MLWerke Marx/Engels - Werke Artikel und Korrespondenzen 1885

Seitenzahlen verweisen auf:    Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 21, 5. Auflage 1975, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 238-247.
Korrektur:    1
Erstellt:    20.03.1999

Friedrich Engels

Zur Geschichte der preußischen Bauern

[Einleitung zu Wilhelm Wolffs Broschüre
"Die schlesische Milliarde"]

Nach: Wilhelm Wolff, "Die schlesische Milliarde", Hottingen-Zürich 1886.


|238| Zum Verständnis der folgenden Arbeit Wolffs muß ich einige Worte vorherschicken.

Deutschland, östlich der Elbe und nördlich des Erz- und Riesengebirgs, ist ein den eingedrungenen Slawen in der zweiten Hälfte des Mittelalters entrissenes, von deutschen Kolonisten wieder germanisiertes Land. Die erobernden deutschen Ritter und Barone, denen das Land zugeteilt wurde, taten sich auf als "Gründer" von Dörfern, legten ihr Gebiet in Dorffluren aus, deren jede in eine Anzahl gleich großer Bauergüter oder Hufen abgeteilt wurde. Zu jeder Hufe gehörte ein Hausplatz mit Hof und Garten im Dorf selbst. Diese Hufen wurden unter den herbeigezogenen fränkischen (rheinfränkischen und niederländischen), sächsischen und friesischen Kolonisten durchs Los verteilt; die Kolonisten hatten dafür an den Gründer, d.h. den Ritter oder Baron, sehr mäßige, fest bestimmte Abgaben und Dienste zu leisten. Die Bauern waren, solange sie diese Leistungen entrichteten, erbliche Herren auf ihren Hufen. Dazu hatten sie im Walde des Gründers (des späteren Gutsherrn) dieselben Nutzungsrechte an Holzung, Weide, Eichelmast etc., die die westdeutschen Bauern in ihrer gemeinen Mark besaßen. Die angebaute Dorfflur war dem Flurzwang unterworfen, wurde meist in Winterfeld, Sommerfeld und Brachfeld nach der Dreifelderwirtschaft bebaut; brache und abgeerntete Felder wurden vom Vieh der Bauernschaft und des Gründers gemeinsam beweidet. Alle Dorfangelegenheiten wurden in der Versammlung der Hofgenossen, d.h. der Hufenbesitzer, durch Majoritätsbeschluß erledigt. Die Rechte der adligen Gründer beschränkten sich auf Einziehung der Leistungen und Mitgenuß der Brach- und Stoppelweide, auf den Überschuß des Ertrages der Waldungen und den Vorsitz in der Versammlung der Hofgenossen, die alle persönlich freie Männer waren. Dies war der durchschnittliche Zustand der deutschen Bauern von der Elbe bis nach Ostpreußen und Schlesien. Und dieser Zustand war im ganzen bedeutend vorteilhafter als der gleichzeitige der west- |239| und süddeutschen Bauern, die damals schon in einem heftigen, stets sich erneuernden Kampf um ihre alten ererbten Rechte mit den Feudalherren sich befanden und schon großenteils einer weit drückenderen, ihre persönliche Freiheit bedrohenden oder gar vernichtenden Form der Abhängigkeit verfallen waren.

Das steigende Geldbedürfnis der Feudalherren im 14. und 15. Jahrhundert führte selbstredend auch im Nordosten Versuche zu vertragswidriger Bedrückung und Ausbeutung der Bauern herbei. Aber keineswegs in demselben Maß und demselben Erfolg wie in Süddeutschland. Die Bevölkerung war östlich der Elbe noch dünn, das Ödland noch ausgedehnt; Urbarmachung dieses Ödlands, Ausbreitung der Kultur, Neuanlage von zinsbaren Dörfern blieb hier das sicherste Mittel der Bereicherung auch für den feudalen Grundherrn; dazu kam, daß hier, an der Reichsgrenze gegen Polen, sich schon größere Staaten gebildet hatten: Pommern, Brandenburg, Kursachsen (Schlesien war östreichisch), und daher der Landfriede besser eingehalten, die Fehden und Räubereien des Adels kräftiger unterdrückt wurden als in den zersplitterten Gebieten am Rhein, in Franken und Schwaben; wer aber am meisten unter diesem ewigen Kriegszustand litt, war eben der Bauer.

