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Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/ Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 20. Berlin/DDR. 1962. S. 597-603.
1. Korrektur
Erstellt am 10.10.1999

Friedrich Engels

Taktik der Infanterie aus den materiellen Ursachen abgeleitet

1700-1870


|597| Im 14. Jahrhundert wurden Schießpulver und Feuerwaffen in West- und Mitteleuropa bekannt, und jedes Schulkind weiß, daß diese rein technischen Fortschritte die ganze Kriegführung revolutionierten. Aber diese Revolution ging sehr langsam vor sich. Die ersten Feuerwaffen waren sehr roh, namentlich die Handbüchsen. Und wenn auch schon früh eine Menge einzelner Verbesserungen erfunden wurden - der gezogene Lauf, die Hinterladung, das Radschloß etc., so dauerte es doch über 300 Jahre, bis Ende des 17. Jahrhunderts ein Gewehr zustande gebracht wurde, das zur Bewaffnung der gesamten Infanterie geeignet war.

Das Fußvolk des 16. und 17. Jahrhunderts bestand teils aus Pikenträgern, teils aus Büchsenschützen. Anfangs waren die Pikeniere zur Entscheidung mit der blanken Waffe bestimmt, während das Feuer der Schützen die Verteidigung übernahm. Die Pikeniere fochten deshalb in tiefen Massen, ähnlich der altgriechischen Phalanx; die Schützen standen acht bis zehn Mann tief, weil soviel nacheinander abfeuern konnten, ehe einer geladen hatte; wer schußfertig war, sprang vor, feuerte und ging dann ins letzte Glied, um wieder zu laden.

Die allmähliche Vervollkommnung der Feuerwaffen änderte dies Verhältnis. Das Luntenschloßgewehr wurde endlich so rasch ladbar, daß nur noch fünf Mann, also Rotten von fünf Mann Tiefe, zur Unterhaltung eines ununterbrochenen Feuers erforderlich waren. Man konnte also jetzt mit derselben Anzahl Musketiere eine fast doppelt so lange Front besetzen wie vorher. Die Pikeniere wurden, wegen der weit verheerender gewordenen Wirkung des Geschützfeuers auf tiefe Massen, jetzt auch nur in sechs bis acht Gliedern aufgestellt, und so näherte sich die Schlachtordnung allmählich der Linienstellung, in der die Entscheidung nunmehr durch das Gewehrfeuer herbeigeführt wurde, und die Pikeniere nicht mehr zum Angriff, sondern nur noch zur Deckung der Schützen gegen Reiterei bestimmt blieben. |598| Am Ende dieser Periode finden wir eine Schlachtordnung in zwei Treffen und einer Reserve, jedes Treffen in Linie aufmarschiert, meist 6 Mann tief, Geschütze und Reiterei teils in den Intervallen der Bataillone, teils auf den Flügeln; jedes Infanteriebataillon bestehend aus höchstens 1/3 Pikenieren und mindestens 2/3 Musketieren.

Ende des 17. Jahrhunderts kam endlich das Steinschloßgewehr mit Bajonett und die Ladung vermittelst fertiger Patronen zustande. Damit verschwand die Pike endgültig aus der Infanterie. Das Laden wurde weniger zeitraubend, das raschere Feuer schützte sich selbst, das Bajonett ersetzte für den Notfall die Pike. Somit konnte die Tiefe der Linie von sechs auf vier, später auf drei, endlich hier und da auf zwei Mann verringert werden; die Linie verlängerte sich also, bei gleicher Anzahl der Leute, immer mehr, es kamen immer mehr Gewehre gleichzeitig in Tätigkeit. Aber diese langen, dünnen Linien wurden damit auch immer unhandlicher, sie konnten nur auf ebnem, hindernisfreiem Gelände sich mit Ordnung, und dazu nur langsam, 70-75 Schritt in der Minute, bewegen; und in der Ebene grade boten sie, namentlich auf den Flanken, der Reiterei Aussicht auf erfolgreichen Angriff. Teils um diese Flanken zu schützen, teils um die entscheidungbringende Feuerlinie stärker zu machen, zog man die Reiterei ganz auf die Flügel, so daß die eigentliche Schlachtlinie nur aus dem Fußvolk mit seinen leichten Bataillonsgeschützen bestand. Das äußerst plumpe, schwere Geschütz stand vor den Flügeln und veränderte während der Schlacht höchstens einmal seine Stellung. Das Fußvolk war in zwei Treffen aufmarschiert, deren Flanken durch Infanterie in Hakenstellung gedeckt wurde, so daß seine Aufstellung ein einziges, sehr langes, hohles Viereck bildete. Diese unbehülfliche Masse, wenn sie nicht als Ganzes sich bewegen sollte, war nur in drei Teile, Zentrum und beide Flügel zerlegbar, und die ganze Teilbewegung bestand darin, den einen Flügel, der den des Feindes überragte, zur Umgehung vorzuschieben, während man den andern drohend zurückhielt, um den Feind an einer entsprechenden Frontveränderung zu hindern. Die Gesamtaufstellung während der Schlacht zu ändern war so zeitraubend und bot dem Gegner solche Blößen, daß der Versuch fast immer der Niederlage gleichkam. Der ursprüngliche Aufmarsch blieb also für die ganze Schlacht maßgebend, und die Entscheidung fiel, sobald das Fußvolk einmal im Feuer war, mit Einem unwiederbringlichen Schlag. Und diese ganze, von Friedrich II. aufs höchste entwickelte Kampfweise war das unvermeidliche Ergebnis zweier zusammenwirkender materieller Faktoren: des Menschenmaterials der damaligen stramm exerzierenden, aber ganz unzuverlässigen, nur mit dem Stock zusammengehaltenen, teilweise aus feind- |599| lichen Kriegsgefangnen gepreßten, fürstlichen Werbeheere, und zweitens des Waffenmaterials - der unbehülflichen schweren Geschütze und der glattläufigen, rasch, aber schlecht schießenden Steinschloßflinte mit Bajonett.

