alles das für einen Augenblick auf sich beruhn. Nehmen wir an, Herrn Dührings Axiomatik habe uns überzeugt, und wir schwärmten für die völlige Gleichberechtigung der beiden Willen, für die »allgemein menschliche Souveränetät«, für die »Souveränetät des Individuums« - wahre Prachtkolosse von Worten, gegen die Stirners »Einziger« mit seinem Eigentum ein Stümper bleibt, obwohl auch er sein bescheidnes Teil daran beanspruchen dürfte. Also wir sind jetzt alle völlig gleich und unabhängig. Alle? Nein, doch nicht alle.

Es gibt auch »zulässige Abhängigkeiten«, aber diese erklären sich »aus Gründen, die nicht in der Betätigung der beiden Willen als solcher, sondern in einem dritten Gebiet, also z.B. Kindern gegenüber, in der Unzulänglichkeit ihrer Selbstbestimmung zu suchen sind«.

in der Tat! Die Gründe der Abhängigkeit sind nicht in der Betätigung der beiden Willen als solcher zu suchen! Natürlich nicht, denn die Betätigung des einen Willens wird ja grade verhindert! Sondern in einem dritten Gebiet! Und was ist dies dritte Gebiet? Die konkrete Bestimmtheit des einen unterdrückten Willens als eines unzulänglichen! Soweit hat sich unser Wirklichkeitsphilosoph von der Wirklichkeit entfernt, daß ihm, gegenüber der abstrakten und inhaltslosen Redensart: Wille, der wirkliche Inhalt, die charakteristische Bestimmtheit dieses Willens schon als ein »drittes Gebiet« gilt. Wie dem aber auch sei, wir müssen konstatieren, daß die |93| Gleichberechtigung ihre Ausnahme hat. Sie gilt nicht für einen Willen, der mit der Unzulänglichkeit der Selbstbestimmung behaftet ist. Rückzug Nr. 1.

Weiter:

»Wo die Bestie und der Mensch in einer Person gemischt sind, da kann man im Namen einer zweiten, völlig menschlichen Person fragen, ob deren Handlungsweise dieselbe sein dürfe, als wenn sich sozusagen nur menschliche Personen gegenüber stehn ... es ist daher unsre Voraussetzung von zwei moralisch ungleichen Personen, deren eine an dem eigentlichen Bestiencharakter in irgendeinem Sinne teilhat, die typische Grundgestalt für alle Verhältnisse, welche diesem Unterschiede gemäß in und zwischen den Menschengruppen ... vorkommen können.«

Und nun möge der Leser selbst die sich an diese verlegenen Ausflüchte anschließende Jammerdiatribe nachsehn, in der Herr Dühring sich dreht und windet wie ein Jesuitenpfaff, um kasuistisch festzustellen, wie weit der menschliche Mensch gegen den bestialischen Menschen einschreiten, wie weit er Mißtrauen, Kriegslist, scharfe, ja terroristische, ingleichen Täuschungsmittel gegen ihn anwenden dürfe, ohne selbst der unwandelbaren Moral etwas zu vergeben.

Also auch wenn zwei Personen »moralisch ungleich« sind, hört die Gleichheit auf. Dann war es aber gar nicht der Mühe wert, die beiden sich völlig gleichen Männer heraufzubeschwören, denn es gibt gar keine zwei Personen, die moralisch völlig gleich sind. - Die Ungleichheit soll aber darin bestehn, daß die eine eine menschliche Person ist und die andre ein Stück Bestie in sich trägt. Nun liegt es aber schon in der Abstammung des Menschen aus dem Tierreich, daß der Mensch die Bestie nie völlig los wird, so daß es sich also immer nur um ein Mehr oder Minder, um einen Unterschied des Grades der Bestialität resp. Menschlichkeit handeln kann. Eine Einteilung der Menschen in zwei scharf geschiedne Gruppen, in menschliche und Bestienmenschen, in Gute und Böse, Schafe und Böcke, kennt außer der Wirklichkeitsphilosophie nur noch das Christentum, das ganz konsequent auch seinen Weltrichter hat, der die Scheidung vollzieht. Wer soll aber Weltrichter sein in der Wirklichkeitsphilosophie? Es wird wohl hergehn müssen wie in der christlichen Praxis, wo die frommen Schäflein das Amt des Weltrichters gegen ihre weltlichen Bocks-Nächsten selbst, und mit bekanntem Erfolg, übernehmen. Die Sekte der Wirklichkeitsphilosophen, wenn sie je zustande kommt, wird in dieser Beziehung den Stillen im Lande sicher nichts nachgeben. Das kann uns indes gleichgültig sein; was uns interessiert, ist das Eingeständnis, daß, infolge der moralischen Ungleichheit zwischen den Menschen, es mit der Gleichheit wieder nichts ist. Rückzug Nr. 2.

|94| Abermals weiter:

»Handelt der Eine nach Wahrheit und Wissenschaft, der andre aber nach irgendeinem Aberglauben oder Vorurteil, so ... müssen in der Regel gegenseitige Störungen eintreten ... Bei einem gewissen Grad von Unfähigkeit, Roheit oder böser Charaktertendenz wird in allen Fällen ein Zusammenstoß erfolgen müssen ... Es sind nicht bloß Kinder und Wahnsinnige, denen gegenüber die Gewalt das letzte Mittel ist. Die Artung ganzer Naturgruppen und Kulturklassen von Menschen kann die Unterwerfung ihres durch seine Verkehrtheit feindlichen Wollens im Sinne der Zurückführung desselben auf die gemeinschaftlichen Bindemittel zur unausweichlichen Notwendigkeit machen. Der fremde Wille wird auch hier noch als gleichberechtigt erachtet; aber durch die Verkehrtheit seiner verletzenden und feindlichen Betätigung hat er eine Ausgleichung herausgefordert, und wenn er Gewalt erleidet, so erntet er nur die Rückwirkung seiner eignen Ungerechtigkeit.«

Also nicht nur moralische, sondern auch geistige Ungleichheit reicht hin, um die »völlige Gleichheit« der beiden Willen zu beseitigen und eine Moral herzustellen, nach der alle Schandtaten zivilisierter Raubstaaten gegen zurückgebliebne Völker, bis herab zu den Scheußlichkeiten der Russen in Turkestan sich rechtfertigen lassen. Als General Kaufmann im Sommer 1873 den Tatarenstamm der Jomuden überfallen, ihre Zelte verbrennen, ihre Weiber und Kinder »auf gut kaukasisch«, wie der Befehl lautete, niedermetzeln ließ, behauptete er auch, die Unterwerfung des durch seine Verkehrtheit feindlichen Wollens der Jomuden, im Sinne der Zurückführung desselben auf die gemeinschaftlichen Bindemittel, sei zur unausweichlichen Notwendigkeit geworden, und die von ihm angewandten Mittel seien die zweckmäßigsten; wer aber den Zweck wolle, müsse auch die Mittel wollen. Nur war er nicht so grausam, die Jomuden noch obendrein zu verhöhnen und zu sagen, dadurch, daß er sie zur Ausgleichung massakriere, achte er ihren Willen grade als gleichberechtigt. Und wieder sind es in diesem Konflikt die Auserwählten, die angeblich nach Wahrheit und Wissenschaft Handelnden, also in letzter Instanz die Wirklichkeitsphilosophen, die zu entscheiden haben, was Aberglauben, Vorurteil, Roheit, böse Charaktertendenz und wann Gewalt und Unterwerfung zur Ausgleichung nötig sind. Die Gleichheit ist also jetzt - die Ausgleichung durch die Gewalt, und der zweite Wille wird vom ersten als gleichberechtigt anerkannt durch Unterwerfung. Rückzug Nr. 3, der hier schon in schimpfliche Flucht ausartet.

Beiläufig ist die Phrase, der fremde Wille werde grade in der Ausgleichung durch Gewalt als gleichberechtigt erachtet, nur eine Verdrehung der Hegelschen Theorie, wonach die Strafe das Recht des Verbrechers ist;

|95| »daß die Strafe als sein eignes Recht enthaltend angesehn wird, darin wird der Verbrecher als Vernünftiges geehrt«. (Rechtsphilosophie, § 100, Anmerk.)

Hiermit können wir abbrechen. Es wird überflüssig sein, Herrn Dühring in die stückweise Zerstörung seiner so axiomatisch aufgestellten Gleichheit, allgemein menschlichen Souveränetät usw. noch weiter zu folgen; zu beobachten, wie er zwar die Gesellschaft mit zwei Männern fertigbringt, aber um den Staat herzustellen, noch einen dritten braucht, weil - um die Sache kurz zu fassen - ohne diesen dritten keine Majoritätsbeschlüsse gefaßt werden können, und ohne solche, also auch ohne Herrschaft der Majorität über die Minorität, kein Staat bestehn kann; und wie er dann allmählich in das ruhigere Fahrwasser der Konstruktion seines sozialitären Zukunftsstaates einlenkt, wo wir ihn eines schönen Morgens aufzusuchen die Ehre haben werden. Wir haben hinlänglich gesehn, daß die völlige Gleichheit der beiden Willen nur so lange besteht, als diese beiden Willen nichts wollen; daß, sobald sie aufhören, menschliche Willen als solche zu sein, und sich in wirkliche, individuelle Willen, in die Willen von zwei wirklichen Menschen verwandeln, die Gleichheit aufhört; daß Kindheit, Wahnsinn, sogenannte Bestienhaftigkeit, angeblicher Aberglaube, behauptetes Vorurteil, vermutete Unfähigkeit auf der einen, und eingebildete Menschlichkeit, Einsicht in die Wahrheit und Wissenschaft auf der andern Seite, daß also jede Differenz in der Qualität der beiden Willen und in derjenigen der sie begleitenden Intelligenz eine Ungleichheit rechtfertigt, die sich bis zur Unterwerfung steigern kann; was verlangen wir noch mehr, nachdem Herr Dühring sein eignes Gleichheitsgebäude so wurzelhaft von Grund aus zertrümmert hat?

Wenn wir aber auch mit Herrn Dührings flacher und stümperhafter Behandlung der Gleichheitsvorstellung fertig sind, so sind wir darum noch nicht fertig mit dieser Vorstellung selbst, wie sie namentlich durch Rousseau eine theoretische, in und seit der großen Revolution eine praktisch-politische, und auch heute noch in der sozialistischen Bewegung fast aller Länder eine bedeutende agitatorische Rolle spielt. Die Feststellung ihres wissenschaftlichen Gehalts wird auch ihren Wert für die proletarische Agitation bestimmen.

Die Vorstellung, daß alle Menschen als Menschen etwas Gemeinsames haben, und so weit dies Gemeinsame reicht, auch gleich sind, ist selbstverständlich uralt. Aber hiervon ganz verschieden ist die moderne Gleichheitsforderung; diese besteht vielmehr darin, aus jener gemeinschaftlichen Eigenschaft des Menschseins, jener Gleichheit der Menschen als Menschen, den Anspruch auf gleiche politische resp. soziale Geltung aller Menschen, |96| oder doch wenigstens aller Bürger eines Staats, oder aller Mitglieder einer Gesellschaft abzuleiten. Bis aus jener ursprünglichen Vorstellung relativer Gleichheit die Folgerung auf Gleichberechtigung in Staat und Gesellschaft gezogen werden, bis sogar diese Folgerung als etwas Natürliches, Selbstverständliches erscheinen konnte, darüber mußten Jahrtausende vergehn und sind Jahrtausende vergangen. In den ältesten, naturwüchsigen Gemeinwesen konnte von Gleichberechtigung höchstens unter den Gemeindemitgliedern die Rede sein; Weiber, Sklaven, Fremde waren von selbst davon ausgeschlossen. Bei den Griechen und Römern galten die Ungleichheiten der Menschen viel mehr als irgendwelche Gleichheit. Daß Griechen und Barbaren, Freie und Sklaven, Staatsbürger und Schutzverwandte, römische Bürger und römische Untertanen (um einen umfassenden Ausdruck zu gebrauchen) einen Anspruch auf gleiche politische Geltung haben sollten, wäre den Alten notwendig verrückt vorgekommen. Unter dem römischen Kaisertum lösten sich alle diese Unterschiede allmählich auf, mit Ausnahme desjenigen von Freien und Sklaven; es entstand damit, für die Freien wenigstens, jene Gleichheit der Privatleute, auf deren Grundlage das römische Recht sich entwickelte, die vollkommenste Ausbildung des auf Privateigentum beruhenden Rechts, die wir kennen. Aber solange der Gegensatz von Freien und Sklaven bestand, konnte von rechtlichen Folgerungen aus der allgemein menschlichen Gleichheit keine Rede sein; wir sahen dies noch neuerdings in den Sklavenstaaten der nordamerikanischen Union.

Das Christentum kannte nur eine Gleichheit aller Menschen, die der gleichen Erbsündhaftigkeit, die ganz seinem Charakter als Religion der Sklaven und Unterdrückten entsprach. Daneben kannte es höchstens die Gleichheit der Auserwählten, die aber nur ganz im Anfang betont wurde. Die Spuren der Gütergemeinschaft, die sich ebenfalls in den Anfängen der neuen Religion vorfinden, lassen sich vielmehr auf den Zusammenhalt der Verfolgten zurückführen als auf wirkliche Gleichheitsvorstellungen. Sehr bald machte die Festsetzung des Gegensatzes von Priester und Laie auch diesem Ansatz von christlicher Gleichheit ein Ende. - Die Überflutung Westeuropas durch die Germanen beseitigte für Jahrhunderte alle Gleichheitsvorstellungen durch den allmählichen Aufbau einer sozialen und politischen Rangordnung von so verwickelter Art, wie sie bisher noch nicht bestanden hatte; aber gleichzeitig zog sie West- und Mitteleuropa in die geschichtliche Bewegung, schuf zum erstenmal ein kompaktes Kulturgebiet, und auf diesem Gebiet zum erstenmal ein System sich gegenseitig beeinflussender und gegenseitig in Schach haltender, vorwiegend nationaler |97| Staaten. Damit bereitete sie den Boden vor, auf dem allein in späterer Zeit von menschlicher Gleichgeltung, von Menschenrechten die Rede sein konnte.

Das feudale Mittelalter entwickelte außerdem in seinem Schoß die Klasse, die berufen war, in ihrer weitern Ausbildung die Trägerin der modernen Gleichheitsforderung zu werden: das Bürgertum. Anfangs selbst feudaler Stand, hatte das Bürgertum die vorwiegend handwerksmäßige Industrie und den Produktenaustausch innerhalb der feudalen Gesellschaft auf eine verhältnismäßig hohe Stufe entwickelt, als mit dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts die großen Entdeckungen zur See ihm eine neue, umfassendere Laufbahn eröffneten. Der außereuropäische Handel, bisher nur zwischen Italien und der Levante betrieben, wurde jetzt bis Amerika und Indien ausgedehnt und überflügelte bald an Bedeutung sowohl den Austausch der einzelnen europäischen Länder unter sich, wie den innern Verkehr eines jeden einzelnen Landes. Das amerikanische Gold und Silber überflutete Europa und drang wie ein zersetzendes Element in alle Lücken, Risse und Poren der feudalen Gesellschaft. Der handwerksmäßige Betrieb genügte nicht mehr für den wachsenden Bedarf; in den leitenden Industrien der fortgeschrittensten Länder wurde er ersetzt durch die Manufaktur.

