MLWerke Marx/Engels - Werke Artikel und Korrespondenzen 1889

Seitenzahlen verweisen auf:    Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 21, 5. Auflage 1975, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 383-387.
Korrektur:    1
Erstellt:    20.03.1999

Friedrich Engels

Die Abdankung der Bourgeoisie

Geschrieben Ende September bis Anfang Oktober 1889.


["Der Sozialdemokrat" Nr. 40 vom 5. Oktober 1889]

|383| Von allen nationalen Bourgeoisien hat unleugbar die englische bis jetzt den meisten Klassenverstand - d.h. politischen Verstand - sich bewahrt. Unsere deutsche Bourgeoisie ist dumm und feig; sie hat nicht einmal verstanden, die ihr 1848 durch die Arbeiterklasse erkämpfte politische Herrschaft zu ergreifen und festzuhalten; die Arbeiterklasse muß in Deutschland erst die Reste des Feudalismus und des patriarchalischen Absolutismus wegfegen, die unsere Bourgeoisie längst aus der Welt zu schaffen verpflichtet war. Die französische Bourgeoisie, die geldgierigste und genußsüchtigste von allen, wird durch ihre eigene Geldgier geblendet über ihre eigenen Zukunftsinteressen; sie sieht nur von heute auf morgen, sie stürzt sich profitwütig in die skandalöseste Korruption, erklärt eine Einkommensteuer für sozialistischen Hochverrat, kann keinem Streik anders begegnen als mit Infanteriesalven und bringt es damit fertig, daß in einer Republik mit allgemeinem Stimmrecht den Arbeitern kaum ein anderes Siegesmittel bleibt als die gewaltsame Revolution. Die englische Bourgeoisie ist weder so gierig-dumm wie die französische, noch so feig-dumm wie die deutsche. Sie hat während der Zeit ihrer größten Triumphe den Arbeitern fortwährend Konzessionen gemacht; selbst ihr borniertester Teil, die konservative Grund- und Finanzaristokratie, scheute sich nicht, den städtischen Arbeitern das Stimmrecht in einem Maß zu übertragen, daß es nur die Schuld dieser Arbeiter selbst war, wenn sie nicht seit 1868 40-50 der ihrigen im Parlament hatten. Und seitdem hat die gesamte Bourgeoisie - Konservative und Liberale vereinigt - das erweiterte Stimmrecht auch auf die Landbezirke ausgedehnt, die Größe der Wahlkreise annähernd ausgeglichen und damit der Arbeiterklasse mindestens dreißig weitere Wahlkreise zur Verfügung |384| gestellt. Während die deutsche Bourgeoisie die Fähigkeit, als herrschende Klasse die Nation zu führen und zu vertreten, nie gehabt hat, während die französische tagtäglich - und eben jetzt wieder in den Wahlen - beweist, daß sie diese Fähigkeit - und sie besaß sie einst in höherem Grad als irgendeine andere Mittelklasse - total verloren hat, bewies die englische Bourgeoisie (worin die sog. Aristokratie aufgegangen und einbegriffen ist) bis zuletzt noch eine gewisse Gabe, ihre Stellung als leitende Klasse wenigstens einigermaßen auszufüllen.

Das scheint jetzt aber mehr und mehr anders zu werden. In London ist alles, was mit dem alten Stadtregiment - der Verfassung und Verwaltung der eigentlichen City - zusammenhängt, noch reines Mittelalter. Und dazu gehört auch der Hafen von London, der erste Hafen der Welt. Die Besitzer der Ladeplätze (wharfingers), die Ewerführer (lighter-men),die Bootsleute (watermen) bilden richtige Zünfte mit ausschließlichen Privilegien und teilweise noch mittelalterlichen Trachten. Diesen altväterischen Zunftprivilegien ist nun in den letzten siebenzig Jahren das Monopol der Dockgesellschaften als Krone aufgesetzt und damit der ganze große Hafen von London einer kleinen Anzahl privilegierter Korporationen zur rücksichtslosen Ausbeutung überantwortet worden. Und diese ganze privilegierte Mißgeburt wird verewigt und sozusagen unantastbar gemacht durch die endlose Reihe verwickelter und widerspruchsvoller Parlamentsakte, wodurch sie geschaffen und großgezogen wurde, derart, daß dies juristische Labyrinth ihre beste Schutzmauer geworden ist. Während aber gegenüber dem handeltreibenden Publikum diese Korporationen auf ihre mittelalterlichen Vorrechte pochen und London zum kostspieligsten Hafen der Welt machen, haben sich die Mitglieder dieser Gesellschaft in reine Bourgeois verwandelt, die außer ihren Kunden noch ihre Arbeiter in der schnödesten Weise ausbeuten und so die Vorteile der mittelalterlich-zünftigen und der modern-kapitalistischen Gesellschaft gleichzeitig einsacken.

Da aber diese Ausbeutung im Rahmen der modern-kapitalistischen Gesellschaft vor sich ging, blieb sie trotz der mittelalterlichen Verkleidung den Gesetzen dieser Gesellschaft unterworfen. Die Großen fraßen die Kleinen auf oder ketteten sie wenigstens an ihren Siegeswagen. Die großen Dockgesellschaften wurden die Herren über die Zünfte der Werftbesitzer, Ewerführer und Bootsleute und damit über den ganzen Londoner Hafen. Sie sahen damit die Aussicht auf grenzenlosen Profit eröffnet. Diese Aussicht blendete sie. Sie warfen Millionen zum Fenster hinaus in törichten Anlagen; und da dieser Gesellschaften mehrere waren, ließen sie sich auf einen gegenseitigen Konkurrenzkrieg ein, der weitere Millionen kostete, neue sinnlose |385| Bauten hervorrief und die Gesellschaften an den Rand des Bankrotts brachte, bis sie endlich vor etwa zwei Jahren sich einigten.