Diese Kampfweise hielt vor, solange beide Gegner in Beziehung auf Menschenmaterial und Bewaffnung auf demselben Stand blieben, und es daher jedem von ihnen paßte, sich an die vorgeschriebne Regel zu binden. Als aber der amerikanische Unabhängigkeitskrieg losbrach, traten den wohlgedrillten Werbesoldaten plötzlich Insurgentenhaufen entgegen, die zwar nicht exerzieren, aber desto besser schießen konnten, die großenteils sichertreffende Büchsen führten und die in eigner Sache kämpften, also nicht desertierten. Diese Insurgenten taten den Engländern nicht den Gefallen, in freier Ebene, nach allen hergebrachten Regeln der kriegerischen Etikette das bekannte Schlachtmenuett im langsamen Schritt mit ihnen abzutanzen, sie zogen den Gegner in dichte Wälder, wo seine langen Marschkolonnen wehrlos dem Feuer zerstreuter, unsichtbarer Schützen ausgesetzt waren, sie benutzten, in losen Schwärmen formiert, jede Terraindeckung, um dem Feind Abbruch zu tun, und blieben dazu, bei ihrer großen Beweglichkeit, seinen schwerfälligen Massen doch immer unerreichbar. Das Feuergefecht zerstreuter Schützen, das schon bei Einführung der Handfeuerwaffen eine Rolle gespielt hatte, zeigte sich hier also, in gewissen Fällen, namentlich im kleinen Krieg, der Linienordnung überlegen.

Paßten schon die Soldaten der europäischen Werbeheere nicht zum zerstreuten Gefecht, so noch weniger ihre Bewaffnung. Man stemmte zwar nicht mehr das Gewehr beim Abfeuern gegen die Brust, wie die alten Luntenschloß-Musketiere getan; man schlug an die Achsel an, wie jetzt; aber von Zielen war noch immer keine Rede, da bei der ganz geraden, in der Verlängerung des Laufs liegenden Schäftung das Auge nicht an den Lauf gelegt werden konnte. Erst 1777 wurde in Frankreich die geschweifte Schäftung des Jagdgewehrs auch beim Infanteriegewehr adoptiert, und damit ein wirksames Tirailleurfeuer möglich. Eine zweite zu erwähnende Verbesserung war die, Mitte des 18. Jahrhunderts von Gribeauval konstruierte leichtere und doch solide Lafettierung der Geschütze, wodurch allein die der Artillerie später zugemutete größere Beweglichkeit möglich wurde.