Diesem gewaltigen Umschwung der ökonomischen Lebensbedingungen der Gesellschaft folgte indes keineswegs sofort eine entsprechende Änderung ihrer politischen Gliederung. Die staatliche Ordnung blieb feudal, während die Gesellschaft mehr und mehr bürgerlich wurde. Der Handel auf großer Stufenleiter, also namentlich der internationale, und noch mehr der Welthandel, fordert freie, in ihren Bewegungen ungehemmte Warenbesitzer, die als solche gleichberechtigt sind, die auf Grundlage eines, wenigstens an jedem einzelnen Ort, für sie alle gleichen Rechts austauschen. Der Übergang vom Handwerk zur Manufaktur hat zur Voraussetzung die Existenz einer Anzahl freier Arbeiter - frei einerseits von Zunftfesseln und andrerseits von den Mitteln, um ihre Arbeitskraft selbst zu verwerten -, die mit dem Fabrikanten wegen Vermietung ihrer Arbeitskraft kontrahieren können, also ihm als Kontrahenten gleichberechtigt gegenüberstehn. Und endlich fand die Gleichheit und gleiche Gültigkeit aller menschlichen Arbeiten, weil und insofern sie menschliche Arbeit überhaupt sind |siehe Karl Marx: »Das Kapital«, Bd. I, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 23, S. 74|, ihren unbewußten aber stärksten Ausdruck im Wertgesetz der modernen bürgerlichen Ökonomie, wonach der Wert einer Ware gemessen wird durch die in |98| ihr enthaltene gesellschaftlich notwendige Arbeit.(2) - Wo aber die ökonomischen Verhältnisse Freiheit und Gleichberechtigung forderten, setzte ihnen die politische Ordnung Zunftfesseln und Sonderprivilegien auf jedem Schritt entgegen. Lokalvorrechte, Differentialzölle, Ausnahmsgesetze aller Art trafen im Handel nicht nur den Fremden oder Kolonialbewohner, sondern oft genug auch ganze Kategorien der eignen Staatsangehörigen; zünftige Privilegien lagerten sich überall und immer von neuem der Entwicklung der Manufaktur quer über den Weg. Nirgendwo war die Bahn frei und die Chancen für die bürgerlichen Wettläufer gleich - und doch war dies die erste und immer dringlichere Forderung.

Die Forderung der Befreiung von feudalen Fesseln und der Herstellung der Rechtsgleichheit durch Beseitigung der feudalen Ungleichheiten, sobald sie erst durch den ökonomischen Fortschritt der Gesellschaft auf die Tagesordnung gesetzt war, mußte bald größere Dimensionen annehmen. Stellte man sie im Interesse der Industrie und des Handels, so mußte man dieselbe Gleichberechtigung fordern für die große Menge der Bauern, die in allen Stufen der Knechtschaft, von der vollen Leibeigenschaft an, den größten Teil ihrer Arbeitszeit unentgeltlich dem gnädigen Feudalherrn darbringen und außerdem noch zahllose Abgaben an ihn und den Staat entrichten mußten. Man konnte andrerseits nicht umhin zu verlangen, daß ebenfalls die feudalen Bevorzugungen, die Steuerfreiheit des Adels, die politischen Vorrechte der einzelnen Stände aufgehoben würden. Und da man nicht mehr in einem Weltreich lebte, wie das römische gewesen, sondern in einem System unabhängiger, miteinander auf gleichem Fuß verkehrender Staaten von annähernd gleicher Höhe der bürgerlichen Entwicklung, so verstand es sich von selbst, daß die Forderung einen allgemeinen, über den einzelnen Staat hinausgreifenden Charakter annahm, daß Freiheit und Gleichheit proklamiert wurden als Menschenrechte. Wobei es für den spezifisch bürgerlichen Charakter dieser Menschenrechte bezeichnend ist, daß die amerikanische Verfassung, die erste, welche die Menschenrechte anerkennt, in demselben Atem die in Amerika bestehende Sklaverei der Farbigen bestätigt: die Klassenvorrechte werden geächtet, die Racenvorrechte geheiligt.

Bekanntlich wird indes die Bourgeoisie, von dem Augenblick an, wo sie sich aus dem feudalen Bürgertum entpuppt, wo der mittelalterliche Stand in eine moderne Klasse übergeht, stets und unvermeidlich begleitet von ihrem |99| Schatten, dem Proletariat. Und ebenso werden die bürgerlichen Gleichheitsforderungen begleitet von proletarischen Gleichheitsforderungen. Von dem Augenblick an, wo die bürgerliche Forderung der Abschaffung der Klassenvorrechte gestellt wird, tritt neben sie die proletarische Forderung der Abschaffung der Klassen selbst - zuerst in religiöser Form, in Anlehnung an das Urchristentum, später gestützt auf die bürgerlichen Gleichheitstheorien selbst. Die Proletarier nehmen die Bourgeoisie beim Wort: die Gleichheit soll nicht bloß scheinbar, nicht bloß auf dem Gebiet des Staats, sie soll auch wirklich, auch auf dem gesellschaftlichen, ökonomischen Gebiet durchgeführt werden. Und namentlich seit die französische Bourgeoisie, von der großen Revolution an, die bürgerliche Gleichheit in den Vordergrund gestellt hat, hat ihr das französische Proletariat Schlag auf Schlag geantwortet mit der Forderung sozialer, ökonomischer Gleichheit, ist die Gleichheit der Schlachtruf speziell des französischen Proletariats geworden.

Die Gleichheitsforderung im Munde des Proletariats hat somit eine doppelte Bedeutung. Entweder ist sie - und dies ist namentlich in den ersten Anfängen, z.B. im Bauernkrieg, der Fall - die naturwüchsige Reaktion gegen die schreienden sozialen Ungleichheiten, gegen den Kontrast von Reichen und Armen, von Herren und Knechten, von Prassern und Verhungernden; als solche ist sie einfach Ausdruck des revolutionären Instinkts und findet darin, und auch nur darin, ihre Rechtfertigung. Oder aber, sie ist entstanden aus der Reaktion gegen die bürgerliche Gleichheitsforderung, zieht mehr oder weniger richtige, weitergehende Forderungen aus dieser, dient als Agitationsmittel, um die Arbeiter mit den eignen Behauptungen der Kapitalisten gegen die Kapitalisten aufzuregen, und in diesem Fall steht und fällt sie mit der bürgerlichen Gleichheit selbst. In beiden Fällen ist der wirkliche Inhalt der proletarischen Gleichheitsforderung die Forderung der Abschaffung der Klassen. Jede Gleichheitsforderung, die darüber hinausgeht, verläuft notwendig ins Absurde. Wir haben Beispiele davon gegeben und werden ihrer noch genug finden, wenn wir zu den Zukunftsphantasien des Herrn Dühring kommen.

Somit ist die Vorstellung der Gleichheit, sowohl in ihrer bürgerlichen wie in ihrer proletarischen Form, selbst ein geschichtliches Produkt, zu deren Hervorbringung bestimmte geschichtliche Verhältnisse notwendig waren, die selbst wieder eine lange Vorgeschichte voraussetzen. Sie ist also alles, nur keine ewige Wahrheit. Und wenn sie sich heute für das große Publikum - im einen oder im andern Sinn - von selbst versteht, wenn sie, wie Marx sagt, »bereits die Festigkeit eines Volksvorurteils |100| besitzt« |Siehe Karl Marx: »Das Kapital«, Bd. I, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 23, S. 74| so ist das nicht Wirkung ihrer axiomatischen Wahrheit, sondern Wirkung der allgemeinen Verbreitung und der andauernden Zeitgemäßheit der Ideen des achtzehnten Jahrhunderts. Wenn also Herr Dühring seine berühmten beiden Männer so ohne weiteres auf dem Boden der Gleichheit kann wirtschaften lassen, so kommt dies daher, daß dem Volksvorurteil dies ganz natürlich vorkommt. Und in der Tat, Herr Dühring nennt seine Philosophie die natürliche, weil sie von lauter Dingen ausgeht, die ihm ganz natürlich vorkommen. Warum aber sie ihm natürlich vorkommen - danach fragt er freilich nicht.

XI. Moral und Recht. Freiheit und Notwendigkeit

»Für das politische und juristische Gebiet liegen den in diesem Kursus ausgesprochenen Grundsätzen die eindringendsten Fachstudien zugrunde. Man wird daher ... davon ausgehn müssen, daß es sich hier ... um die konsequente Darstellung der Ergebnisse des juristischen und staatswissenschaftlichen Gebiets gehandelt hat. Mein ursprüngliches Fachstudium war grade die Jurisprudenz, und ich habe derselben nicht nur die gewöhnlichen drei Jahre der theoretischen Universitätsvorbereitung, sondern auch während neuer drei Jahre gerichtlicher Praxis noch ein fortgesetztes, besonders auf die Vertiefung ihres wissenschaftlichen Gehalts gerichtetes Studium gewidmet ... Auch würde sicherlich die Kritik der Privatrechtsverhältnisse und der entsprechenden juristischen Unzulänglichkeiten nicht mit gleicher Zuversicht haben auftreten können, wenn sie sich nicht bewußt gewesen wäre, überall die Schwächen des Faches ebensogut wie dessen stärkere Seiten zu kennen

Ein Mann, der so von sich selbst zu sprechen berechtigt ist, muß von vornherein Vertrauen einflößen, besonders gegenüber dem

»einstigen, eingestandnermaßen vernachlässigten Rechtsstudium des Herrn Marx«.

Wundern muß es uns deshalb, daß die mit solcher Zuversicht auftretende Kritik der Privatrechtsverhältnisse sich darauf beschränkt, uns zu erzählen, daß es

»mit der Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz nicht weit her« ist, daß das positive bürgerliche Recht das Unrecht ist, indem es das Gewalteigentum sanktioniert, und daß der »Naturgrund« des Kriminalrechts die Rache ist -

eine Behauptung, an der nur die mystische Verkleidung in den »Naturgrund« allenfalls neu ist. Die staatswissenschaftlichen Ergebnisse beschränken sich auf die Verhandlungen der bewußten drei Männer, von denen der |101| eine die andern bisher vergewaltigt, und wobei Herr Dühring alles Ernstes untersucht, ob es der zweite oder der dritte ist, der die Gewalt und die Knechtschaft zuerst eingeführt hat.

Verfolgen wir indes die eindringendsten Fachstudien und die durch dreijährige gerichtliche Praxis vertiefte Wissenschaftlichkeit unsres zuversichtlichen Juristen etwas weiter.

Von Lassalle erzählt uns Herr Dühring, er sei

»wegen der Veranlassung des Versuchs zum Diebstahl einer Kassette« in Anklagezustand versetzt worden, »ohne daß jedoch eine gerichtliche Verurteilung zu verzeichnen gewesen wäre, indem die damals noch mögliche sogenannte Freisprechung von der Instanz Platz griff ... diese halbe Freisprechung«.

Der Prozeß Lassalles, von dem hier die Rede ist, wurde verhandelt im Sommer 1948 vor den Assisen zu Köln, wo, wie fast in der ganzen Rheinprovinz, das französische Strafrecht in Kraft war. Nur für politische Vergehen und Verbrechen war das preußische Landrecht ausnahmsweise eingeführt gewesen, aber schon im April 1848 wurde diese Ausnahmsbestimmung durch Camphausen wieder beseitigt. Das französische Recht kennt durchaus nicht die liederliche preußische Landrechtskategorie einer »Veranlassung« zu einem Verbrechen, geschweige der Veranlassung des Versuchs eines Verbrechens. Es kennt nur Anreizung zum Verbrechen, und diese, um strafbar zu sein, muß geschehn »durch Geschenke, Versprechungen, Drohungen, Mißbrauch des Ansehns oder der Gewalt, listige Anstiftungen oder sträfliche Kunstgriffe« (Code pénal, art. 60). Das in das preußische Landrecht vertiefte öffentliche Ministerium übersah, ganz wie Herr Dühring, den wesentlichen Unterschied zwischen der scharf bestimmten französischen Vorschrift und der verschwommenen landrechtlichen Unbestimmtheit, machte Lassalle einen Tendenzprozeß und fiel glänzend durch. Denn die Behauptung, als kenne der französische Strafprozeß die preußische landrechtliche Freisprechung von der Instanz, diese halbe Freisprechung, kann nur jemand wagen, der auf dem Gebiet des französischen modernen Rechts ein vollständiger Ignorant ist; dies Recht kennt im Strafprozeß nur Verurteilung oder Freisprechung, kein Mittelding.

Somit sind wir im Falle sagen zu müssen, daß Herr Dühring sicherlich nicht mit gleicher Zuversicht diese »Geschichtszeichnung großen Stils« an Lassalle hätte verüben können, wenn er den Code Napoléon jemals in der Hand gehabt hätte. Wir müssen also konstatieren, daß Herrn Dühring das einzige modern-bürgerliche, auf den gesellschaftlichen Errungenschaften der großen französischen Revolution ruhende und sie ins Juristische |102| übersetzende Gesetzbuch, das moderne französische Recht, gänzlich unbekannt ist.

Anderswo, bei der Kritik der nach französischem Muster auf dem ganzen Kontinent eingeführten, nach Stimmenmehrheit entscheidenden Geschwornengerichte, werden wir belehrt:

»Ja, man wird sich sogar mit dem, übrigens nicht einmal geschichtlich beispiellosen Gedanken vertraut machen können, daß eine Verurteilung mit Widerspruch der Stimmen in einem vollkommnen Gemeinwesen zu den unmöglichen Institutionen gehören sollte ... Jedoch muß diese ernste und tief geistige Auffassungsart, wie schon oben angedeutet, für die überlieferten Gebilde darum als unpassend erscheinen, weil sie für dieselben zu gut ist.«

Es ist Herrn Dühring abermals unbekannt, daß die Einstimmigkeit der Geschwornen nicht nur bei strafrechtlichen Verurteilungen, sondern auch bei Urteilen in bürgerlichen Prozessen unumgänglich notwendig ist nach dem englischen gemeinen Recht, d.h. dem ungeschriebnen Gewohnheitsrecht, das seit unvordenklicher Zeit in Kraft steht, also mindestens seit dem vierzehnten Jahrhundert. Die ernste und tiefgeistige Auffassungsart, die nach Herrn Dühring für die heutige Welt zu gut ist, hat in England also gesetzliche Geltung gehabt schon im dunkelsten Mittelalter, und ist von England nach Irland, nach den Vereinigten Staaten Amerikas und nach allen englischen Kolonien übergeführt worden, ohne daß die eindringendsten Fachstudien dem Herrn Dühring auch nur ein Sterbenswörtchen davon verraten hätten! Das Gebiet der Geschwornen-Einstimmigkeit ist also nicht nur unendlich groß gegenüber dem winzigen Geltungsbereich des preußischen Landrechts, es ist auch ausgedehnter als alle die Gebiete zusammengenommen, auf denen die Geschwornen-Mehrheit entscheidet. Nicht nur, daß Herrn Dühring das einzige moderne, das französische Recht total unbekannt ist, er ist auch ebenso unwissend in Beziehung auf das einzige germanische Recht, das sich unabhängig von römischer Autorität bis auf die heutige Zeit fortentwickelt und auf alle Weltteile ausgebreitet hat - das englische Recht. Und warum nicht? Denn die englische Art der juristischen Denkweise

»würde doch angesichts der auf deutschem Boden bewerkstelligten Schulung in den reinen Begriffen der klassischen römischen Juristen nicht standhalten«,

sagt Herr Dühring, und ferner sagt er:

»was ist die englisch-redende Welt mit ihrer kinderhaften Gemengselsprache unserer urwüchsigen Sprachgestaltung gegenüber?«

|103| Worauf wir nur mit Spinoza antworten können: Ignorantia non est argumentum, die Unwissenheit ist kein Beweisgrund.

Wir können hiernach zu keinem andern Schlußergebnis kommen, als daß Herrn Dührings eindringendste Fachstudien darin bestanden, daß er drei Jahre theoretisch in das Corpus juris und weitere drei Jahre praktisch in das edle preußische Landrecht sich vertieft hat. Es ist das sicherlich auch schon ganz verdienstlich und genügend für einen recht achtungswerten altpreußischen Kreisrichter oder Advokaten. Wenn man aber eine Rechtsphilosophie für alle Welten und Zeiten zu verfassen unternimmt, so sollte man doch auch einigermaßen Bescheid wissen in den Rechtsverhältnissen von Nationen wie die Franzosen, Engländer und Amerikaner, Nationen, die eine ganz andre Rolle in der Geschichte gespielt haben als der Winkel von Deutschland, wo das preußische Landrecht floriert. Doch sehn wir weiter zu.