Nur in der Nachbarschaft unterworfner polnischer oder litauisch-preußischer Dörfer trat schon häufiger der Versuch des Adels hervor, die nach deutschem Hofrecht angesiedelten Kolonisten in dieselbe Leibeigenschaft zu drängen wie die polnischen und preußischen Untertanen. So in Pommern und im preußischen Ordensgebiet, seltner in Schlesien.

Infolge dieser günstigeren Lage blieben die ostelbischen Bauern von der gewaltigen Bewegung der süd- und westdeutschen Bauern im letzten Viertel des 15. und ersten des 16. Jahrhunderts fast unberührt, und als die Revolution von 1525 ausbrach, fand sie nur in Ostpreußen ein schwaches, ohne große Mühe unterdrücktes Echo. Die ostelbischen Bauern ließen ihre rebellierenden Brüder im Stich, und es geschah ihnen, wie sie es verdient hatten. In den Strichen, wo der große Bauernkrieg gewütet hatte, wurden die Bauern jetzt ohne weiteres zu Leibeignen gemacht, ungemeßnen, nur von der Willkür des Grundherrn abhängigen Frondiensten und Lasten unterworfen, und ihre freie Mark einfach in herrschaftliches Eigentum verwandelt, auf dem sie nur noch die Nutzungen behielten, die ihnen der Grundherr in seiner Gnade zuließ. Dieser selbe Idealzustand der feudalen Grundherrschaft, nach dem der deutsche Adel das ganze Mittelalter hindurch vergebens getrachtet und den er jetzt, beim Verfall der Feudalwirtschaft, endlich erreicht, wurde nun auch allmählich auf die ostelbischen Länder ausgedehnt. Nicht nur wurden die den Bauern kontraktlich zu- |240| stehenden Nutzungsrechte im herrschaftlichen Wald, soweit sie nicht schon früher beschnitten, in widerrufbare Gnadenbewilligungen des Grundherrn umgewandelt; nicht nur wurden die Fronden und Zinse widerrechtlich erhöht, sondern es wurden auch neue Lasten eingeführt wie die Laudemien (Abgaben an den Grundherrn bei Sterbfall des bäuerlichen Hofbesitzers), die als Merkmale der Leibeigenschaft galten, oder altherkömmlichen, unverfänglichen Leistungen wurde der Charakter von solchen aufgeprägt, die nur Leibeigne, nicht aber freie Männer leisten. In weniger als hundert Jahren waren so die freien ostelbischen Bauern erst tatsächlich und bald darauf auch juristisch in Leibeigne verwandelt.