Diese beiden technischen Fortschritte auf dem Schlachtfeld auszunutzen, war der französischen Revolution vorbehalten. Sie stellte, als das verbündete Europa sie angriff, der Regierung die ganze waffenfähige Nation zur Verfügung. Aber diese Nation hatte nicht die Zeit, sich die künstlichen |600| Manöver der Lineartaktik so weit einzuüben, daß sie der altgedienten preußischen und österreichischen Infanterie in gleicher Formation entgegentreten konnte. In Frankreich aber fehlten nicht nur die amerikanischen Urwälder, sondern auch die praktisch grenzenlose Gebietsausdehnung für den Rückzug. Es galt, den Feind zwischen der Grenze und Paris zu schlagen, also ein bestimmtes Gebiet zu verteidigen, und das konnte schließlich nur in offener Massenfeldschlacht geschehn. Es galt also, neben dem Schützenschwarm noch eine andre Form zu finden, in der die schlecht geübten französischen Massen den stehenden Heeren Europas mit einiger Aussicht auf Erfolg entgegentreten konnten. Die Form fand man in der bereits für gewisse Fälle, aber meist nur auf dem Exerzierplatz angewandten, geschlossenen Kolonne. Die Kolonne war leichter in Ordnung zu halten als die Linie; selbst wenn sie in einige Unordnung kam, leistete sie als dichter Haufe immer noch - wenigstens passiven - Widerstand; sie war leichter zu handhaben, blieb mehr in der Hand des Führers und konnte sich rascher bewegen; die Marschgeschwindigkeit stieg auf 100 und mehr Schritt in der Minute. Was aber das wichtigste Ergebnis war: die Anwendung der Kolonne als ausschließlicher Kampfform der Massen gestattete, das schwerfällige, einheitliche Ganze der alten Linienschlachtordnung in einzelne, mit einer gewissen Selbständigkeit begabte, ihre allgemeine Instruktion den vorgefundnen Umständen anpassende Teile zu zerlegen, deren jeder aus allen drei Waffen zusammengesetzt sein konnte; sie war elastisch genug, um jede nur mögliche Kombination der Truppenverwendung zuzulassen; sie gestattete die, noch von Friedrich II. streng verbotene, Benutzung von Dörfern und Gehöften, die von nun an in jeder Schlacht die Hauptstützpunkte bildeten; sie war in jedem Terrain verwendbar; und sie konnte endlich der alles auf einen Wurf setzenden Linientaktik mit einer Kampfweise entgegentreten, in der die Linie durch Schützenschwärme und durch allmähliche, das Gefecht hinhaltende Verwendung der Truppen ermattet und so weit aufgerieben wurde, daß sie dem Stoß der bis zuletzt in Reserve gehaltenen frischen Streitkräfte nicht mehr standhielt. Während die Linienstellung auf allen Punkten gleich stark war, konnte der in Kolonnen fechtende Gegner einen Teil der Linie durch Scheinangriffe schwacher Kräfte beschäftigen, und seine Hauptmassen zum Angriff auf den entscheidenden Punkt der Stellung konzentrieren. - Das Feuergefecht wurde nun vorzugsweise durch aufgelöste Schützenschwärme geführt, während die Kolonnen den Bajonettangriff durchführen sollten. Es war also wieder ein ähnliches Verhältnis wie zwischen Schützenschwärmen und Pikeniermassen am Anfang des 16. Jahrhunderts, nur daß die modernen Kolonnen sich jeden |601| Augenblick in Schützen auflösen, und diese sich ebenso wieder in Kolonnen zusammenziehn konnten.

Die neue Kampfweise, deren Ausnutzung durch Napoleon auf die höchste Spitze entwickelt wurde, war der alten so überlegen, daß diese rettungslos und hülflos vor ihr in Stücke brach - zuletzt bei Jena, wo die unbehülflichen, größtenteils zum zerstreuten Gefecht unverwendbaren, langsamen preußischen Linien vor dem französischen Tirallleurfeuer, dem sie mit Pelotonfeuer antworten mußten, buchstäblich zerschmolzen. Wenn aber auch die Linienschlachtordnung erlag, so doch keineswegs die Linie als Gefechtsformation. Wenige Jahre nachdem die Preußen mit ihren Linien bei Jena so schlechte Geschäfte gemacht, führte Wellington seine Engländer den französischen Kolonnen in Linie gegenüber und schlug sie regelmäßig. Aber Wellington hatte eben die ganze französische Taktik angenommen, nur mit der Ausnahme, daß er seine geschlossene Infanterie, statt in Kolonne, in Linie fechten ließ. Er hatte dabei den Vorteil, im Feuer sämtliche Gewehre, und in der Attacke sämtliche Bajonette gleichzeitig zur Verwendung zu bringen. In dieser Schlachtordnung haben die Engländer bis vor wenigen Jahren gefochten und sowohl im Angriff (Albuera) wie in der Verteidigung (Inkerman) bedeutender Überzahl gegenüber Vorteile errungen. Bugeaud, der diesen englischen Linien gegenübergestanden hatte, zog sie der Kolonne bis zuletzt vor.