»Die bunte Mischung von Orts-, Provinzial- und Landesrechten, die sich in sehr willkürlicher Weise bald als Gewohnheitsrecht, bald als geschriebnes Gesetz, oft unter Einkleidung der wichtigsten Angelegenheiten in reine Statutarform, in den verschiedensten Richtungen kreuzen - diese Musterkarte von Unordnung und Widerspruch, auf welcher die Einzelheiten das Allgemeine, und dann gelegentlich wiederum die Allgemeinheiten das Besondre hinfällig machen, ist wahrlich nicht geeignet, ein klares Rechtsbewußtsein bei irgend jemand ... möglich zu machen.«

Wo aber herrscht dieser verworrene Zustand? Wieder im Geltungsbereich des preußischen Landrechts, wo neben, über oder unter diesem Landrecht Provinzialrechte, Ortsstatuten, hier und da auch gemeines Recht und andrer Quark die verschiedensten relativen Abstufungen von Gültigkeit haben und bei allen praktischen Juristen jenen Notschrei hervorrufen, den Herr Dühring hier so sympathisch wiederholt. Er braucht gar nicht sein geliebtes Preußen zu verlassen, er darf nur an den Rhein kommen, um sich zu überzeugen, daß dort von alledem seit siebzig Jahren keine Rede mehr ist - von andern zivilisierten Ländern gar nicht zu reden, wo dergleichen veraltete Zustände längst beseitigt sind.

Ferner:

»in einer weniger schroffen Art tritt die Verschleierung der natürlichen individuellen Verantwortlichkeit durch die geheimen und hiermit anonymen Kollektivurteile und Kollektivhandlungen von Kollegien oder sonstigen Behördeneinrichtungen hervor, die den persönlichen Anteil eines jeden Mitglieds maskieren.«

Und an einer andern Stelle:

»in unserm heutigen zustande wird es als eine überraschende und äußerst strenge |104| Forderung gelten, wenn man von der Verhüllung und Deckung der Einzelverantwortlichkeit durch Kollegien nichts wissen will.«

Vielleicht wird es für Herrn Dühring als eine überraschende Mitteilung gelten, wenn wir ihm sagen, daß im Gebiet des englischen Rechts jedes Mitglied des Richterkollegiums sein Urteil in öffentlicher Sitzung einzeln abzugeben und zu begründen hat; daß die Verwaltungskollegien, soweit sie nicht gewählt sind und öffentlich verhandeln und abstimmen, eine vorzugsweise preußische Einrichtung und in den meisten übrigen Ländern unbekannt sind, und daß daher seine Forderung für überraschend und äußerst streng eben nur gelten kann - in Preußen.

Ebenso treffen seine Klagen über die Zwangseinmischungen der Religionspraktiken bei Geburt, Ehe, Tod und Bestattung von allen größern zivilisierten Ländern nur Preußen, und seit Einführung der Zivilstandsregister auch dies nicht mehr. Was Herr Dühring nur vermittelst eines »sozialitären« Zukunftszustandes fertig bringt, hat sogar Bismarck inzwischen durch ein einfaches Gesetz erledigt. - Nicht anders wird in der »Klage der mangelhaften Ausstattung der Juristen für ihren Beruf«, eine Klage, die sich auch auf die »Verwaltungsbeamten« ausdehnen läßt, eine spezifisch preußische Jeremiade angestimmt; und selbst der bis ins Lächerliche übertriebne Judenhaß, den Herr Dühring bei jeder Gelegenheit zur Schau trägt, ist eine, wo nicht spezifisch preußische, so doch spezifisch ostelbische Eigenschaft. Derselbe Wirklichkeitsphilosoph, der auf alle Vorurteile und Superstitionen souverän herabsieht, steckt selbst so tief in persönlichen Marotten, daß er das aus der Bigotterie des Mittelalters überkommne Volksvorurteil gegen die Juden ein auf »Naturgründen« beruhendes »Natururteil« nennt und sich bis zu der pyramidalen Behauptung versteigt:

»der Sozialismus ist die einzige Macht, welche Bevölkerungszuständen mit stärkerer jüdischer Untermischung« (Zustände mit jüdischer Untermischung! welches Naturdeutsch!) »die Spitze bieten kann.«

Genug. Die Großprahlerei mit der juristischen Gelahrtheit hat zum Hintergrund - im besten Falle - die allerordinärsten Fachkenntnisse eines ganz gewöhnlichen altpreußischen Juristen. Das juristische und staatswissenschaftliche Gebiet, dessen Ergebnisse uns Herr Dühring konsequent darstellt, »deckt sich« mit dem Geltungsbereich des preußischen Landrechts. Außer dem jedem Juristen, jetzt selbst in England so ziemlich geläufigen römischen Recht, beschränken sich seine juristischen Kenntnisse einzig und allein auf das preußische Landrecht, jenes Gesetzbuch des aufgeklärten patriarchalischen Despotismus, das in einem Deutsch geschrieben ist, als wäre Herr Dühring dort in die Schule gegangen, und das mit seinen |105| Moralglossen, seiner juristischen Unbestimmtheit und Haltlosigkeit, seinen Stockprügeln als Tortur- und Strafmittel noch ganz der vorrevolutionären Zeit angehört. Was darüber ist, das ist für Herrn Dühring vom Übel - sowohl das modern-bürgerliche französische Recht wie das englische Recht mit seiner ganz eigenartigen Entwicklung und seiner auf dem ganzen Kontinent unbekannten Sicherung der persönlichen Freiheit. Die Philosophie, welche »keinen bloß scheinbaren Horizont gelten läßt, sondern in mächtig umwälzender Bewegung alle Erden und Himmel der äußern und innern Natur aufrollt« - sie hat zu ihrem wirklichen Horizont - die Grenzen der sechs altpreußischen Ostprovinzen und allenfalls noch der paar sonstigen Landfetzen, wo das edle Landrecht gilt; und jenseits dieses Horizonts rollt sie weder Erden noch Himmel, weder äußere noch innere Natur auf, sondern nur das Gemälde der krassesten Unwissenheit über das, was in der übrigen Welt vorgeht.

Man kann nicht gut von Moral und Recht handeln, ohne auf die Frage vom sogenannten freien Willen, von der Zurechnungsfähigkeit des Menschen, von dem Verhältnis von Notwendigkeit und Freiheit zu kommen. Auch die Wirklichkeitsphilosophie hat nicht nur eine, sondern sogar zwei Lösungen für diese Frage.

»An die Stelle aller falschen Freiheitstheorien hat man die erfahrungsmäßige Beschaffenheit des Verhältnisses zu setzen, in welchem sich rationelle Einsicht auf der einen und triebförmige Bestimmungen auf der andern Seite gleichsam zu einer Mittelkraft vereinigen. Die Grundtatsachen dieser Art von Dynamik sind aus der Beobachtung zu entnehmen, und für die Vorausbemessung des noch nicht erfolgten Geschehns auch, so gut es gehen will, im allgemeinen nach Art und Größe zu veranschlagen. Hierdurch werden die albernen Einbildungen über die innere Freiheit, an denen Jahrtausende genagt und gezehrt haben, nicht nur gründlich weggeräumt, sondern auch durch etwas Positives ersetzt, was sich für die praktische Einrichtung des Lebens brauchen läßt.«

Danach besteht die Freiheit dann, daß die rationelle Einsicht den Menschen nach rechts, die irrationellen Triebe ihn nach links zerren, und bei diesem Parallelogramm der Kräfte die wirkliche Bewegung in der Richtung der Diagonale erfolgt. Die Freiheit wäre also der Durchschnitt zwischen Einsicht und Trieb, Verstand und Unverstand, und ihr Grad wäre bei jedem einzelnen erfahrungsmäßig festzustellen durch eine »persönliche Gleichung«, um einen astronomischen Ausdruck zu gebrauchen. Aber wenige Seiten später heißt es:

»Wir gründen die moralische Verantwortlichkeit auf die Freiheit, die uns jedoch weiter nichts bedeutet als die Empfänglichkeit für bewußte Beweggründe nach Maß- |106| gabe des natürlichen und erworbnen Verstandes. Alle solche Beweggründe wirken trotz der Wahrnehmung des möglichen Gegensatzes in den Handlungen mit unausweichlicher Naturgesetzmäßigkeit; aber grade auf diese unumgängliche Nötigung zählen wir, indem wir die moralischen Hebel ansetzen.«

Diese zweite Bestimmung der Freiheit, die der ersten ganz ungeniert ins Gesicht schlägt, ist wieder nichts als eine äußerste Verflachung der Hegelschen Auffassung. Hegel war der erste, der das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit richtig darstellte. Für ihn ist die Freiheit die Einsicht in die Notwendigkeit. »Blind ist die Notwendigkeit nur, insofern dieselbe nicht begriffen wird.« Nicht in der geträumten Unabhängigkeit von den Naturgesetzen liegt die Freiheit, sondern in der Erkenntnis dieser Gesetze, und in der damit gegebnen Möglichkeit, sie planmäßig zu bestimmten Zwecken wirken zu lassen. Es gilt dies mit Beziehung sowohl auf die Gesetze der äußern Natur, wie auf diejenigen, welche das körperliche und geistige Dasein des Menschen selbst regeln - zwei Klassen von Gesetzen, die wir höchstens in der Vorstellung, nicht aber in der Wirklichkeit voneinander trennen können. Freiheit des Willens heißt daher nichts andres als die Fähigkeit, mit Sachkenntnis entscheiden zu können. Je freier also das Urteil eines Menschen in Beziehung auf einen bestimmten Fragepunkt ist, mit desto größerer Notwendigkeit wird der Inhalt dieses Urteils bestimmt sein; während die auf Unkenntnis beruhende Unsicherheit, die zwischen vielen verschiednen und widersprechenden Entscheidungsmöglichkeiten scheinbar willkürlich wählt, eben dadurch ihre Unfreiheit beweist, ihr Beherrschtsein von dem Gegenstande, den sie grade beherrschen sollte. Freiheit besteht also in der auf Erkenntnis der Naturnotwendigkeiten gegründeten Herrschaft über uns selbst und über die äußere Natur; sie ist damit notwendig ein Produkt der geschichtlichen Entwicklung. Die ersten, sich vom Tierreich sondernden Menschen waren in allem Wesentlichen so unfrei wie die Tiere selbst; aber jeder Fortschritt in der Kultur war ein Schritt zur Freiheit. An der Schwelle der Menschheitsgeschichte steht die Entdeckung der Verwandlung von mechanischer Bewegung in Wärme: die Erzeugung des Reibfeuers; am Abschluß der bisherigen Entwicklung steht die Entdeckung der Verwandlung von Wärme in mechanische Bewegung: die Dampfmaschine. - Und trotz der riesigen befreienden Umwälzung, die die Dampfmaschine in der gesellschaftlichen Weit vollzieht - sie ist noch nicht halb vollendet -, ist es doch unzweifelhaft, daß das Reibfeuer sie an weltbefreiender Wirkung noch übertrifft. Denn das Reibfeuer gab dem Menschen zum |107| erstenmal die Herrschaft über eine Naturkraft und trennte ihn damit endgültig vom Tierreich. Die Dampfmaschine wird nie einen so gewaltigen Sprung in der Menschheitsentwicklung zustande bringen, sosehr sie uns auch als Repräsentantin aller jener, an sie sich anlehnenden gewaltigen Produktivkräfte gilt, mit deren Hülfe allein ein Gesellschaftszustand ermöglicht wird, worin es keine Klassenunterschiede, keine Sorgen um die individuellen Existenzmittel mehr gibt, und worin von wirklicher menschlicher Freiheit, von einer Existenz in Harmonie mit den erkannten Naturgesetzen, zum ersten mal die Rede sein kann. Wie jung aber noch die ganze Menschengeschichte und wie lächerlich es wäre, unsern jetzigen Anschauungen irgendwelche absolute Gültigkeit zuschreiben zu wollen, geht aus der einfachen Tatsache hervor, daß die ganze bisherige Geschichte sich bezeichnen läßt als Geschichte des Zeitraums von der praktischen Entdeckung der Verwandlung von mechanischer Bewegung in Wärme bis zu derjenigen der Verwandlung von Wärme in mechanische Bewegung.

Bei Herrn Dühring wird die Geschichte freilich anders behandelt. Im allgemeinen ist sie als Geschichte der Irrtümer, der Unwissenheit und Roheit, der Vergewaltigung und Knechtung ein die Wirklichkeitsphilosophie anwidernder Gegenstand, im besondern jedoch teilt sie sich in zwei große Abschnitte, nämlich 1. von dem sich selbst gleichen Zustand der Materie bis auf die französische Revolution, und 2. von der französischen Revolution bis auf Herrn Dühring; und dabei bleibt das 19. Jahrhundert

»noch wesentlich reaktionär, ja es ist es (?) in geistiger Beziehung noch mehr als das 18.«, wobei es jedoch den Sozialismus in seinem Schoß trägt, und damit »den Keim einer gewaltigeren Umschaffung als sie von den Vorläufern und den Heroen der französischen Revolution erdacht (!) wurde«.

Die wirklichkeitsphilosophische Verachtung gegen die bisherige Geschichte rechtfertigt sich wie folgt:

»Die wenigen Jahrtausende, für welche eine historische Rückerinnerung durch ursprüngliche Aufzeichnungen vermittelt wird, haben mit ihrer bisherigen Menschheitsverfassung nicht viel zu bedeuten, wenn man an die Reihe der kommenden Jahrtausende denkt ... Das Menschengeschlecht ist als Ganzes noch sehr jung, und wenn einst die wissenschaftliche Rückerinnerung mit Zehntausenden statt mit Tausenden von Jahren zu rechnen hat, wird die geistig unreife Kindheit unserer Institutionen eine selbstverständliche Voraussetzung über unsre alsdann als Uraltertum gewürdigte Zeit unbestrittene Geltung haben.«

Ohne uns bei der in der Tat »urwüchsigen Sprachgestaltung« des letzten Satzes länger aufzuhalten, bemerken wir nur zweierlei: Erstens, daß dies »Uraltertum« unter allen Umständen ein Geschichtsabschnitt von höch- |108| stem Interesse für alle künftigen Generationen bleiben wird, weil es die Grundlage aller spätern höhern Entwicklung bildet, weil es die Herausbildung des Menschen aus dem Tierreich zum Ausgangspunkt, und zum Inhalt die Überwindung von solchen Schwierigkeiten hat, wie sie sich den zukünftigen assoziierten Menschen nie wieder entgegenstellen werden. Und zweitens, daß der Abschluß dieses Uraltertums, demgegenüber die künftigen, nicht mehr durch diese Schwierigkeiten und Hindernisse aufgehaltenen Geschichtsperioden ganz andre wissenschaftliche, technische und gesellschaftliche Erfolge versprechen, ein jedenfalls sehr sonderbar gewählter Moment ist, um diesen kommenden Jahrtausenden Vorschriften zu machen durch endgültige Wahrheiten letzter Instanz, unwandelbare Wahrheiten und wurzelhafte Konzeptionen, entdeckt auf Grundlage der geistig unreifen Kindheit unsres so sehr »rückständigen« und »rückläufigen« Jahrhunderts. Man muß eben der philosophische Richard Wagner sein - doch ohne Wagners Talent -, um zu übersehn, daß alle die Herabwürdigungen, die man auf die bisherige Geschichtsentwicklung wirft, ebenfalls an ihrem angeblich letzten Resultat haften bleiben - an der sogenannten Wirklichkeitsphilosophie.

Eines der bezeichnendsten Stücke der neuen wurzelhaften Wissenschaft ist der Abschnitt über Individualisierung und Wertsteigerung des Lebens. Hier sprudelt und strömt in unaufhaltsamem Quelldrang durch volle drei Kapitel der orakelhafte Gemeinplatz. Wir müssen uns leider auf ein paar kurze Proben beschränken.