Der Feudaladel verbürgerlichte sich inzwischen mehr und mehr. Er wurde in stets steigendem Maß Schuldner der städtischen Geldkapitalisten, und Geld wurde damit sein dringendes Bedürfnis. Aber aus dem Bauer, seinem Leibeignen, war kein Geld herauszuschlagen, sondern zunächst nur Arbeit oder Ackerbauprodukt, und auch von diesem letzteren ergaben die unter den erschwerendsten Umständen bebauten Bauerhöfe nur ein Minimum über den allerkärglichsten Unterhalt der arbeitenden Besitzer hinaus. Daneben aber lagen die breitgedehnten, mit höriger oder leibeigner Fronarbeit unter verständiger Aufsicht für herrschaftliche Rechnung bebauten, einträglichen Landgüter der Klöster. Diese Art der Bewirtschaftung hatte der kleinere Adel bisher fast nie, der mächtigere und die Fürsten nur ausnahmsweise auf ihren Domänen betreiben können. Jetzt aber machte einerseits der hergestellte Landfriede die Großkultur überall möglich, während andererseits das wachsende Geldbedürfnis des Adels sie ihm mehr und mehr aufzwang. Die Bewirtschaftung großer Güter durch Fronarbeit leibeigner Bauern für Rechnung des Grundherrn wurde so allmählich die Einkommenquelle, die den Adel für das unzeitgemäß gewordne Raubrittertum schadlos halten mußte. Aber woher die nötige Bodenfläche nehmen? Der Adlige war zwar Grundherr über ein größeres oder geringeres Gebiet, aber dies war mit wenigen Ausnahmen ganz ausgetan an erbliche Zinsbauern, die an ihren Hofstellen und Hufen sowie an den Markberechtigungen ganz ebensoviel Recht hatten - solange sie die bedungnen Leistungen darbrachten - wie der gnädige Herr selbst. Hier mußte abgeholfen werden, und dazu tat vor allem die Verwandlung der Bauern in Leibeigne not. Denn wenn auch die Verjagung leibeigner Bauern von Haus und Hof nicht minder ein Rechtsbruch und eine Gewalttat war wie die freier Zinsleute, so ließ sie sich doch vermittelst des eingerißnen römischen Rechts weit leichter beschönigen. Kurz, nach gelungner Verwandlung der Bauern in Leibeigne jagte man die erforderliche Anzahl Bauern fort oder setzte sie als Kotsassen, |241| Taglöhner mit Hütte und Gärtchen, wieder auf herrschaftliches Gebiet. Wenn die ehemaligen festen Burgen des Adels seinen neuen, mehr oder weniger offnen Landschlössern wichen, so wichen ebendeshalb in weit größerem Maß die Höfe ehemals freier Bauern den elenden Hütten leibeigner Dienstleute.

War das herrschaftliche Wirtschaftsgut - das Dominium, wie es in Schlesien heißt - einmal eingerichtet, so kam es nur noch darauf an, die Arbeitskraft der Bauern zu seiner Bearbeitung in Bewegung zu setzen. Und hier zeigte sich der zweite Vorteil der Leibeigenschaft. Die früheren, kontraktlich festgesetzten Frondienste der Bauern waren keineswegs für diesen Zweck bemessen. Sie beschränkten sich in der großen Mehrzahl auf Dienste im öffentlichen Interesse - Wege- und Brückenbau usw. -, Bauarbeit an der herrschaftlichen Burg, Arbeiten der Weiber und Mädchen auf der Burg in verschiedenen Industriezweigen und persönlichen Gesindedienst. Sobald aber der Bauer in einen Leibeignen verwandelt und dieser durch die römischen Juristen dem römischen Sklaven gleichgestellt war, pfiff der gnädige Herr aus einer ganz andern Tonart. Unter Zustimmung der Juristen auf der Gerichtsbank forderte er jetzt von den Bauern ungemeßne Dienste, soviel, wann und wo es ihm beliebte. Der Bauer mußte für den Gutsherrn fronden, fahren, pflügen, säen und ernten, sobald er dazu aufgeboten, ob auch sein eignes Feld vernachlässigt wurde und seine eigne Ernte verregnete. Und ebenso wurde ihm sein Kornzins oder Geldzins bis auf die äußersten Grenzen der Möglichkeit hinaufgeschraubt.

Damit nicht genug. Der nicht minder edle Landesfürst, der östlich der Elbe ja überall vorhanden war, brauchte ebenfalls Geld, viel Geld. Dafür, daß er dem Adel erlaubte, seine Bauern zu unterjochen, erlaubte ihm der Adel, dieselben Bauern mit Staatssteuern zu belegen - der Adel selbst war ja steuerfrei! Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, sanktionierte derselbe Landesfürst die eingerissene Verwandlung des früheren Vorsitzrechts des Grundherrn in dem - längst beseitigten - freien Hofgericht der Bauern in das Recht der Patrimonialgenchtsbarkeit und Gutspolizei, wonach der Gutsherr nicht nur Polizeichef, sondern auch alleiniger Richter über seine Bauern war - sogar in eigner Sache -, so daß der Bauer den Gutsherrn nur beim Gutsherrn selbst verklagen konnte. Damit war dieser Gesetzgeber, Richter und Vollstrecker in einer Person und auf seinem Gut vollständig unbeschränkter Herr.