Bei alledem war das Infanteriegewehr herzlich schlecht, so schlecht, daß man damit auf 100 Schritt nur selten einen einzelnen Mann, und auf 300 Schritt ebenso selten ein ganzes Bataillon treffen konnte. Als daher die Franzosen nach Algier kamen, erlitten sie von den langen Flinten der Beduinen starke Verluste auf Entfernungen, auf die ihre Gewehre wirkungslos waren. Hier konnte nur die gezogene Büchse helfen; aber grade in Frankreich hatte man sich, wegen ihrer langsamen Ladbarkeit und raschen Verschleimung, stets gegen die Büchse, selbst als Ausnahmewaffe, gesträubt. Jetzt aber, als das Bedürfnis einer leicht ladbaren Büchse sich geltend machte, wurde es auch sofort erfüllt. Den Vorarbeiten Delvignes folgten Thouvenins Dornbüchse und Miniés Expansionsgeschoß, welches letztere das gezogne Gewehr dem glattläufigen in bezug auf Ladbarkeit vollkommen gleichstellte; so daß von da an die ganze Infanterie mit weittragenden und genau schießenden gezognen Gewehren bewaffnet werden konnte. Aber ehe der gezogne Vorderlader sich die ihm angemeßne Taktik schaffen konnte, wurde er schon verdrängt durch die neueste Kriegswaffe, den gezognen Hinterlader, mit dem gleichzeitig sich die gezognen Geschütze zu immer höherer Kriegsbrauchbarkeit entwickelten.

|602| Die durch die Revolution geschaffne Bewaffnung der ganzen Nation hatte bald bedeutende Einschränkungen erfahren. Man hob nur einen Teil der dienstpflichtigen jungen Leute vermittelst Auslosung zum Dienst im stehenden Heer aus und bildete höchstens aus einem größeren oder geringern Teil der übrigen Bürger eine ungeübte Nationalgarde. Oder aber, wo man die allgemeine Dienstpflicht wirklich streng durchführte, bildete man höchstens ein nur wenige Wochen unter den Fahnen geübtes Milizheer, wie in der Schweiz. Finanzielle Rücksichten nötigten zur Wahl zwischen Konskription oder Milizheer. Nur ein Land Europas, und noch dazu eins der ärmsten, versuchte allgemeine Wehrpflicht und stehende Armee miteinander zu vereinigen; es war dies Preußen. Und wenn auch die allgemeine Verpflichtung zum Dienst im stehenden Heer nie anders als annähernd durchgeführt wurde, ebenfalls aus zwingenden Finanzrücksichten, so stellte doch das preußische Landwehrsystem der Regierung eine so bedeutende Anzahl geübter und in fertigen Cadres organisierter Leute zur Verfügung, daß Preußen jedem andern Land von gleicher Volkszahl entschieden überlegen war.

Im Deutsch-Französischen Kriege 1870 erlag das französische Konskriptionssystem dem preußischen Landwehrsystem. In diesem Krieg waren aber auch zum erstenmal beide Teile mit Hinterladern bewaffnet, während die reglementarischen Formen, in denen die Truppen sich bewegten und schlugen, im wesentlichen dieselben geblieben waren, wie zur Zeit des alten Steinschloßgewehrs. Höchstens, daß man die Tirailleurschwärme etwas dichter machte. Im übrigen fochten die Franzosen noch immer in den alten Bataillonskolonnen, zuweilen auch in Linie, während bei den Deutschen durch Einführung der Kompaniekolonne wenigstens ein Versuch gemacht war, eine der neuen Waffe angemessenere Kampfform zu finden. So behalf man sich in den ersten Schlachten. Als aber beim Sturm auf Saint-Privat (18. August) drei Brigaden preußischer Garde mit der Kompaniekolonne Ernst zu machen versuchten, zeigte sich die niederschmetternde Gewalt des Hinterladers. Von den fünf am meisten beteiligten Regimentern (15.000 Mann) fielen fast alle Offiziere (176) und 5.114 Mann, also über ein Drittel. Die ganze Garde-Infanterie, die in der Stärke von 28.160 Mann ins Gefecht gerückt war, verlor an jenem Tage 8.230 Mann, worunter 307 Offiziere. Von da an war die Kompaniekolonne als Kampfform gerichtet, nicht minder als die Bataillonsmasse oder die Linie; jeder Versuch wurde aufgegeben, fernerhin irgendwelche geschlossene Trupps dem feindlichen Gewehrfeuer auszusetzen; der Kampf wurde deutscherseits nur noch in jenen dichten Tirailleurschwärmen geführt, in die sich die Kolonnen bisher schon regel- |603| mäßig von selbst unter dem einschlagenden Kugelhagel aufgelöst, die man aber von oben herab als ordnungswidrig bekämpft hatte. Der Soldat war wieder einmal klüger gewesen als der Offizier; die einzige Gefechtsform, die bis jetzt im Feuer des gezognen Hinterladers sich bewährt, hatte er instinktmäßig gefunden und setzte sie trotz des Sträubens der Führer erfolgreich durch. Ebenso wurde nun im Bereich des feindlichen Gewehrfeuers nur noch der Laufschritt angewandt.


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