»Das tiefere Wesen aller Empfindung und mithin aller subjektiven Lebensformen beruht auf der Differenz von Zuständen ... Für das volle (!) Leben läßt sich aber auch ohne weiteres (!) dartun, daß es nicht die beharrliche Lage. Sondern der Übergang von einer Lebenssituation in die andre ist, wodurch das Lebensgefühl gesteigert und die entscheidenden Reize entwickelt werden ... Der annähernd sich selbst gleiche, sozusagen in Trägheitsbeharrung und gleichsam in derselben Gleichgewichtslage verbleibende Zustand hat, wie er auch beschaffen sein möge, für die Erprobung des Daseins nicht viel zu bedeuten ... Die Gewöhnung und sozusagen Einlebung macht ihn vollends zu etwas Indifferentem und Gleichgültigem, was sich nicht sonderlich vom Totsein unterscheidet. Höchstens tritt noch als eine Art negativer Lebensregung die Pein der Langeweile hinzu ... In einem sich stauenden Leben erlischt für einzelne und Völker alle Leidenschaft und alles Interesse am Dasein. Unser Gesetz der Differenz aber ist es, aus welchem alle diese Erscheinungen erklärlich werden

Es geht über allen Glauben, mit welcher Geschwindigkeit Herr Dühring seine von Grund aus eigentümlichen Ergebnisse zustande bringt. Eben erst ist der Gemeinplatz ins Wirklichkeitsphilosophische übersetzt, daß fort- |109| dauernde Reizung desselben Nerven oder Fortdauer desselben Reizes jeden Nerv und jedes Nervensystem ermüdet, daß also im normalen Zustand Unterbrechung und Abwechslung der Nervenreize stattfinden muß - was seit Jahren in jedem Handbuch der Physiologie zu lesen und was jeder Philister aus eigner Erfahrung weiß -, kaum ist diese uralte Plattheit in die mysteriöse Form übersetzt worden, daß das tiefere Wesen aller Empfindung auf der Differenz von Zuständen beruht, so verwandelt sie sich auch schon in »Unser Gesetz der Differenz«. Und dies Gesetz der Differenz macht »vollkommen erklärlich« eine ganze Reihe von Erscheinungen, welche wieder nichts sind als Illustrationen und Beispiele von der Annehmlichkeit der Abwechslung, welche selbst für den allergewöhnlichsten Philisterverstand durchaus keiner Erklärung bedürfen, und welche durch den Hinweis auf dies angebliche Gesetz der Differenz nicht um die Breite eines Atoms an Klarheit gewinnen.

Aber damit ist die Wurzelhaftigkeit »unsres Gesetzes der Differenz« noch lange nicht erschöpft:

»Die Abfolge der Lebensalter und das Eintreten der mit ihnen verbundnen Veränderungen der Lebensverhältnisse liefern ein recht naheliegendes Beispiel zur Veranschaulichung unsres Differenzprinzips. Kind, Knabe, Jüngling und Mann erfahren die Starke ihrer jeweiligen Lebensgefühle weniger durch die bereits fixierten Zustände, in denen sie sich befinden, als durch die Epochen des Übergangs, von dem einen zum andern.«

Damit nicht genug:

»Unser Gesetz der Differenz kann noch eine entlegnere Anwendung erhalten, indem man die Tatsache in Anschlag bringt, daß die Wiederholung des bereits Erprobten oder Geleisteten keinen Reiz hat.«

Und nun kann sich der Leser den orakelhaften Kohl selbst hinzudenken, zu dem Sätze von der Tiefe und Wurzelhaftigkeit der obigen den Anknüpfungspunkt bieten; und wohl mag Herr Dühring am Schluß seines Buches triumphierend ausrufen:

»Für die Schätzung und Steigerung des Lebenswerts wurde das Gesetz der Differenz zugleich theoretisch und praktisch maßgebend!«

Für die Schätzung des geistigen Werts seines Publikums durch Herrn Dühring ebenfalls: er muß glauben, es bestehe aus lauter Eseln oder Philistern.

Weiterhin erhalten wir folgende äußerst praktische Lebensregeln:

»Die Mittel, das Gesamtinteresse am Leben rege zu erhalten« (schöne Aufgabe für Philister und solche, die es werden wollen!) »bestehen darin, die einzelnen sozusagen |110| elementaren Interessen, aus denen sich das Ganze zusammensetzt, sich nach den natürlichen Zeitmaßen entwickeln oder einander ablösen zu lassen. Auch gleichzeitig für denselben Zustand wird die Stufenfolge in der Ersetzbarkeit der niedern und leichter befriedigten Reize durch die hohern und anhaltender wirksamen Erregungen dahin zu benutzen sein, daß die Entstehung von gänzlich interesselosen Lücken vermieden werde. Übrigens wird es aber darauf ankommen, zu verhüten, daß die naturgemäß oder sonst im normalen Lauf des gesellschaftlichen Daseins entstehenden Spannungen in willkürlicher Weise gehäuft, forciert oder, was die gegenteilige Verkehrtheit ist, schon bei der leisesten Regung befriedigt und so an der Entwicklung eines genußfähigen Bedürfens verhindert werden. Die Einhaltung des natürlichen Rhythmus ist hier wie anderwärts die Vorbedingung der ebenmäßigen und anmutenden Bewegung. Auch darf man sich nicht die unlösbare Aufgabe stellen, die Reize irgendeiner Situation über die ihnen von der Natur oder den Verhältnissen zugemeßne Frist ausdehnen zu wollen« usw.

Der Biedermann, der sich diese feierlichen Philisterorakel einer über die fadesten Plattheiten spintisierenden Pedanterie zur Regel der »Lebenserprobung« dienen läßt, wird allerdings nicht über »gänzlich interesselose Lücken« zu klagen haben. Er wird alle seine Zeit nötig haben zur regelrechten Vorbereitung und Anordnung der Genüsse, so daß ihm zum Genießen selbst kein freier Augenblick bleibt.

Erproben sollen wir das Leben, das volle Leben. Nur zweierlei verbietet uns Herr Dühring:

erstens »die Unsauberkeiten der Einlassung mit dem Tabak«, und zweitens Getränke und Nahrungsmittel, welche »widerwärtig erregende oder überhaupt für die feinere Empfindung verwerfliche Eigenschaften haben«.

da nun Herr Dühring in dem Kursus der Ökonomie die Schnapsbrennerei so dithyrambisch feiert, so kann er unter diesen Getränken unmöglich den Branntwein verstehn; wir sind also zu dem Schluß gezwungen, daß sein Verbot sich bloß auf Wein und Bier erstreckt. Er verbiete nun auch noch das Fleisch, und dann hat er die Wirklichkeitsphilosophie auf dieselbe Höhe gebracht, auf der weiland Gustav Struve sich mit soviel Erfolg bewegte - auf der Höhe der puren Kinderei.

Übrigens könnte Herr Dühring doch in Beziehung auf die geistigen Getränke etwas liberaler sein. Ein Mann, der eingestandnermaßen die Brücke vom Statischen zum Dynamischen noch immer nicht finden kann, hat doch sicher alle Ursache, gelind zu urteilen, wenn irgendein armer Teufel einmal zu tief ins Glas guckt und infolgedessen die Brücke vom Dynamischen zum Statischen ebenfalls vergebens sucht.

XII. Dialektik - Quantität und Qualität

|111| »Der erste und wichtigste Satz über die logischen Grundeigenschaften des Seins bezieht sich auf den Ausschluß des Widerspruchs. Das Widersprechende ist eine Kategorie, die nur der Gedankenkombination, aber keiner Wirklichkeit angehören kann. In den Dingen sind keine Widersprüche, oder, mit andern Worten, der real gesetzte Widerspruch ist selbst der Gipfelpunkt des Widersinns ... Der Antagonismus von Kräften, die sich in entgegengesetzter Richtung einander messen, ist sogar die Grundform aller Aktionen im Dasein der Welt und ihrer Wesen. Dieser Widerstreit der Kräfterichtungen der Elemente und der Individuen fällt aber nicht im entferntesten mit dem Gedanken von Widerspruchsabsurditäten zusammen ... Hier können wir zufrieden sein, die Nebel, die aus vermeintlichen Mysterien der Logik aufzusteigen pflegen, durch ein klares Bild von der wirklichen Absurdität des realen Widerspruchs aufgelöst, und die Nutzlosigkeit des Weihrauchs dargetan zu haben, welchen man für die der antagonistischen Weltschematik untergeschobne und recht plump geschnitzte Holzpuppe von Widerspruchsdialektik hier und da verschwendet hat.«

Dies ist so ziemlich alles, was in dem »Kursus der Philosophie« über Dialektik gesagt wird. In der »Kritischen Geschichte« dagegen wird die Widerspruchsdialektik, und mit ihr namentlich Hegel, ganz anders mitgenommen.

»Das Widersprechende ist nämlich nach der Hegelschen Logik oder vielmehr Logoslehre nicht etwa in dem seiner Natur nach nicht anders als subjektiv und bewußt vorzustellenden Denken, sondern in den Dingen und Vorgängen selbst objektiv vorhanden und sozusagen leibhaft anzutreffen, so daß der Widersinn nicht eine unmögliche Kombination des Gedankens bleibt, sondern eine tatsächliche Macht wird. Die Wirklichkeit des Absurden ist der erste Glaubensartikel der Hegelschen Einheit von Logik und Unlogik ... Je widersprechender, desto wahrer, oder mit andern Worten: je absurder, desto glaublicher, diese nicht einmal neu erfundne, sondern der Offenbarungstheologie und der Mystik entlehnte Maxime ist der nackte Ausdruck des sogenannten dialektischen Prinzips.«

Der Gedankeninhalt der beiden angeführten Stellen faßt sich in dem Satz zusammen, daß Widerspruch = Widersinn ist, und daher in der wirklichen Welt nicht vorkommen kann. Dieser Satz mag für Leute von sonst ziemlich gesundem Menschenverstand dieselbe selbstverständliche Geltung haben wie der, daß gerade nicht krumm und krumm nicht gerade sein kann. Aber die Differentialrechnung setzt, ungeachtet aller Proteste des gesunden Menschenverstandes, Gerade und Krumm unter gewissen Umständen dennoch gleich und erreicht damit Erfolge, die der auf den Widersinn der Identität von Gerade und Krumm sich steifende gesunde Menschenverstand nie fertigbringt. Und nach der bedeutenden Rolle, die die sogenannte Widerspruchsdialektik in der Philosophie von den ältesten Griechen an bis jetzt gespielt hat, wäre selbst ein stärkerer Gegner als |112| Herr Dühring verpflichtet gewesen, ihr mit andern Argumenten entgegenzutreten, als mit einer Behauptung und vielen Schimpfwörtern.

Solange wir die Dinge als ruhende und leblose, jedes für sich, neben- und nacheinander, betrachten, stoßen wir allerdings auf keine Widersprüche an ihnen. Wir finden da gewisse Eigenschaften, die teils gemeinsam, teils verschieden, ja einander widersprechend, aber in diesem Fall auf verschiedne Dinge verteilt sind und also keinen Widerspruch in sich enthalten. Soweit dies Gebiet der Betrachtung ausreicht, soweit kommen wir auch mit der gewöhnlichen, metaphysischen Denkweise aus. Aber ganz anders, sobald wir die Dinge in ihrer Bewegung, ihrer Veränderung, ihrem Leben, in ihrer wechselseitigen Einwirkung aufeinander betrachten. Da geraten wir sofort in Widersprüche. Die Bewegung selbst ist ein Widerspruch; sogar schon die einfache mechanische Ortsbewegung kann sich nur dadurch vollziehn, daß ein Körper in einem und demselben Zeitmoment an einem Ort und zugleich an einem andern Ort, an einem und demselben Ort und nicht an ihm ist. Und die fortwährende Setzung und gleichzeitige Lösung dieses Widerspruchs ist eben die Bewegung.

Hier haben wir also einen Widerspruch, der »in den Dingen und Vorgängen selbst objektiv vorhanden und sozusagen leibhaft anzutreffen ist«. Und was sagt Herr Dühring dazu? Er behauptet,

es gebe überhaupt bis jetzt »in der rationellen Mechanik keine Brücke zwischen dem streng Statischen und dem Dynamischen«.

Der Leser merkt jetzt endlich, was hinter dieser Lieblingsphrase des Herrn Dühring steckt; weiter nichts als dies: der metaphysisch denkende Verstand kann absolut nicht vom Gedanken der Ruhe zu dem der Bewegung kommen, weil ihm hier obiger Widerspruch den Weg versperrt. Für ihn ist die Bewegung, weil ein Widerspruch, rein unbegreiflich. Und indem er die Unbegreiflichkeit der Bewegung behauptet, gibt er selbst die Existenz dieses Widerspruchs wider Willen zu, gibt also zu, daß es einen in den Dingen und Vorgängen selbst objektiv vorhandnen Widerspruch gibt, der zudem eine tatsächliche Macht ist.

Wenn schon die einfache mechanische Ortsbewegung einen Widerspruch in sich enthält, so noch mehr die höhern Bewegungsformen der Materie und ganz besonders das organische Leben und seine Entwicklung. Wir sahen oben, daß das Leben grade vor allem darin besteht, daß ein Wesen in jedem Augenblick dasselbe und doch ein andres ist. Das Leben ist also ebenfalls ein in den Dingen und Vorgängen selbst vorhandner, sich stets |113| setzender und lösender Widerspruch; und sobald der Widerspruch aufhört, hört auch das Leben auf, der Tod tritt ein. Ebenso sahen wir |Siehe S. 35 und 80/81|, wie auch auf dem Gebiete des Denkens wir den Widersprüchen nicht entgehn können und wie z.B. der Widerspruch zwischen dem innerlich unbegrenzten menschlichen Erkenntnisvermögen und seinem wirklichen Dasein in lauter äußerlich beschränkten und beschränkt erkennenden Menschen sich löst in der für uns wenigstens praktisch endlosen Aufeinanderfolge der Geschlechter, im unendlichen Progreß.

Wir erwähnten schon, daß die höhere Mathematik den Widerspruch, daß Gerade und Krumm unter Umständen dasselbe sein sollen, zu einer ihrer Hauptgrundlagen hat. Sie bringt den andern Widerspruch fertig, daß Linien, die sich vor unsern Augen schneiden, dennoch schon fünf bis sechs Zentimeter von ihrem Schneidepunkt als parallel, als solche gelten sollen, die sich selbst bei unendlicher Verlängerung nicht schneiden können. Und dennoch bringt sie mit diesen und mit noch weit stärkern Widersprüchen nicht nur richtige, sondern auch für die niedere Mathematik ganz unerreichbare Resultate zustande.

Aber auch schon in diesen letztern wimmelt es von Widersprüchen. Es ist z.B. ein Widerspruch, daß eine Wurzel von A eine Potenz von A sein soll, und doch ist Wurzel A. Es ist ein Widerspruch, daß eine negative Größe das Quadrat von etwas sein soll, denn jede negative Größe, mit sich selbst multipliziert, gibt ein positives Quadrat. Die Quadratwurzel aus Minus Eins ist daher nicht nur ein Widerspruch, sondern sogar ein absurder Widerspruch, ein wirklicher Widersinn. Und dennoch ist -1 ein in vielen Fällen notwendiges Resultat richtiger mathematischer Operationen; ja, noch mehr, wo wäre die Mathematik, niedre wie höhere, wenn ihr verboten würde, mit Wurzel -1 zu operieren?

Die Mathematik selbst betritt mit der Behandlung der veränderlichen Größen das dialektische Gebiet, und bezeichnenderweise ist es ein dialektischer Philosoph, Descartes, der diesen Fortschritt in sie eingeführt hat. Wie die Mathematik der veränderlichen sich zu der der unveränderlichen Größen verhält, so verhält sich überhaupt dialektisches Denken zu metaphysischem. Was durchaus nicht verhindert, daß die große Menge der Mathematiker die Dialektik nur auf mathematischem Gebiet anerkennt, und daß es genug unter ihnen gibt, die mit den auf dialektischem Weg gewonnenen Methoden ganz in der alten, beschränkten, metaphysischen Weise weiteroperieren.

|114| Auf Herrn Dührings Antagonismus von Kräften und seine antagonistische Weltschematik näher einzugehn, wäre nur dann möglich, wenn er uns etwas mehr über dies Thema gegeben hätte, als - die bloße Phrase. Nachdem er dies fertiggebracht, wird uns dieser Antagonismus weder in der Weltschematik noch in der Naturphilosophie ein einziges Mal wirkend vorgeführt, das beste Eingeständnis, daß Herr Dühring mit dieser »Grundform aller Aktionen im Dasein der Welt und ihrer Wesen« absolut nichts Positives anzufangen weiß. Wenn man in der Tat Hegels »Lehre vom Wesen« bis auf die Plattheit von in entgegengesetzter Richtung, aber nicht in Widersprüchen, sich bewegenden Kräften heruntergebracht hat, so tut man allerdings am besten, jeder Anwendung dieses Gemeinplatzes aus dem Wege zu gehn.