Diese infamen Zustände, die nicht einmal in Rußland ihresgleichen finden - denn dort hatte der Bauer doch seine sich selbst regierende Gemeinde -, erreichten ihren Gipfelpunkt in der Zeit vom Dreißigjährigen Kriege bis |242| zur rettenden Niederlage von Jena. Die Drangsalierungen des Dreißigjährigen Kriegs erlaubten dem Adel, die Unterjochung der Bauern zu vollenden; die Verödung zahlloser Bauernstellen erlaubte ihre ungehinderte Vereinigung mit dem Dominium des Ritterguts; die Wiederansässigmachung der von der Kriegsverwüstung gewaltsam ins Strolchtum getriebnen Bevölkerung bot ihm den Vorwand, sie erst recht als Leibeigne an die Scholle zu fesseln. Aber auch das nur auf kurze Zeit. Denn kaum waren in den nächsten fünfzig Jahren die furchtbaren Wunden des Kriegs einigermaßen vernarbt, die Felder wieder angebaut, die Bevölkerung gewachsen, so erstand von neuem der Hunger der edlen Grundherrn nach Bauernland und Bauernarbeit. Das herrschaftliche Dominium war nicht groß genug, um all die Arbeit aufzusaugen, die noch aus den Leibeignen herauszuschlagen war - dies Herausschlagen hier im buchstäblichsten Sinn. Das System, Bauern zu Kotsassen, leibeignen Taglöhnern zu degradieren, hatte sich vortrefflich bewährt. Von Anfang des achtzehnten Jahrhunderts an kommt es immer mehr in Schwung; es heißt nun: "Bauernlegen". Man "legt" soviel Bauern man kann, je nach Umständen; zuerst läßt man noch soviel übrig, als zur Leistung der Spanndienste nötig, und verwandelt den Rest in Kotsassen (Dreschgärtner, Häusler, Instleute und wie sie sonst heißen), die für eine Hütte mit kleinem Kartoffelstück jahraus, jahrein, gegen einen miserablen Taglohn in Korn und nur sehr wenig in Geld, auf dem Gut schanzen müssen. Wo der gnädige Herr reich genug ist, sein eignes Zugvieh stellen zu können, "legt" man auch die noch übrigen Bauern und schlägt ihre Hufen zum herrschaftlichen Wirtschaftsgut. Auf diese Weise ist der gesamte große Grundbesitz des deutschen Adels, namentlich aber des ostelbischen, aus gestohlenem Bauernland zusammengebracht, und wenn er den Räubern ohne alle Entschädigung wieder abgenommen wird, so geschieht ihnen nicht einmal ihr volles Recht. Eigentlich sollten sie noch dazu Entschädigung zahlen.

Allmählich merkten die Landesherren, daß dies System, so nützlich es für den Adel war, keineswegs in ihrem Interesse las. Die Bauern hatten Staatssteuern gezahlt, eh sie gelegt worden; von ihren mit dem steuerfreien Dominium zusammengeworfnen Hufen erhielt der Staat keinen Deut und kaum einen Heller von den neuangesetzten Kotsassen. Ein Teil der gelegten Bauern wurde ohnehin, als überflüssig für die Bewirtschaftung des Guts, einfach weggejagt und somit frei, d.h. vogelfrei gemacht. Die Bevölkerung des platten Landes nahm ab, und seitdem der Landesfürst anfing, sein kostspieliges Werbeheer auf dem wohlfeilem Weg der Aushebung unter den Bauern zu ergänzen, war ihm dies keineswegs gleichgültig. So |243| finden wir namentlich in Preußen im ganzen 18. Jahrhundert Verordnungen über Verordnungen, die dem Bauernlegen Einhalt tun sollen; aber es geht ihnen wie neunundneunzig Hundertsteln der unermeßlichen Makulatur, die seit den Kapitularien Karls des Großen von deutschen Regierungen zusammengeschrieben worden: sie galten eben nur auf dem Papier, der Adel ließ sich nur wenig stören, das Bauernlegen dauerte fort.

Selbst das furchtbare Exempel, das die große Revolution in Frankreich am eigensinnigen Feudaladel statuierte, schreckte nur für einen Augenblick. Es blieb alles beim alten, und was Friedrich II. nicht gekonnt, das konnte am allerwenigsten sein schwacher, kurzsichtiger Neffe Friedrich Wilhelm III. Da kam die Rache. Am 14. Oktober 1806 wurde der ganze preußische Staat an einem Tage bei Jena und Auerstedt in Stücke geschlagen, und der preußische Bauer hat alle Ursache, diesen Tag und den 18. März 1848 mehr zu feiern als alle preußischen Siege von Mollwitz bis Sedan. Jetzt fing der bis über die russische Grenze zurückgejagten preußischen Regierung endlich an ein schwaches Licht aufzudämmern, daß man die freien, grundbesitzenden französischen Bauernsöhne nicht mit den Söhnen leibeigner, täglich der Verjagung von Haus und Hof ausgesetzter Fronbauern besiegen könne; jetzt endlich merkte sie, daß der Bauer sozusagen auch ein Mensch ist. Jetzt sollte eingeschritten werden.

Aber kaum war der Friede geschlossen und Hof und Regierung nach Berlin zurückgekehrt, so schmolzen auch die edlen Vorsätze wieder wie Eis in der Märzsonne. Das vielberühmte Edikt vom 9. Oktober 1807 hatte zwar den Namen der Leibeigenschaft oder Erbuntertänigkeit (und auch dies erst von Martini 1810 an!) auf dem Papier aufgehoben, in der Wirklichkeit aber fast alles beim alten gelassen. Dabei blieb's; der ebenso zaghafte wie bornierte König ließ sich nach wie vor vom bauernplündernden Adel leiten, so sehr, daß 1808-1810 vier Verordnungen erschienen, die den Gutsherren in einer Reihe von Fällen das Bauernlegen wieder gestatteten - im Widerspruch mit dem Edikt von 1807. Erst als der Krieg Napoleons gegen Rußland bereits in Sicht war, erinnerte man sich wieder, daß man der Bauern bedürfen werde, und erließ das Edikt vom 14. September 1811, wodurch den Bauern und Grundherren empfohlen wurde, sich innerhalb zwei Jahren gütlich über Ablösung der Fronden und Lasten sowie des gutsherrlichen Obereigentums auseinanderzusetzen, indem nachher eine königliche Kommission diese Auseinandersetzung nach bestimmten Regeln zwangsweise vollführen werde. Als Hauptregel galt, daß der Bauer gegen Abtretung von einem Drittel seines Grundbesitzes (oder dessen Geldwert) in einen freien Eigentümer des ihm dann noch bleibenden Stücks |244| verwandelt werden sollte. Aber selbst diese, dem Adel so enorm vorteilhafte Ablösung blieb Zukunftsmusik. Denn der Adel hielt zurück, um noch mehr zu erlangen, und nach Verlauf der zwei Jahre war Napoleon wieder im Land.