Den weitern Anhaltspunkt für Herrn Dühring, um seinem antidialektischen Zorn Luft zu machen, bietet ihm Marx' »Kapital«.

»Mangel an natürlicher und verständlicher Logik, durch welchen sich die dialektisch-krausen Verschlingungen und Vorstellungsarabesken auszeichnen ... schon auf den bereits vorhandnen Teil muß man das Prinzip anwenden, daß in einer gewissen Hinsicht und auch überhaupt (!) nach einem bekannten philosophischen Vorurteil alles in jedem und jedes in allem zu suchen, und daß dieser Misch- und Mißvorstellung zufolge schließlich alles Eins sei.«

Diese seine Einsicht in das bekannte philosophische Vorurteil befähigt denn auch Herrn Dühring, mit Sicherheit vorauszusagen, was das »Ende« des Marxschen ökonomischen Philosophierens, also was der Inhalt der folgenden Bände des »Kapitals« sein wird, genau sieben Zeilen nachdem er erklärt hat, es sei

»jedoch wirklich nicht abzusehn, was, menschlich und deutsch geredet, eigentlich in den zwei« (letzten) »Bänden noch folgen soll«.

Es ist indes nicht das erstemal, daß die Schriften des Herrn Dühring sich uns erweisen als gehörig zu den »Dingen«, in denen »das Widersprechende objektiv vorhanden und sozusagen leibhaft anzutreffen« ist. Was ihn durchaus nicht hindert, siegreich fortzufahren:

»doch die gesunde Logik wird über ihre Karikatur voraussichtlich triumphieren ... Das Vornehmtun und der dialektische Geheimniskram werden niemanden, der noch ein wenig gesundes Urteil übrig hat, anreizen, sich mit den Unförmlichkeiten der Gedanken und des Stils ... einzulassen. Mit dem Absterben der letzten Reste der dialektischen Torheiten wird dieses Mittel der Düpierung ... seinen trügerischen Einfluß verlieren, und niemand wird mehr glauben, sich abquälen zu müssen, um dort hinter eine tiefe Weisheit zu kommen, wo der gesäuberte Kern der krausen Dinge im besten Fall die Züge gewöhnlicher Theorien, wo nicht gar von Gemeinplätzen zeigt ... Es ist |115| ganz unmöglich, die« (Marxschen) »Verschlingungen nach Maßgabe der Logoslehre wiederzugeben, ohne die gesunde Logik zu prostituieren.« Marx' Methode bestehe darin, »dialektische Wunder für seine Gläubigen herzurichten«, und so weiter.

Wir haben es hier noch durchaus nicht mit der Richtigkeit oder Unrichtigkeit der ökonomischen Resultate der Marxschen Untersuchung zu tun, sondern nur mit der von Marx angewandten dialektischen Methode. Soviel aber ist sicher: die meisten Leser des »Kapital« werden erst jetzt durch Herrn Dühring erfahren haben, was sie eigentlich gelesen. Und unter ihnen auch Herr Dühring selbst, der im Jahre 1867 (»Ergänzungsblätter« III, Heft 3) noch imstande war, eine für einen Denker seines Kalibers verhältnismäßig rationelle Inhaltsangabe des Buches zu machen, ohne genötigt zu sein, die Marxschen Entwicklungen erst, wie es jetzt für unumgänglich erklärt wird, ins Dühringsche zu übersetzen. Wenn er schon damals den Schnitzer beging, die Marxsche Dialektik mit der Hegelschen zu identifizieren, so hatte er doch nicht ganz die Fähigkeit verloren, zwischen der Methode und den durch sie erlangten Resultaten zu unterscheiden, und zu begreifen, daß man die letztern nicht im besondern widerlegt, wenn man die erstere im allgemeinen herunterreißt.

Die überraschendste Mitteilung des Herrn Dühring ist jedenfalls die, daß für den Marxschen Standpunkt »schließlich alles Eins ist«, daß für Marx also auch z.B. Kapitalisten und Lohnarbeiter, feudale, kapitalistische und sozialistische Produktionsweise, »alles Eins ist«, ja am Ende wohl gar auch Marx und Herr Dühring »alles Eins«. um die Möglichkeit solcher simplen Narrheit zu erklären, bleibt nur die Annahme, daß das bloße Wort Dialektik Herrn Dühring in einen Zustand von Unzurechnungsfähigkeit versetzt, in dem ihm, einer gewissen Miß- und Mischvorstellung zufolge, schließlich »alles Eins« ist, was er sagt und tut.

Wir haben hier eine Probe von dem, was Herr Dühring

»meine Geschichtszeichnung großen Stils« nennt, oder auch »das summarische Verfahren, welches mit der Gattung und dem Typus abrechnet, und sich gar nicht dazu herbeiläßt, das, was ein Hume den Gelehrtenpöbel nannte, in mikrologischen Einzelnheiten mit einer Bloßstellung zu beehren, dieses Verfahren im höhern und edlern Stile ist allein mit den Interessen der vollen Wahrheit und mit den Pflichten gegen das zunftfreie Publikum verträglich«.

Die Geschichtszeichnung großen Stils und das summarische Abrechnen mit der Gattung und dem Typus ist in der Tat sehr bequem für Herrn Dühring, indem er dabei alle bestimmten Tatsachen als mikrologisch vernachlässigen, gleich Null setzen kann, und statt zu beweisen, nur allgemeine Redensarten machen, zu behaupten und einfach zu verdonnern hat. Dabei |116| hat sie noch den Vorteil, daß sie dem Gegner keine tatsächlichen Anhaltspunkte darbietet, daß ihm also fast keine andre Möglichkeit der Antwort bleibt, als ebenfalls im großen Stil und summarisch darauflos zu behaupten, sich in allgemeinen Redensarten zu ergehn, und den Herrn Dühring schließlich wieder zu verdonnern, kurz, wie man sagt, Retourkutsche zu spielen, was nicht nach jedermanns Geschmack ist. Wir müssen es daher Herrn Dühring Dank wissen, daß er den höhern und edlern Stil ausnahmsweise verläßt, um uns wenigstens zwei Beispiele von der verwerflichen Marxschen Logoslehre zu geben.

»Wie komisch nimmt sich nicht z.B. die Berufung auf die Hegelsche konfuse Nebelvorstellung aus, daß die Quantität in die Qualität umschlage, und daß daher ein Vorschuß, wenn er eine gewisse Grenze erreiche, bloß durch diese quantitative Steigerung zu Kapital werde.«

Das nimmt sich allerdings in dieser von Herrn Dühring »gesäuberten« Darstellung kurios genug aus. Sehn wir also zu, wie es sich im Original, bei Marx, ausnimmt. Auf Seite 313 (2. Auflage des »Kapital«) zieht Marx aus der vorhergegangnen Untersuchung über konstantes und variables Kapital und Mehrwert den Schluß, daß »nicht jede beliebige Geld- oder Wertsumme in Kapital verwandelbar, zu dieser Verwandlung vielmehr ein bestimmtes Minimum von Geld oder Tauschwert in der Hand des einzelnen Geld- oder Warenbesitzers vorausgesetzt ist |Siehe Karl Marx: »Das Kapital«, Bd. I, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 23, S. 326|. Er nimmt nun als Beispiel an, daß in irgendeinem Arbeitszweige der Arbeiter täglich acht Stunden für sich selbst, d.h. zur Erzeugung des Werts seines Arbeitslohns, und die folgenden vier Stunden für den Kapitalisten, zur Erzeugung von, zunächst in dessen Tasche fließendem, Mehrwert arbeite. Dann muß jemand schon über eine Wertsumme verfügen, die ihm erlaubt, zwei Arbeiter mit Rohstoff, Arbeitsmitteln und Arbeitslohn auszustatten, um an Mehrwert täglich soviel einzustecken, daß er davon so gut leben kann, wie einer seiner Arbeiter. Und da die kapitalistische Produktion nicht den bloßen Lebensunterhalt, sondern die Vermehrung des Reichtums zum Zweck hat, so wäre unser Mann mit seinen beiden Arbeitern immer noch kein Kapitalist. Damit er nun doppelt so gut lebe wie ein gewöhnlicher Arbeiter und die Hälfte des produzierten Mehrwerts in Kapital zurückverwandle, müßte er acht Arbeiter beschäftigen können, also schon das Vierfache der oben angenommnen Wertsumme besitzen. Und erst nach diesem, und inmitten noch weiterer Ausführungen zur Beleuchtung und Begründung der Tatsache, daß nicht jede beliebige kleine Wertsumme hinreicht, um sich in Kapital zu ver- |117| wandeln, sondern daß dafür jede Entwicklungsperiode und jeder Industriezweig ihre bestimmten Minimalgrenzen haben, bemerkt Marx: »Hier, wie in der Naturwissenschaft, bewährt sich die Richtigkeit des von Hegel in seiner 'Logik' entdeckten Gesetzes, daß bloß quantitative Veränderungen auf einem gewissen Punkt in qualitative Unterschiede umschlagen.« |Siehe Karl Marx: »Das Kapital«, Bd. I, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 23, S. 327|

Und nun bewundre man den höhern und edlern Stil, kraft dessen Herr Dühring Marx das Gegenteil von dem unterschiebt, was er in Wirklichkeit gesagt hat. Marx sagt: Die Tatsache, daß eine Wertsumme erst dann in Kapital sich verwandeln kann, sobald sie eine je nach Umständen verschiedne, in jedem einzelnen Fall aber bestimmte Minimalgröße erreicht hat - diese Tatsache ist ein Beweis für die Richtigkeit des Hegelschen Gesetzes. Herr Dühring läßt ihn sagen: Weil nach dem Hegelschen Gesetz Quantität in Qualität umschlägt, »daher« wird »ein Vorschuß, wenn er eine bestimmte Grenze erreicht ... zu Kapital«. Also das grade Gegenteil.

Die Sitte, in den »Interessen der vollen Wahrheit« und den »Pflichten gegen das zunftfreie Publikum« falsch zu zitieren, haben wir schon in Herrn Dührings Verhandlung in Sachen Darwins kennengelernt. Sie erweist sich mehr und mehr als innere Notwendigkeit der Wirklichkeitsphilosophie, und ist allerdings ein sehr »summarisches Verfahren«. Davon gar nicht zu sprechen, daß Herr Dühring Marx des fernern unterschiebt, er spreche von jedem beliebigen »Vorschuß«, während es sich hier nur um den einen Vorschuß handelt, der in Rohstoffen, Arbeitsmitteln und Arbeitslohn gemacht wird; und daß Herr Dühring es damit fertigbringt, Marx reinen Unsinn sagen zu lassen. Und dann hat er die Stirn, den von ihm selbst verfertigten Unsinn komisch zu finden. Wie er sich einen Phantasie-Darwin zurechtmachte, um an ihm seine Kraft zu erproben, so hier einen Phantasie-Marx. »Geschichtszeichnung großen Stils« in der Tat!

Wir haben schon oben gesehn |Siehe S. 42|, bei der Weltschematik, daß mit dieser Hegelschen Knotenlinie von Maßverhältnissen, wo an gewissen Punkten quantitativer Veränderung plötzlich ein qualitativer Umschwung eintritt, Herrn Dühring das kleine Malheur passiert war, sie in einer schwachen Stunde selbst anerkannt und angewandt zu haben. Wir gaben dort eins der bekanntesten Beispiele - das der Veränderung der Aggregatzustände des Wassers, das unter Normalluftdruck bei 0° C aus dem flüssigen in den festen, und bei 100° C aus dem flüssigen in den luftförmigen Zustand übergeht, wo also an diesen beiden Wendepunkten die bloße quantitative Ver- |118| änderung der Temperatur einen qualitativ veränderten Zustand des Wassers herbeiführt.

Wir hätten aus der Natur wie aus der Menschengesellschaft noch Hunderte solcher Tatsachen zum Beweis dieses Gesetzes anführen können. So z.B. handelt in Marx' »Kapital« der ganze vierte Abschnitt: Produktion des relativen Mehrwerts, auf dem Gebiet der Kooperation, Teilung der Arbeit und Manufaktur, Maschinerie und großen Industrie, von zahllosen Fällen, wo quantitative Veränderung die Qualität und ebenso qualitative Veränderung die Quantität der Dinge ändert, um die es sich handelt, wo also, um den Herrn Dühring so verhaßten Ausdruck zu gebrauchen, Quantität in Qualität umschlägt und umgekehrt. So z.B. die Tatsache, daß die Kooperation Vieler, die Verschmelzung vieler Kräfte in eine Gesamtkraft, um mit Marx zu reden, eine »neue Kraftpotenz« erzeugt, die wesentlich verschieden ist von der Summe ihrer Einzelkräfte |Siehe Karl Marx: »Das Kapital«, Bd. I, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 23, S. 345|.

Zum Überfluß hatte Marx noch an der von Herrn Dühring, im Interesse der vollen Wahrheit, in ihr Gegenteil verkehrten Stelle die Anmerkung gemacht: »Die in der modernen Chemie angewandte, von Laurent und Gerhardt zuerst wissenschaftlich entwickelte Molekulartheorie beruht auf keinem andern Gesetz.« |Siehe Karl Marx: »Das Kapital«, Bd. I, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 23, S. 327, Note, | Aber was ging das Herrn Dühring an? Wußte er doch:

»Die eminent modernen Bildungselemente der naturwissenschaftlichen Denkweise fehlen grade da, wo, wie bei Herrn Marx und seinem Rivalen Lassalle, die Halbwissenschaften und ein wenig Philosophasterei das dürftige Rüstzeug zur gelehrten Aufstutzung ausmachten« -

während bei Herrn Dühring »die Hauptfeststellungen des exakten Wissens in Mechanik, Physik und Chemie« usw. zugrunde liegen - wie, das haben wir gesehn. Damit aber auch dritte Leute in den Stand gesetzt werden, zu entscheiden, wollen wir das in der Marxschen Note angeführte Exempel etwas näher betrachten.

Es handelt sich hier nämlich um die homologen Reihen von Kohlenstoffverbindungen, deren man schon sehr viele kennt und deren jede ihre eigne algebraische Zusammensetzungsformel hat. Wenn wir z.B., wie in der Chemie geschieht, ein Atom Kohlenstoff durch C, ein Atom Wasserstoff durch H, ein Atom Sauerstoff durch O, die Zahl der in jeder Verbindung enthaltnen Kohlenstoffatome durch n ausdrücken, so können wir die Molekularformeln für einige dieser Reihen also darstellen:

|119| CnH2n+2 - Reihe der normalen Paraffine

CnH2n+2O

- Reihe der primären Alkohole

CnH2nO2 - Reihe der einbasischen fetten Säuren.

Nehmen wir als Beispiel die letzte dieser Reihen, und setzen wir nacheinander n = 1, n = 2, n = 3 usw., so erhalten wir folgende Resultate (mit Auslassung der Isomeren):

CH2O2

- Ameisensäure

- Siedepunkt

100°

Schmelzpunkt

C2H4O2

- Essigsäure

"

118°

"

17°

C3H6O2

- Propionsäure

"

140°

"

-

C4H8O2

- Buttersäure

"

162°

"

-

C5H10O2

- Valeriansäure

"

175°

"

-

und so weiter bis C20H60O2, Melissinsäure, die erst bei 80° schmilzt, und die gar keinen Siedepunkt hat, weil sie sich überhaupt nicht ohne Zersetzung verflüchtigt.