Kaum war dieser - unter fortwährenden Zukunftsverheißungen von Konstitution und Volksvertretung von selten des angstvollen Königs - definitiv aus dem Land gejagt, so waren alle schönen Zusagen wieder vergessen. Am 29. Mai 1816 schon - noch nicht ein Jahr nach dem Sieg von Waterloo - wurde eine Deklaration des Edikts von 1811 erlassen, die schon ganz anders lautete. Die Ablösbarkeit der Feudallasten war hier nicht mehr die Regel, sondern die Ausnahme: sie sollte nur gelten für solche in den Grundsteuerkatastern veranschlagte (also größere) Ackergüter, die bereits 1749 in Schlesien, 1752 in Ostpreußen, 1763 in Brandenburg und Pommern (1) und 1774 in Westpreußen mit bäuerlichen Wirten besetzt gewesen! Auch durften einige Frondienste bei Saat und Ernte beibehalten werden. Und als endlich 1817 mit den Ablösungskommissionen Ernst gemacht wurde, ging die Agrargesetzgebung viel rascher rückwärts als die Agrarkommissionen vorwärts. Am 7. Juni 1821 erfolgte eine neue Ablösungsordnung, wodurch die Beschränkung der Ablösungsfähigkeit auf größere Bauernhöfe, sogenannte Ackernahrungen, neuerdings eingeschärft, und die Verewigung der Frondienste und andrer Feudallasten für die Inhaber von kleineren Wirtschaften - Kotsassen, Häusler, Dreschgärtner, kurz alle angesiedelten Taglöhner - ausdrücklich festgestellt wurde. Dies blieb von nun an Regel. Erst 1845 wurde ausnahmsweise für Sachsen und Schlesien die Ablösung auch dieser Art Lasten anders als durch gegenseitige Einwilligung von Gutsherr und Bauer - wozu selbstredend kein Gesetz erforderlich - möglich gemacht. Ferner wurde der Kapitalbetrag, womit die in Geld oder Kornrente umgewandelten Dienste ein für allemal abgekauft werden konnten, auf das Fünfundzwanzigfache der Rente festgesetzt, und sollten die Abzahlungen nur in Summen von mindestens 100 Talern auf einmal erfolgen; während schon 1809 den Bauern auf den Staatsdomänen Abkauf zum zwanzigfachen Rentenbetrag gestattet war. Kurzum, die vielberühmte aufgeklärte Agrargesetzgebung des "Staats der |245| Intelligenz" hatte nur ein Bestreben: vom Feudalismus alles zu retten, was noch zu retten war.

Das praktische Ergebnis entsprach diesen jämmerlichen Maßregeln. Die Agrarkommissionen verstanden die wohlwollenden Absichten der Regierung vollkommen und, wie im einzelnen von Wolff drastisch geschildert, sorgten sie dafür, daß bei den Ablösungen der Bauer zugunsten des Adligen gehörig geprellt wurde. Von 1816 bis 1848 wurden abgelöst 70.582 bäuerliche Eigentümer mit einem Gesamtgrundbesitz von 5.158.827 Morgen; sie machten 6/7 aller Pflichtigen größeren Bauern aus. Dagegen wurden von den kleineren Stellenbesitzern nur 289.651 abgelöst (davon über 228.000 in Schlesien, Brandenburg und Sachsen). Die Zahl der insgesamt abgelösten jährlichen Diensttage betrug: an Spanndiensttagen: 5.978.295; an Handdiensttagen: 16.869.824. Dafür erhielt der hohe Adel eine Vergütung wie folgt: an Kapitalabzahlung 18.544.766 Taler; an Geldrenten jährlich 1.599.992 Taler; an Roggenrenten 260.069 Scheffel jährlich; endlich an abgetretnem Bauernland 1.533.050 Morgen.(2) Außer den sonstigen Entschädigungen erhielten die ehemaligen Grundherren also ein volles Drittel des bisherigen Bauernlandes!

Das Jahr 1848 öffnete endlich den ebenso bornierten wie eingebildeten preußischen Krautjunkern die Augen. Die Bauern - namentlich in Schlesien, wo das Latifundiensystem und die ihm entsprechende Herabdrückung der Bevölkerung zu taglöhnernden Kotsassen am stärksten entwickelt war - stürmten die Schlösser, verbrannten die schon abgeschlossenen Ablösungsurkunden und zwangen die gnädigen Herren zu schriftlichem Verzicht auf alle ferneren Leistungen. Diese Exzesse - auch in den Augen der damals herrschenden Bourgeoisie ruchlos - wurden allerdings mit Militärgewalt unterdrückt und streng geahndet; aber das sah nun auch der hirnloseste Junkerschädel ein: Die Frondienste waren unmöglich geworden, lieber gar keine als solche von diesen rebellischen Bauern! Jetzt kam es nur noch darauf an, zu retten, was noch zu retten war; und der grundbesitzende Adel hatte wirklich die Unverschämtheit, für diese unmöglich gewordnen Leistungen Entschädigung zu verlangen. Und kaum saß die Reaktion wieder einigermaßen fest im Sattel, so erfüllte sie diesen Wunsch.

Zunächst jedoch kam noch das Gesetz vom 9. Oktober 1848, welches alle schwebenden Ablösungsverhandlungen und daraus entstandnen Prozesse sowie eine ganze Reihe andrer Prozesse zwischen Gutsherren und Bauern sistierte. Hiermit war also die ganze vielgepriesene Agrargesetzgebung |246| von 1807 an verurteilt. Dann aber, sobald die Berliner sogenannte Nationalversammlung glücklich gesprengt und der Staatsstreich gelungen war, hielt sich das feudal-bürokratische Ministerium Brandenburg-Manteuffel für stark genug, um dem Adel einen tüchtigen Schritt entgegenzukommen. Es erließ die provisorische Verordnung vom 20. Dezember 1848, wodurch die von den Bauern bis auf weitere Regelung zu leistenden Dienste usw. mit wenigen Ausnahmen auf dem alten Fuß wiederhergestellt wurden. Es war diese Verordnung, welche unserm Wolff den Anlaß gab, die schlesischen Bauernverhältnisse in der "Neuen Rheinischen Zeitung" zu behandeln.

Indessen dauerte es noch über ein Jahr, bis das neue, schließliche Ablösungsgesetz vom 2. März 1850 zustande kam. Man kann die auch jetzt noch von den preußischen Patrioten in den Himmel erhobne Agrargesetzgebung von 1807-1847 nicht schärfer verurteilen, als es, widerwillig genug, in den Motiven zu diesem Gesetz geschieht - und es ist das Ministerium Brandenburg-Manteuffel, welches hier spricht.

Genug: einige unbedeutende Lasten wurden einfach aufgehoben, die Ablösung der andern durch Verwandlung in Geldrenten und deren Kapitalisierung zum achtzehnfachen Betrage dekretiert, und zur Vermittlung der Kapitalabzahlung Rentenbanken errichtet, die vermittelst bekannter Amortisationsoperationen dem Gutsherrn den zwanzigfachen Rentenbetrag abzahlen sollen, während der Bauer durch sechsundfünfzigjährige Abzahlung von Amortisationsraten aller Verpflichtung erledigt wird.

Verurteilte das Ministerium in den Motiven die ganze bisherige Agrargesetzgebung, so verurteilte die Kommission der Kammer das neue Gesetz. Dies sollte nicht für das durch die französische Revolution längst von all dem Plunder befreite linke Rheinufer gelten; die Kommission schloß sich dem an, weil doch höchstens ein einziger von den 109 Paragraphen des Gesetzvorschlages dort anwendbar sei,

"während alle übrigen Bestimmungen dort durchaus nicht passen, vielmehr leicht Verwirrung und unnötige Aufregung hervorrufen könnten .... indem die Gesetzgebung auf dem linken Rheinufer in Beziehung auf Aufhebung der Reallasten viel weiter gegangen sei, als man gegenwärtig gehn wolle",

und man doch den Rheinländern nicht zumuten könne, sich wieder auf den neupreußischen Idealzustand herunterbringen zu lassen.