Hier sehn wir also eine ganze Reihe von qualitativ verschiednen Körpern, gebildet durch einfachen quantitativen Zusatz der Elemente, und zwar immer in demselben Verhältnis. Am reinsten tritt dies da hervor, wo alle Elemente der Verbindung in gleichem Verhältnis ihre Quantität ändern, so bei den normalen Paraffinen CnH2n+2; das unterste ist das Methan, CH4 ein Gas; das höchste bekannte, das Hekdekan, C16H34, ein fester, farblose Kristalle bildender Körper, der bei 21° schmilzt und erst bei 278° siedet. In beiden Reihen kommt jedes neue Glied durch den Hinzutritt von CH2, von einem Atom Kohlenstoff und zwei Atomen Wasserstoff zur Molekularformel des vorigen Gliedes zustande, und diese quantitative Veränderung der Molekularformel bringt jedesmal einen qualitativ verschiednen Körper hervor.

Jene Reihen sind aber nur ein besonders handgreifliches Beispiel; fast überall in der Chemie, schon bei den verschiednen Oxyden des Stickstoffs, in den verschiednen Sauerstoffsäuren des Phosphors oder Schwefels kann man sehn, wie »Quantität in Qualität umschlägt« und diese angebliche Hegelsche konfuse Nebelvorstellung in den Dingen und Vorgängen sozusagen leibhaft anzutreffen ist, wobei indes niemand konfus und benebelt bleibt außer Herrn Dühring. Und wenn Marx der erste ist, der hierauf aufmerksam machte, und wenn Herr Dühring diesen Hinweis liest, ohne ihn auch nur zu verstehn (denn sonst hätte er diesen unerhörten Frevel gewiß nicht so hingehn lassen), so reicht dies hin, um auch ohne Rückblick auf die ruhmvolle Dühringsche Naturphilosophie klarzustellen, wem »die eminent modernen Bildungselemente der naturwissenschaftlichen Denkweise« |120| fehlen, Marx oder Herrn Dühring, und wem die Bekanntschaft mit den »Hauptfeststellungen ... der Chemie«.

Zum Schluß wollen wir noch einen Zeugen für das Umschlagen von Quantität in Qualität anrufen, nämlich Napoleon. Dieser beschreibt das Gefecht der schlechtreitenden, aber disziplinierten französischen Kavallerie mit den Mameluken, der für das Einzelgefecht unbedingt besten, aber undisziplinierten Reiterei ihrer Zeit, wie folgt:

»Zwei Mameluken waren drei Franzosen unbedingt überlegen; 100 Mameluken standen 100 Franzosen gleich; 300 Franzosen waren 300 Mameluken gewöhnlich überlegen, 1.000 Franzosen warfen jedesmal 1.500 Mameluken.«

Grade wie bei Marx eine bestimmte, wenn auch veränderliche. Minimalgröße der Tauschwertsumme nötig war, um ihren Übergang in Kapital zu ermöglichen, gradeso ist bei Napoleon eine bestimmte Minimalgröße der Reiterabteilung nötig, um der in der geschlossenen Ordnung und planmäßigen Verwendbarkeit liegenden Kraft der Disziplin zu erlauben, sichtbar zu werden und sich zu steigern bis zur Überlegenheit selbst über größere Massen besser berittner, gewandter reitender und fechtender, und mindestens ebenso tapfrer irregulärer Kavallerie. Aber was beweist das gegen Herrn Dühring? Ist Napoleon nicht elendiglich im Kampf mit Europa erlegen? Hat er nicht Niederlage auf Niederlage erlitten? Und weshalb? Einzig infolge seiner Einführung der konfusen Hegelschen Nebelvorstellung in die Taktik der Kavallerie!

XIII. Dialektik. Negation der Negation

»Diese historische Skizze« (der Genesis der sogenannten ursprünglichen Kapitalakkumulation in England) »ist noch das verhältnismäßig beste in dem Marxschen Buch und würde noch besser sein, wenn sie sich außer auf der gelehrten nicht auch noch auf der dialektischen Krücke fortgeholfen hätte. Die Hegelsche Negation der Negation muß hier nämlich in Ermanglung besserer und klarerer Mittel den Hebammendienst leisten, durch welchen die Zukunft aus dem Schoß der Vergangenheit entbunden wird. Die Aufhebung des individuellen Eigentums, die sich in der angedeuteten Weise seit dem 16. Jahrhundert vollzogen hat, ist die erste Verneinung. Ihr wird eine zweite folgen, die sich als Verneinung der Verneinung und mithin als Wiederherstellung des 'individuellen Eigentums', aber in einer höhern, auf Gemeinbesitz des Bodens und der Arbeitsmittel gegründeten Form charakterisiert. Wenn dieses neue 'individuelle Eigentum' bei Herrn Marx auch zugleich 'gesellschaftliches Eigentum' genannt worden ist, so zeigt sich ja hierin die Hegelsche höhere Einheit, in welcher der Widerspruch aufgehoben, nämlich der Wortspielerei gemäß sowohl überwunden als aufbewahrt sein |121| soll ... Die Enteignung der Enteigner ist hiernach das gleichsam automatische Ergebnis der geschichtlichen Wirklichkeit in ihren materiell äußerlichen Verhältnissen ... Auf den Kredit Hegelscher Flausen, wie die Negation der Negation eine ist, möchte sich schwerlich ein besonnener Mann von der Notwendigkeit der Boden- und Kapitalkommunität überzeugen lassen ... Die nebelhafte Zwittergestalt der Marxschen Vorstellungen wird übrigens den nicht befremden, der da weiß, was mit der Hegel-Dialektik als wissenschaftlicher Grundlage gereimt werden kann oder vielmehr an Ungereimtheiten herauskommen muß. Für den Nichtkenner dieser Künste ist ausdrücklich zu bemerken, daß die erste Negation bei Hegel der Katechismusbegriff des Sündenfalls, und die zweite derjenige einer zur Erlösung hinführenden höheren Einheit ist. Auf diese Analogieschnurre hin, die dem Gebiet der Religion entlehnt ist, möchte nun wohl die Logik der Tatsachen nicht zu gründen sein ... Herr Marx bleibt getrost in der Nebelwelt seines zugleich individuellen und gesellschaftlichen Eigentums und überläßt es seinen Adepten, sich das tiefsinnige dialektische Rätsel selber zu lösen.«

Soweit Herr Dühring.

Also Marx kann die Notwendigkeit der sozialen Revolution, der Herstellung einer auf Gemeineigentum der Erde und der durch Arbeit erzeugten Produktionsmittel nicht anders beweisen als dadurch, daß er sich auf die Hegelsche Negation der Negation beruft; und indem er seine sozialistische Theorie auf diese der Religion entlehnte Analogieschnurre gründet, kommt er zu dem Resultat, daß in der künftigen Gesellschaft ein zugleich individuelles und gesellschaftliches Eigentum als Hegelsche höhere Einheit des aufgehobnen Widerspruchs herrschen wird.

Lassen wir zunächst die Negation der Negation auf sich beruhn, und besehn wir uns das »zugleich individuelle und gesellschaftliche Eigentum«. dies wird von Herrn Dühring als eine »Nebelwelt« bezeichnet, und er hat darin merkwürdigerweise wirklich recht. Es ist aber leider nicht Marx, der sich in dieser Nebelwelt befindet, sondern wiederum Herr Dühring selbst. Wie er nämlich schon oben vermittelst seiner Gewandtheit in der Hegelschen Methode des »Delirierens« ohne Mühe feststellen konnte, was die noch unvollendeten Bände des »Kapital« enthalten müssen, so kann er auch hier ohne große Mühe Marx nach Hegel berichtigen, indem er ihm die höhere Einheit eines Eigentums unterschiebt, von der Marx kein Wort gesagt hat.

Bei Marx heißt es: »Es ist Negation der Negation. Diese stellt das individuelle Eigentum wieder her, aber auf Grundlage der Errungenschaft der kapitalistischen Ära, der Kooperation freier Arbeiter und ihrem Gemeineigentum an der Erde und den durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmitteln. Die Verwandlung des auf eigner Arbeit beruhenden, zersplitterten Privateigentums der Individuen in kapitalistisches ist natürlich |122| ein Prozeß, ungleich mehr langwierig, hart und schwierig als die Verwandlung des faktisch bereits auf gesellschaftlichem Produktionsbetrieb beruhenden kapitalistischen Privateigentums in gesellschaftliches Eigentum.« |Siehe Karl Marx, »Das Kapital«, Bd. I, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 23, S. 791| Das ist alles. Der durch die Enteignung der Enteigner hergestellte Zustand wird also bezeichnet als die Wiederherstellung des individuellen Eigentums aber auf Grundlage des gesellschaftlichen Eigentums an der Erde und den durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmitteln. Für jeden, der Deutsch versteht, heißt dies, daß das gesellschaftliche Eigentum sich auf die Erde und die andern Produktionsmittel erstreckt und das individuelle Eigentum auf die Produkte, also auf die Verbrauchsgegenstände. Und damit die Sache auch für Kinder von sechs Jahren faßlich werde, unterstellt Marx auf Seite 56 einen »Verein freier Menschen, die mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewußt als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben«, also einen sozialistisch organisierten Verein, und sagt: »Das Gesamtprodukt des Vereins ist ein gesellschaftliches Produkt. Ein Teil dieses Produkts dient wieder als Produktionsmittel. Er bleibt gesellschaftlich. Aber ein andrer Teil wird als Lebensmittel von den Vereinsmitgliedern verzehrt. Er muß daher unter sie verteilt werden.« |Siehe Karl Marx, »Das Kapital«, Bd. I, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 23, S. 92/93| Und das ist doch wohl klar genug, selbst für den verhegelten Kopf des Herrn Dühring.

Das zugleich individuelle und gesellschaftliche Eigentum, diese konfuse Zwittergestalt, diese bei der Hegel-Dialektik herauskommen müssende Ungereimtheit, diese Nebelwelt, dies tiefsinnige dialektische Rätsel, das Marx seinen Adepten zu lösen überläßt - es ist abermals eine freie Schöpfung und Imagination des Herrn Dühring. Marx, als angeblicher Hegelianer ist verpflichtet, als Resultat der Negation der Negation eine richtige höhere Einheit zu liefern, und da er dies nicht nach dem Geschmack des Herrn Dühring tut, so muß dieser wiederum in höhern und edlern Stil verfallen, und Marx im Interesse der vollen Wahrheit Dinge unterschieben, die Herrn Dührings eigenstes Fabrikat sind. Ein Mann, der so total unfähig ist, auch nur ausnahmsweise richtig zu zitieren, mag wohl in sittliche Entrüstung geraten gegenüber der »Chinesengelehrsamkeit« andrer Leute, die ausnahmslos richtig zitieren, aber eben dadurch »den Mangel einer Einsicht in das Ideenganze der jedesmal angeführten Schriftsteller schlecht verdecken«. Herr Dühring hat recht. Es lebe die Geschichtszeichnung großen Stils!

Bisher sind wir von der Voraussetzung ausgegangen, Herrn Dührings hartnäckiges Falschzitieren sei wenigstens in gutem Glauben geschehn und |123| beruhe entweder auf einer ihm eignen totalen Unfähigkeit des Verständnisses, oder aber auf einer, der Geschichtszeichnung großen Stils eigentümlichen und sonst wohl als liederlich bezeichneten Gewohnheit, aus dem Gedächtnis anzuführen. Es scheint aber, daß wir hier an dem Punkt angekommen sind, wo auch bei Herrn Dühring die Quantität in die Qualität umschlägt. Denn wenn wir erwägen, daß erstens die Stelle bei Marx an sich vollkommen klar und zudem noch durch eine andre platterdings kein Mißverständnis zulassende Stelle desselben Buchs ergänzt wird; daß zweitens weder in der oben angerührten Kritik des »Kapital« in den »Ergänzungsblättern«, noch auch in derjenigen in der ersten Auflage der »Kritischen Geschichte« Herr Dühring dies Ungeheuer von »zugleich individuellem und gesellschaftlichem Eigentum« entdeckt hatte, sondern erst in der zweiten Auflage, also bei dritter Lesung; daß in dieser sozialistisch umgearbeiteten, zweiten Auflage Herr Dühring es nötig hatte, Marx über die zukünftige Organisation der Gesellschaft möglichst großen Blödsinn sagen zu lassen, um dagegen - wie er auch tut - »die Wirtschaftskommune, die ich in meinem 'Cursus' ökonomisch und juristisch skizziert habe«, um so triumphierender vorführen zu können - wenn wir das alles erwägen, so wird uns der Schluß aufgedrängt, daß Herr Dühring uns hier fast zur Annahme zwingt, er habe hier den Marxschen Gedanken mit Vorbedacht »wohltätig erweitert« - wohltätig für Herrn Dühring.

Welche Rolle spielt nun bei Marx die Negation der Negation? Auf Seite 791 u.ff. stellt er die Schlußergebnisse der auf den vorhergehenden fünfzig Seiten durchgeführten ökonomischen und geschichtlichen Untersuchung über die sogenannte ursprüngliche Akkumulation des Kapitals zusammen. Vor der kapitalistischen Ära fand, wenigstens in England, Kleinbetrieb statt, auf Grundlage des Privateigentums des Arbeiters an seinen Produktionsmitteln. Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation des Kapitals bestand hier in der Expropriation dieser unmittelbaren Produzenten, d.h. in der Auflösung des auf eigner Arbeit beruhenden Privateigentums. Dies wurde möglich, weil der obige Kleinbetrieb nur verträglich ist mit engen, naturwüchsigen Schranken der Produktion und der Gesellschaft und auf einem gewissen Höhegrad daher die materiellen Mittel seiner eignen Vernichtung zur Welt bringt. Diese Vernichtung, die Verwandlung der individuellen und zersplitterten Produktionsmittel in gesellschaftlich konzentrierte, bildet die Vorgeschichte des Kapitals. Sobald die Arbeiter in Proletarier, ihre Arbeitsbedingungen in Kapital verwandelt sind, sobald die kapitalistische Produktionsweise auf eignen Füßen steht, gewinnt die weitere Vergesellschaftung der Arbeit und weitere Verwandlung der Erde und |124| andern Produktionsmittel, daher die weitere Expropriation der Privateigentümer, eine neue Form. »Was jetzt zu expropriieren, ist nicht länger der selbstwirtschaftende Arbeiter, sondern der viele Arbeiter exploitierende Kapitalist. Diese Expropriation vollzieht sich durch das Spiel der immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktion selbst, durch die Konzentration der Kapitale. Je ein Kapitalist schlägt viele tot. Hand in Hand mit dieser Konzentration oder der Expropriation vieler Kapitalisten durch wenige entwickelt sich die kooperative Form des Arbeitsprozesses auf stets wachsender Stufenleiter, die bewußte technologische Anwendung der Wissenschaft, die planmäßig gemeinsame Ausbeutung der Erde, die Verwandlung der Arbeitsmittel in nur gemeinsam verwendbare Arbeitsmittel, und die Ökonomisierung aller Produktionsmittel durch ihren Gebrauch als gemeinsame Produktionsmittel kombinierter, gesellschaftlicher Arbeit. Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtung, der Degradation, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse. Das Kapital |in der 2. Auflage des »Kapital« (1872): Kapitalmonopol| wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Konzentration der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert.« |Siehe Karl Marx, »Das Kapital«, Bd. I, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 23, S. 790/791|

Und nun frage ich den Leser: Wo sind die dialektisch-krausen Verschlingungen und Vorstellungsarabesken, wo die Misch- und Mißvorstellung, derzufolge schließlich alles eins ist, wo die dialektischen Wunder für die Gläubigen, wo der dialektische Geheimniskram und die Verschlingungen nach Maßgabe der Hegelschen Logoslehre, ohne die Marx, nach Herrn Dühring, seine Entwicklung nicht zustande bringen kann? Marx weist einfach historisch nach und faßt hier kurz zusammen, daß grade, wie einst der Kleinbetrieb durch seine eigne Entwicklung die Bedingungen seiner Vernichtung, d.h. der Enteignung der kleinen Eigentümer, mit Notwendigkeit erzeugte, so jetzt die kapitalistische Produktionsweise ebenfalls die materiellen Bedingungen selbst erzeugt hat, an denen sie zugrunde gehn muß. Der Prozeß ist ein geschichtlicher, und wenn er zugleich ein dialektischer ist, so ist das nicht die Schuld von Marx, so fatal es Herrn Dühring sein mag.

|125| Erst jetzt, nachdem Marx mit seinem historisch-ökonomischen Beweis fertig ist, fährt er fort: »Die kapitalistische Produktions- und Aneignungsweise, daher das kapitalistische Privateigentum, ist die erste Negation des individuellen, auf eigne Arbeit gegründeten Privateigentums. Die Negation der kapitalistischen Produktion wird durch sie selbst, mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses, produziert. Es ist Negation der Negation« usw. (wie vorher zitiert) |Siehe Karl Marx, »Das Kapital«, Bd. I, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 23, S. 791|.