Jetzt endlich wurde mit der Beseitigung der feudalen Arbeits- und Ausbeutungsformen Ernst gemacht. In wenigen Jahren war der Loskauf der Bauern durchgeführt. Von 1850 bis Ende 1865 wurden abgelöst: 1. der |247| Rest der größeren bäuerlichen Besitzer; es waren ihrer nur noch 12.706 mit einer Bodenfläche von 352.305 Morgen; 2. die kleineren Besitzer mit Einschluß der Kotsassen; während aber bis 1848 deren nicht ganz 290.000 abgelöst waren, hatten sich in den letzten fünfzehn Jahren volle 1.014.341 losgekauft. Dementsprechend war die Anzahl der auf die größern Wirtschaften fallenden abgelösten Spanndiensttage auch nur 356.274, die der Handdiensttage dagegen 6.670.507. Ebenso war die Entschädigung, die in Grundstücken geleistet wurde und die auch nur auf die größern Bauernhöfe fiel, nur 113.071 Morgen, und die in Roggen zu leistende Jahresrente 55.522 Scheffel. Dagegen erhielt der Grundadel an neuen jährlichen Geldrenten 3.890.136 Taler und außerdem an endgültiger Kapitalabfindung fernere 19.697.483 Taler.(3)

Die Summe, die die gesamte preußische Grundherrschaft, mit Einschluß der Staatsdomänen, sich aus der Tasche der Bauern hat zahlen lassen für die freie Rückgabe eines Teils des den Bauern früher - bis in dies Jahrhundert hinein - geraubten Bodens, beträgt nach Meitzen I. S. 437: 213.861.035 Taler. Dies ist aber viel zu gering. Denn der Morgen Kulturland ist hierbei "nur" zu 20 Taler, der Morgen Forstland zu 10 Taler und der Scheffel Roggen zu 1 Taler angerechnet, also viel zu niedrig. Ferner sind hier nur die "mit Sicherheit feststehnden Abfindungen" zugrunde gelegt, also mindestens alle privatim zwischen den Beteiligten gemachten Auseinandersetzungen unberücksichtigt gelassen, wie denn Meitzen selbst sagt, die hier aufgeführten abgelösten Leistungen, also auch die dafür gezahlten Entschädigungen seien nur ein "Minimum".

Wir können also die von den Bauern an Adel und Fiskus zur Befreiung von widerrechtlich aufgelegten Lasten gezahlte Summe auf mindestens 300.000.000 Taler, vielleicht eine Milliarde Mark annehmen.

Eine Milliarde Mark, um nur den kleinsten Teil des seit vierhundert Jahren geraubten Bodens lastenfrei zurückzuerhalten! Den kleinsten Teil, denn den weitaus größten Teil behielt Adel und Fiskus ohnehin zurück in Gestalt von Majorats- und andern Rittergütern und Domänen!

London, 24. November 1885

Friedrich Engels


Fußnoten von Friedrich Engels

(1) Die preußische Heimtücke ist unergründlich. Sie zeigt sich hier wieder im bloßen Datum. Warum nahm man 1763? Einfach weil im folgenden Jahr, 12. Juli 1764, Friedrich II. ein scharfes Edikt erlassen, worin den widerspenstigen Adligen bei Strafe befohlen wird, die seit 1740, namentlich aber seit Ausbruch des Siebenjährigen Kriegs massenweise eingezognen Bauernhöfe und Kotsassenstellen binnen Jahresfrist wieder mit entsprechenden Wirten zu besetzen. Soweit dieses Edikt eine Wirkung hatte, wird sie also 1816 zugunsten des Adels wieder vernichtet. <=

(2) Siehe für diese Statistik: Meitzen, "Der Boden des preußischen Staats", I. p. 432 ff. <=

(3) Diese Zahlen ergeben sich als Differenz der Totalsummen der beiden Tabellen bei Meitzen, I. S.432 und 434. <=


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