Indem Marx also den Vorgang als Negation der Negation bezeichnet, denkt er nicht daran, ihn dadurch beweisen zu wollen als einen geschichtlich notwendigen. Im Gegenteil: Nachdem er geschichtlich bewiesen hat, daß der Vorgang in der Tat teils sich ereignet hat, teils noch sich ereignen muß, bezeichnet er ihn zudem als einen Vorgang, der sich nach einem bestimmten dialektischen Gesetz vollzieht. Das ist alles. Es ist also wieder eine reine Unterschiebung des Herrn Dühring, wenn er behauptet, die Negation der Negation müsse hier die Hebammendienste leisten, durch welche die Zukunft aus dem Schoß der Vergangenheit entbunden wird, oder daß Marx verlange, man solle auf den Kredit der Negation der Negation hin sich von der Notwendigkeit der Boden- und Kapitalkommunität (welche selbst ein Dühringscher leibhafter Widerspruch ist) überzeugen lassen.

Es ist schon ein totaler Mangel an Einsicht in die Natur der Dialektik, wenn Herr Dühring sie für ein Instrument des bloßen Beweisens hält, wie man etwa die formelle Logik oder die elementare Mathematik beschränkterweise so auffassen kann. Selbst die formelle Logik ist vor allem Methode zur Auffindung neuer Resultate, zum Fortschreiten vom Bekannten zum Unbekannten, und dasselbe, nur in weit eminenterem Sinne, ist die Dialektik, die zudem, weil sie den engen Horizont der formellen Logik durchbricht, den Keim einer umfassenderen Weltanschauung enthält. In der Mathematik liegt dasselbe Verhältnis vor. Die elementare Mathematik, die Mathematik der konstanten Größen bewegt sich innerhalb der Schranken der formellen Logik, wenigstens im ganzen und großen; die Mathematik der variablen Größen, deren bedeutendsten Teil die Infinitesimalrechnung bildet, ist wesentlich nichts andres als die Anwendung der Dialektik auf mathematische Verhältnisse. Das bloßem Beweisen tritt hier entschieden in den Hintergrund gegenüber der mannigfachen Anwendung der Methode auf neue Untersuchungsgebiete. Aber fast alle Beweise der höhern Mathematik, von den ersten der Differentialrechnung an, sind vom Standpunkt der |126| Elementarmathematik aus, streng genommen, falsch. Dies kann nicht anders sein, wenn man, wie hier geschieht, die auf dialektischem Gebiet gewonnenen Resultate vermittelst der formellen Logik beweisen will. Für einen krassen Metaphysiker, wie Herr Dühring, vermittelst der bloßen Dialektik etwas beweisen zu wollen, wäre dieselbe verlorne Mühe, die Leibniz und seine Schüler hatten, den damaligen Mathematikern die Sätze der Infinitesimalrechnung zu beweisen. Das Differential verursachte ihnen dieselben Krämpfe wie dem Herrn Dühring die Negation der Negation, in der es übrigens, wie wir sehn werden, auch eine Rolle spielt. Die Herren gaben zuletzt, soweit sie inzwischen nicht starben, knurrend nach, nicht weil sie überzeugt waren, sondern weil es immer richtig herauskam. Herr Dühring ist, wie er selbst sagt, erst in den Vierzigen, und wenn er das hohe Alter erreicht, das wir ihm wünschen, so kann er auch noch dasselbe erleben.

Aber was ist denn diese schreckliche Negation der Negation, die Herrn Dühring das Leben so sauer macht, die bei ihm dieselbe Rolle des unverzeihlichen Verbrechens spielt, wie im Christentum die Sünde wider den heiligen Geist? - Eine sehr einfache, überall und täglich sich vollziehende Prozedur, die jedes Kind verstehn kann, sobald man den Geheimniskram abstreift, unter dem die alte idealistische Philosophie sie verhüllte, und unter dem sie ferner zu verhüllen das Interesse hülfloser Metaphysiker vom Schlage des Herrn Dühring ist. Nehmen wir ein Gerstenkorn. Billionen solcher Gerstenkörner werden vermahlen, verkocht und verbraut, und dann verzehrt. Aber findet solch ein Gerstenkorn die für es normalen Bedingungen vor, fällt es auf günstigen Boden, so geht unter dem Einfluß der Wärme und der Feuchtigkeit eine eigne Veränderung mit ihm vor, es keimt; das Korn vergeht als solches, wird negiert, an seine Stelle tritt die aus ihm entstandne Pflanze, die Negation des Korns. Aber was ist der normale Lebenslauf dieser Pflanze? Sie wächst, blüht, wird befruchtet und produziert schließlich wieder Gerstenkörner, und sobald diese gereift, stirbt der Halm ab, wird seinerseits negiert. Als Resultat dieser Negation der Negation haben wir wieder das anfängliche Gerstenkorn, aber nicht einfach, sondern in zehn-, zwanzig-, dreißigfacher Anzahl. Getreidearten verändern sich äußerst langsam, und so bleibt sich die Gerste von heute ziemlich gleich mit der von vor hundert Jahren. Nehmen wir aber eine bildsame Zierpflanze, z.B. eine Dahlia oder Orchidee; behandeln wir den Samen und die aus ihm entstehende Pflanze nach der Kunst des Gärtners, so erhalten wir als Ergebnis dieser Negation der Negation nicht nur mehr Samen, sondern auch qualitativ verbesserten Samen, der schönere Blumen erzeugt, und jede |127| Wiederholung dieses Prozesses, jede neue Negation der Negation steigert diese Vervollkommnung. - Ähnlich wie beim Gerstenkorn vollzieht sich dieser Prozeß bei den meisten Insekten, z.B. Schmetterlingen. Sie entstehn aus dem Ei durch Negation des Ei's, machen ihre Verwandlungen durch bis zur Geschlechtsreife, begatten sich und werden wieder negiert, indem sie sterben, sobald der Gattungsprozeß vollendet und das Weibchen seine zahlreichen Eier gelegt hat. Daß bei andern Pflanzen und Tieren der Vorgang nicht in dieser Einfachheit sich erledigt, daß sie nicht nur einmal, sondern mehrmal Samen, Eier oder Junge produzieren, ehe sie absterben, geht uns hier noch nichts an; wir haben hier nur nachzuweisen, daß die Negation der Negation in den beiden Reichen der organischen Welt wirklich vorkommt. Ferner ist die ganze Geologie eine Reihe von negierten Negationen, eine Reihe von aufeinanderfolgenden Zertrümmerungen alter und Ablagerungen neuer Gesteinsformationen. Zuerst wird die ursprüngliche, aus der Abkühlung der flüssigen Masse entstandne Erdkruste durch ozeanische, meteorologische und atmosphärisch-chemische Einwirkung zerkleinert und diese zerkleinerten Massen auf dem Meeresboden geschichtet. Lokale Hebungen des Meeresbodens über den Meeresspiegel setzen Teile dieser ersten Schichtung von neuem den Einwirkungen des Regens, der wechselnden Warme der Jahreszeiten, des Sauerstoffs und der Kohlensäure der Atmosphäre aus; denselben Einwirkungen unterliegen die aus dem Erdinnern hervor- und die Schichten durchbrechenden geschmolzenen und nachher abgekühlten Steinmassen. Millionen von Jahrhunderten hindurch werden so immer neue Schichten gebildet, immer wieder größtenteils zerstört und immer wieder als Bildungsstoff für neue Schichten verwendet. Aber das Ergebnis ist ein sehr positives: die Herstellung eines aus den verschiedensten chemischen Elementen gemischten Bodens in einem Zustand mechanischer Zerkleinerung, der die massenhafteste und verschiedenartigste Vegetation zuläßt.

Ebenso in der Mathematik. Nehmen wir eine beliebige algebraische Größe, also a. Negieren wir sie, so haben wir -a (minus a). Negieren wir diese Negation, indem wir -a mit -a multiplizieren, so haben wir +a2, d.h. die ursprüngliche positive Große, aber auf einer höhern Stufe, nämlich auf der zweiten Potenz. Auch hier macht es nichts aus, daß wir dasselbe a2 dadurch erlangen können, daß wir das positive a mit sich selbst multiplizieren und dadurch auch a2 erhalten. Denn die negierte Negation sitzt so fest in dem a2, daß es unter allen Umständen zwei Quadratwurzeln hat, nämlich a und -a. Und diese Unmöglichkeit, die negierte Negation, die im Quadrat enthaltne negative Wurzel loszuwerden, bekommt eine sehr |128| handgreifliche Bedeutung schon bei den quadratischen Gleichungen. - Noch schlagender tritt die Negation der Negation hervor bei der höhern Analyse, bei jenen »Summationen unbeschränkt kleiner Größen«, die Herr Dühring selbst für die höchsten Operationen der Mathematik erklärt und die man in gewöhnlicher Sprache Differential- und Integralrechnung nennt. Wie vollziehn sich diese Rechnungsarten? Ich habe z.B. in einer bestimmten Aufgabe zwei veränderliche Größen x und y, von denen sich die eine nicht verändern kann, ohne daß die andre sich in einem durch die Sachlage bestimmten Verhältnis mitverändert. Ich differenziere x und y, d.h. ich nehme x und y so unendlich klein an, daß sie gegen jede noch so kleine wirkliche Größe verschwinden, daß von x und y nichts bleibt als ihr gegenseitiges Verhältnis, aber ohne alle sozusagen materielle Grundlage, ein quantitatives Verhältnis ohne alle Quantität. dx/dy, das Verhältnis der beiden Differentiale von x und y ist also = 0/0, aber 0/0 gesetzt als der Ausdruck von x/y. Daß dies Verhältnis zwischen zwei verschwundnen Größen, der fixierte Moment ihres Verschwindens, ein Widerspruch ist, erwähne ich nur nebenbei; es kann uns aber ebensowenig stören, wie es die Mathematik überhaupt seit fast zweihundert Jahren gestört hat. Was anders also habe ich getan, als daß ich x und y negiert habe, aber negiert nicht so, daß ich mich nicht mehr um sie kümmere, wie die Metaphysik negiert, sondern in der der Sachlage entsprechenden Weise? Statt x und y habe ich also ihre Negation, dx und dy in den mir vorliegenden Formeln oder Gleichungen. Ich rechne nun mit diesen Formeln weiter, behandle dx und dy als wirkliche, wenn auch gewissen Ausnahmsgesetzen unterworfne Größen, und an einem gewissen Punkt - negiere ich die Negation, d.h. ich integriere die Differentialformel, bekomme statt dx und dy wieder die wirklichen Größen x und y und bin dann nicht etwa wieder so weit wie am Anfang, sondern ich habe damit die Aufgabe gelöst, an der die gewöhnliche Geometrie und Algebra sich vielleicht umsonst die Zähne ausgebissen hätten.

Nicht anders in der Geschichte. Alle Kulturvölker fangen an mit dem Gemeineigentum am Boden. Bei allen Völkern, die über eine gewisse ursprüngliche Stufe hinausgehn, wird dies Gemeineigentum im Lauf der Entwicklung des Ackerbaus eine Fessel für die Produktion. Es wird aufgehoben, negiert, nach kürzern oder längern Zwischenstufen in Privateigentum verwandelt. Aber auf höherer, durch das Privateigentum am Boden selbst herbeigeführter Entwicklungsstufe des Ackerbaus wird umgekehrt das Privateigentum eine Fessel für die Produktion - wie dies heute |129| der Fall ist sowohl mit dem kleinen wie mit dem großen Grundbesitz. Die Forderung, es ebenfalls zu negieren, es wieder in Gemeingut zu verwandeln, tritt mit Notwendigkeit hervor. Aber diese Forderung bedeutet nicht die Wiederherstellung des altursprünglichen Gemeineigentums, sondern die Herstellung einer weit höhern, entwickeltern Form von Gemeinbesitz, die, weit entfernt der Produktion eine Schranke zu werden, sie vielmehr erst entfesseln und ihr die volle Ausnutzung der modernen chemischen Entdeckungen und mechanischen Erfindungen gestatten wird.

Oder aber: Die antike Philosophie war ursprünglicher, naturwüchsiger Materialismus. Als solcher war sie unfähig, mit dem Verhältnis des Denkens zur Materie ins reine zu kommen. Die Notwendigkeit aber, hierüber klarzuwerden, führte zur Lehre von einer vom Körper trennbaren Seele, dann zu der Behauptung der Unsterblichkeit dieser Seele, endlich zum Monotheismus. Der alte Materialismus wurde also negiert durch den Idealismus. Aber in der weitern Entwicklung der Philosophie wurde auch der Idealismus unhaltbar und negiert durch den modernen Materialismus. Dieser, die Negation der Negation, ist nicht die bloße Wiedereinsetzung des alten, sondern fügt zu den bleibenden Grundlagen desselben noch den ganzen Gedankeninhalt einer zweitausendjährigen Entwicklung der Philosophie und Naturwissenschaft, sowie dieser zweitausendjährigen Geschichte selbst. Es ist überhaupt keine Philosophie mehr, sondern eine einfache Weltanschauung, die sich nicht in einer aparten Wissenschaftswissenschaft, sondern in den wirklichen Wissenschaften zu bewähren und zu betätigen hat. Die Philosophie ist hier also »aufgehoben«, das heißt »sowohl überwunden als aufbewahrt«; überwunden, ihrer Form, aufbewahrt, ihrem wirklichen Inhalt nach. Wo Herr Dühring nur »Wortspielerei« sieht, findet sich also, bei genauerem Zusehn, ein wirklicher Inhalt.

Endlich: Sogar die Rousseausche Gleichheitslehre, von der die Dühringsche nur ein matter, verfälschter Abklatsch ist, kommt nicht zustande, ohne daß die Hegelsche Negation der Negation - und noch dazu fast zwanzig Jahre vor Hegels Geburt - Hebammendienste leisten muß. Und weit entfernt, sich dessen zu schämen, trägt sie in ihrer ersten Darstellung den Stempel ihrer dialektischen Abstammung fast prunkend zur Schau. Im Zustand der Natur und der Wildheit waren die Menschen gleich; und da Rousseau schon die Sprache als eine Fälschung des Naturzustandes ansieht, so hat er vollkommen recht, die Gleichheit der Tiere Einer Art, soweit diese reicht, auch auf diese, neuerdings von Haeckel als Alali, Sprachlose, hypothetisch klassifizierten Tiermenschen anzuwenden. Aber diese gleichen Tiermenschen hatten vor den übrigen Tieren eine Eigenschaft voraus: die |130| Perfektibilität, die Fähigkeit, sich weiter zu entwickeln; und diese wurde die Ursache der Ungleichheit. Rousseau sieht also in der Entstehung der Ungleichheit einen Fortschritt. Aber dieser Fortschritt war antagonistisch, er war zugleich ein Rückschritt.

»Alle weitern Fortschritte« (über den Urzustand hinaus) »waren ebensoviel Schritte scheinbar zur Vervollkommnung des Einzelmenschen, in der Tat aber zum Verfall der Gattung ... Die Metallbearbeitung und der Ackerbau waren die beiden Künste, deren Erfindung diese große Revolution hervorrief« (die Umwandlung des Urwaldes in kultiviertes Land, aber auch die Einführung des Elends und der Knechtschaft vermittelst des Eigentums). »Für den Dichter haben Gold und Silber, für den Philosophen haben Eisen und Korn die Menschen zivilisiert und das Menschengeschlecht ruiniert.« |Alle Hervorhebungen von Engels|

Jeder neue Fortschritt der Zivilisation ist zugleich ein neuer Fortschritt der Ungleichheit. Alle Einrichtungen, die sich die mit der Zivilisation entstandne Gesellschaft gibt, schlagen in das Gegenteil ihres ursprünglichen Zwecks um.

»Es ist unbestreitbar und Grundgesetz des ganzen Staatsrechts, daß die Völker sich Fürsten gegeben haben, um ihre Freiheit zu schützen, nicht aber sie zu vernichten.«

Und dennoch werden diese Fürsten mit Notwendigkeit die Unterdrücker der Völker und steigern diese Unterdrückung bis auf den Punkt, wo die Ungleichheit, auf die äußerste Spitze getrieben, wieder in ihr Gegenteil umschlägt, Ursache der Gleichheit wird: vor dem Despoten sind alle gleich, nämlich gleich Null.

»Hier ist der äußerste Grad der Ungleichheit, der Endpunkt, der den Kreis schließt und den Punkt berührt, von dem wir ausgegangen sind: hier werden alle Privatleute gleich, weil sie eben nichts sind, und die Untertanen kein andres Gesetz mehr haben als den Willen des Herrn.« Aber der Despot ist nur Herr, solange er die Gewalt hat, und deswegen kann er, sobald man »ihn vertreibt, sich nicht gegen die Gewalt beklagen ... Die Gewalt erhielt ihn, die Gewalt wirft ihn um, alles geht seinen richtigen naturgemäßen Gang.« |Alle Hervorhebungen von Engels|

Und so schlägt die Ungleichheit wieder um in Gleichheit, aber nicht in die alte naturwüchsige Gleichheit der sprachlosen Urmenschen, sondern in die höhere des Gesellschaftsvertrags. Die Unterdrücker werden unterdrückt. Es ist Negation der Negation.

Wir haben hier also schon bei Rousseau nicht nur einen Gedankengang, der dem in Marx' »Kapital« verfolgten auf ein Haar gleicht, sondern auch |131| im einzelnen eine ganze Reihe derselben dialektischen Wendungen, deren Marx sich bedient: Prozesse, die ihrer Natur nach antagonistisch sind, einen Widerspruch in sich enthalten, Umschlagen eines Extrems in sein Gegenteil, endlich als Kern des Ganzen die Negation der Negation. Wenn Rousseau also 1754 den Hegel-Jargon noch nicht sprechen konnte, so ist er doch, 16 Jahre vor Hegels Geburt, tief von der Hegel-Seuche, Widerspruchsdialektik, Logoslehre, Theologik usw. angefressen. Und wenn Herr Dühring in seiner Verseichtigung der Rousseauschen Gleichheitstheorie mit seinen siegreichen zwei Männern operiert, so ist er auch schon auf der schiefen Ebene, auf der er rettungslos der Negation der Negation in die Arme rutscht. Der Zustand, in dem die Gleichheit der beiden Männer floriert, und der auch wohl als ein Idealzustand dargestellt wird, ist auf Seite 271 der »Philosophie« als »Urzustand« bezeichnet. Dieser Urzustand wird aber nach Seite 279 notwendigerweise durch das »Raubsystem« aufgehoben - erste Negation. Aber wir sind jetzt, dank der Wirklichkeitsphilosophie, dahin gekommen, daß wir das Raubsystem abschaffen und an seiner Stelle die von Herrn Dühring erfundne, auf Gleichheit beruhende Wirtschaftskommune einführen - Negation der Negation, Gleichheit auf höherer Stufe. Ergötzliches, den Gesichtskreis wohltätig erweiterndes Schauspiel, wie Herr Dühring das Kapitalverbrechen der Negation der Negation Allerhöchstselbst begeht!

Was ist also die Negation der Negation? Ein äußerst allgemeines und eben deswegen äußerst weitwirkendes und wichtiges Entwicklungsgesetz der Natur, der Geschichte und des Denkens; ein Gesetz, das, wie wir gesehn, in der Tier- und Pflanzenwelt, in der Geologie, in der Mathematik, m der Geschichte, in der Philosophie zur Geltung kommt und dem selbst Herr Dühring trotz allen Sperrens und Zerrens, ohne es zu wissen, in seiner Weise nachkommen muß. Es versteht sich von selbst, daß ich über den besondern Entwicklungsprozeß, den z.B. das Gerstenkorn von der Keimung bis zum Absterben der fruchttragenden Pflanze durchmacht, gar nichts sage, wenn ich sage, es ist Negation der Negation. Denn da die Integralrechnung ebenfalls Negation der Negation ist, würde ich mit der entgegengesetzten Behauptung nur den Unsinn behaupten, der Lebensprozeß eines Gerstenhalms sei Integralrechnung oder meinetwegen auch Sozialismus. Das ist es aber, was die Metaphysiker der Dialektik fortwährend in die Schuhe schieben. Wenn ich von all diesen Prozessen sage, sie sind Negation der Negation, so fasse ich sie allesamt unter dies eine Bewegungsgesetz zusammen, und lasse ebendeswegen die Besonderheiten jedes einzelnen Spezialprozesses unbeachtet. Die Dialektik ist aber weiter nichts als die |132| Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen der Natur, der Menschengesellschaft und des Denkens.

Nun kann man aber einwenden: Die hier vollzogne Negation ist gar keine richtige Negation: ich negiere ein Gerstenkorn auch, wenn ich's vermahle, ein Insekt, wenn ich's zertrete, die positive Größe a, wenn ich sie ausstreiche usw. Oder ich negiere den Satz: die Rose ist eine Rose, wenn ich sage: die Rose ist keine Rose; und was kommt dabei heraus, wenn ich diese Negation wieder negiere und sage: die Rose ist aber doch eine Rose? - Diese Einwendungen sind in der Tat die Hauptargumente der Metaphysiker gegen die Dialektik und ganz dieser Borniertheit des Denkens würdig. Negieren in der Dialektik heißt nicht einfach nein sagen, oder ein Ding für nicht bestehend erklären, oder es in beliebiger Weise zerstören. Schon Spinoza sagt: Omnis determinatio est negatio, jede Begrenzung oder Bestimmung ist zugleich eine Negation. Und ferner ist die Art der Negation hier bestimmt erstens durch die allgemeine und zweitens die besondre Natur des Prozesses. Ich soll nicht nur negieren, sondern auch die Negation wieder aufheben. Ich muß also die erste Negation so einrichten, daß die zweite möglich bleibt oder wird. Wie? Je nach der besondern Natur jedes einzelnen Falls. Vermahle ich ein Gerstenkorn, zertrete ich ein Insekt, so habe ich zwar den ersten Akt vollzogen, aber den zweiten unmöglich gemacht. Jede Art von Dingen hat also ihre eigentümliche Art, so negiert zu werden, daß eine Entwicklung dabei herauskommt, und ebenso jede Art von Vorstellungen und Begriffen. In der Infinitesimalrechnung wird anders negiert als in der Herstellung positiver Potenzen aus negativen Wurzeln. Das will gelernt sein, wie alles andre. Mit der bloßen Kenntnis, daß Gerstenhalm und Infinitesimalrechnung unter die Negation der Negation fallen, kann ich weder erfolgreich Gerste bauen, noch differenzieren und integrieren, ebensowenig wie ich mit den bloßen Gesetzen der Tonbestimmung durch die Dimensionen der Saiten ohne weiteres Violine spielen kann. - Es ist aber klar, daß bei einer Negationsnegierung, die in der kindischen Beschäftigung besteht, a abwechselnd zu setzen und wieder auszustreichen, oder von einer Rose abwechselnd zu behaupten, sie sei eine Rose und sie sei keine Rose, nichts herauskommt als die Albernheit dessen, der solche langweilige Prozeduren vornimmt. Und doch möchten die Metaphysiker uns weismachen, wenn wir einmal die Negation der Negation vollziehn wollten, dann sei das die richtige Art.

Es ist also wiederum niemand anders als Herr Dühring, der uns mystifiziert, wenn er behauptet, die Negation der Negation sei eine von Hegel erfundne, dem Gebiet der Religion entlehnte, auf die Geschichte vom |133| Sündenfall und der Erlösung gebaute Analogieschnurre. Die Menschen haben dialektisch gedacht, lange ehe sie wußten, was Dialektik war, ebenso wie sie schon Prosa sprachen, lange bevor der Ausdruck Prosa bestand. Das Gesetz der Negation der Negation, das sich in der Natur und Geschichte, und bis es einmal erkannt ist, auch in unsern Köpfen unbewußt vollzieht, ist von Hegel nur zuerst scharf formuliert worden. Und wenn Herr Dühring die Sache im stillen selbst betreiben will und nur den Namen nicht vertragen kann, so möge er einen bessern Namen finden. Will er aber die Sache aus dem Denken vertreiben, so vertreibe er sie gütigst zuerst aus der Natur und der Geschichte, und erfinde eine Mathematik, worin -a × -a nicht +a2 ist und worin das Differenzieren und Integrieren bei Strafe verboten ist.

XIV. Schluß

Wir sind zu Ende mit der Philosophie; was sonst noch von Zukunftsphantasien im »Cursus« vorhanden, wird uns gelegentlich der Dühringschen Umwälzung des Sozialismus beschäftigen. Was hat uns Herr Dühring versprochen? Alles. Und was hat er gehalten? Gar nichts. »Die Elemente einer wirklichen und demgemäß auf die Wirklichkeit der Natur und des Lebens gerichteten Philosophie«, die »strengwissenschaftliche Weltanschauung«, die »systemschaffenden Gedanken«, und alle die andern, in hochtönenden Redewendungen von Herrn Dühring ausposaunten Leistungen des Herrn Dühring erwiesen sich, wo immer wir sie anfaßten, als reiner Schwindel. Die Weltschematik, die »ohne der Tiefe des Gedankens etwas zu vergeben, die Grundgestalten des Seins sicher festgestellt hat«, stellte sich heraus als ein unendlich verseichtigter Abklatsch der Hegelschen Logik und teilt mit ihr den Aberglauben, daß diese »Grundgestalten« oder logischen Kategorien irgendwo ein geheimnisvolles Dasein führen vor und außer der Welt, auf die sie »anzuwenden« sind. Die Naturphilosophie bot uns eine Kosmogonie, deren Ausgangspunkt ein »sich selbst gleicher Zustand der Materie« ist, ein Zustand, vorstellbar nur vermittelst der rettungslosesten Verwirrung über den Zusammenhang von Materie und Bewegung, und vorstellbar außerdem nur unter Annahme eines außerweltlichen persönlichen Gottes, der allein diesem Zustand zur Bewegung verhelfen kann. Bei Behandlung der organischen Natur mußte die Wirklichkeitsphilosophie, nachdem sie Darwins Kampf ums Dasein und Naturzüchtung als »ein Stück gegen die Humanität gerichtete Brutalität« verworfen, sie beide durch die Hintertür wieder zulassen als in der Natur wirksame Faktoren, wenn |134| auch zweiter Ordnung. Sie fand zudem Gelegenheit, auf dem Gebiet der Biologie eine Unwissenheit zu dokumentieren, wie man sie, seit den populärwissenschaftlichen Vorträgen nicht mehr zu entgehn ist, selbst bei Töchtern gebildeter Stände mit der Laterne suchen müßte. Auf dem Gebiet der Moral und des Rechts war sie mit der Verflachung Rousseaus nicht glücklicher als vorher mit der Verseichtigung Hegels und bewies auch in Beziehung auf Rechtswissenschaft, trotz aller Versicherung des Gegenteils, eine Unkenntnis, wie sie selbst bei den allergewöhnlichsten, altpreußischen Juristen nur selten anzutreffen sein dürfte. Die Philosophie, »die keinen bloß scheinbaren Horizont gelten läßt«, begnügt sich juristisch mit einem wirklichen Horizont, der sich deckt mit dem Geltungsbereich des preußischen Landrechts. Auf die »Erden und Himmel der äußern und innern Natur«, die diese Philosophie in ihrer mächtig umwälzenden Bewegung vor uns aufzurollen versprach, warten wir noch immer, nicht weniger auf die »endgültigen Wahrheiten letzter Instanz« und auf »das absolut Fundamentale«. Der Philosoph, dessen Denkweise jede Anwandlung zu einer »subjektivistisch-beschränkten Weltvorstellung ausschließt«, erweist sich nicht nur als subjektivistisch beschränkt durch seine wie nachgewiesen äußerst mangelhaften Kenntnisse, durch seine borniert metaphysische Denkweise und seine fratzenhafte Selbstüberhebung, sondern sogar durch kindische persönliche Schrullen. Er kann die Wirklichkeitsphilosophie nicht fertigbringen, ohne seinen Widerwillen gegen Tabak, Katzen und Juden als allgemeingültiges Gesetz der ganzen übrigen Menschheit, die Juden eingeschlossen, aufzudrängen. Sein »wirklich kritischer Standpunkt« gegenüber andern Leuten besteht dann, ihnen beharrlich Dinge unterzuschieben, die sie nie gesagt, und die Herrn Dührings eigenstes Fabrikat sind. Seine breiten Bettelsuppen über Spießbürgerthemata, wie der Wert des Lebens und die beste Art des Lebensgenusses, sind von einer Phllisterhaftigkeit, die seinen Zorn gegen Goethes Faust erklärlich macht. Es war allerdings unverzeihlich von Goethe, den unmoralischen Faust zum Helden zu machen und nicht den ernsten Wirklichkeitsphilosophen Wagner. - Kurz, die Wirklichkeitsphilosophie, alles in allem genommen, erweist sich, mit Hegel zu reden, als »der seichteste Abkläricht des deutschen Aufkläricht«, ein Abkläricht, dessen Dünnheit und durchsichtige Gemeinplätzlichkeit verdickt und getrübt wird nur durch die eingerührten orakelhaften Redebrocken. Und wenn wir mit dem Buch zu Ende sind, so sind wir genauso gescheit wie vorher und zu dem Geständnis gezwungen, daß die »neue Denkweise«, die »von Grund aus eigentümlichen Ergebnisse und Anschauungen« und die »systemschaffenden Gedanken« uns zwar verschiednen neuen Unsinn |135| vorgeführt haben, aber auch nicht eine Zeile, aus der wir hätten etwas lernen können. Und dieser Mensch, der seine Künste und seine Waren unter Pauken- und Trompetenschall anpreist trotz dem ordinärsten Marktschreier, und hinter dessen großen Worten nichts, aber auch rein gar nichts ist - dieser Mensch unterfängt sich, Leute wie Fichte, Schelling und Hegel, deren kleinster noch ein Riese ist ihm gegenüber, als Scharlatans zu bezeichnen. Scharlatan in der Tat - aber wer?


Fußnoten von Friedrich Engels

(1) Seit ich obiges niederschrieb, scheint es sich bereits bestätigt zu haben. Nach den neuesten, von Mendelejew und Boguski mit genaueren Apparaten angestellten Untersuchungen zeigten alle echten Gase ein veränderliches Verhältnis zwischen Druck und Volumen; der Ausdehnungskoeffizient war bei Wasserstoff bei allen bisher angewandten Druckstärken positiv (das Volumen nahm langsamer ab, als der Druck zunahm); bei der atmosphärischen Luft und den andern untersuchten Gasen fand sich für jedes ein Nullpunkt des Drucks, so daß bei geringerem Druck jener Koeffizient positiv, bei größerem negativ war. Das bisher noch immer praktisch brauchbare Boylesche Gesetz wird also einer Ergänzung durch eine ganze Reihe von Spezialgesetzen bedürfen. (Wir wissen jetzt - 1885 - auch, daß es überhaupt keine »echten« Gase gibt. Sie sind alle auf den tropfbar-flüssigen Zustand reduziert worden.) <=

(2) Diese Ableitung der modernen Gleichheitsvorstellungen aus den ökonomischen Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft ist zuerst dargelegt von Marx im »Kapital«. <=


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