Inzwischen hatte der Londoner Handel seinen Höhepunkt überschritten. Havre, Antwerpen, Hamburg, und seit dem neuen Seekanal Amsterdam, zogen einen wachsenden Anteil des Verkehrs an sich, der früher in London seinen Mittelpunkt gefunden. Liverpool, Hull und Glasgow nahmen ebenfalls ihr Teil. Die neugebauten Docks blieben leer, die Dividenden schrumpften ein und verschwanden teilweise ganz, die Aktien sanken, die Dockdirektoren, eigensinnige, durch die alte gute Zeit verwöhnte, hochmütige Geldprotzen, wußten keinen Rat. Die wirklichen Ursachen des relativen und absoluten Rückgangs des Londoner Hafenverkehrs wollten sie nicht eingestehen. Und diese Ursachen, soweit sie lokaler Natur, sind einzig und allein ihre eigne hochnäsige Verkehrtheit und deren Mutter, ihre privilegierte Stellung, die mittelalterliche, längst überlebte Verfassung der City und des Hafens von London, die von Rechts wegen ins Britische Museum gehört, neben ägyptische Mumien und assyrische steinerne Ungeheuer.

Nirgendwo sonst in der Welt würde eine derartige Verrücktheit geduldet werden. In Liverpool, wo ähnliche Zustände in der Bildung begriffen waren, wurden sie im Keim erdrückt und die ganze Hafenverfassung modernisiert. Aber in London leidet der Handel darunter, knurrt, und - läßt es über sich ergehn. Die Bourgeoisie, deren Masse die Kosten dieser Abgeschmacktheiten zu zahlen hat, beugt sich vor dem Monopol - widerwillig zwar, aber sie beugt sich. Sie hat nicht mehr die Energie, den Alp abzuschütteln, der mit der Zeit die Lebensbedingungen von ganz London zu erdrücken droht.

Da bricht der Streik der Dockarbeiter aus. Nicht die von den Dockgesellschaften geplünderte Bourgeoisie rebelliert; es sind die von ihnen ausgebeuteten Arbeiter, die Ärmsten der Armen, die unterste Schicht der Proletarier des Ostends, die den Dockmagnaten den Fehdehandschuh hinwerfen. Und da endlich besinnt sich die Bourgeoisie, daß auch sie in den Dockmagnaten einen Feind hat, daß die streikenden Arbeiter nicht nur in ihrem eigenen Interesse, sondern indirekt auch im Interesse der Bourgeoisklasse den Kampf aufgenommen haben. Das ist das Geheimnis der Sympathie des Publikums mit dem Streik und der bisher unerhört freigebigen Geldbeiträge aus bürgerlichen Kreisen. Aber dabei blieb's auch. Die Arbeiter gingen ins Feuer unter dem Beifallsruf und Händeklatschen der Bourgeoisie: die Arbeiter fochten den Kampf aus und bewiesen nicht nur, daß die stolzen Dockmagnaten besiegbar waren, sondern wühlten auch durch ihren Kampf und Sieg die gesamte öffentliche Meinung derartig auf, |386| daß Dockmonopol und feudale Hafenverfassung jetzt nicht länger zu halten sind und demnächst wohl ins Britische Museum wandern werden.

Dies Stück Arbeit hätte die Bourgeoisie längst besorgen sollen. Sie hat es nicht gekonnt oder nicht gewollt. Jetzt haben die Arbeiter es in die Hand genommen und jetzt wird es erledigt. Mit andern Worten, hier hat die Bourgeoisie von ihrer eignen Rolle abgedankt zugunsten der Arbeiter.

Nun ein anderes Bild. Aus dem mittelalterlichen Londoner Hafen gehen wir in die modernen Baumwollspinnereien von Lancashire. Hier sind wir augenblicklich in der Periode, wo die Baumwollernte von 1888 erschöpft und die von 1889 noch nicht auf dem Markt angekommen ist, also in der Periode, wo die Spekulation im Rohstoff die besten Aussichten hat. Ein reicher Holländer namens Steenstrand hat mit anderen Spießgesellen einen "Ring" gebildet zum Aufkauf aller verfügbaren Baumwolle und zur entsprechenden Preistreiberei. Die Baumwollspinner können dem nur entgegentreten, indem sie die Konsumtion einschränken, d.h. ihre Fabriken mehrere Tage der Woche oder ganz stillsetzen, bis neue Baumwolle in Sicht ist. Das haben sie denn auch seit sechs Wochen versucht. Aber es will nicht gehen, wie es schon bei früheren Gelegenheiten nie hat gehen wollen. Denn unter den Spinnern sind viele so verschuldet, daß teilweiser oder ganzer Stillstand sie an den Rand des Untergangs bringt. Und andere wünschen sogar, daß die Mehrzahl stillsetze und damit die Garnpreise herauftreibe; sie selbst aber wollen fortarbeiten und von diesen höheren Garnpreisen profitieren. Es hat sich auch schon seit reichlich zehn Jahren herausgestellt, daß es nur ein Mittel gibt, den allgemeinen Stillstand aller Baumwollfabriken - gleichviel für welchen Endzweck - zu erzwingen. Nämlich indem man eine Lohnherabsetzung, sage von 5 Prozent, ins Werk setzt. Dann gibt's einen Streik oder auch einen Fabrikenschluß durch die Fabrikanten selbst, und dann, im Kampf gegen die Arbeiter, herrscht unbedingte Einigkeit unter den Fabrikanten, und selbst diejenigen setzen ihre Maschinen still, die nicht wissen, ob sie je wieder im Stand sein werden, sie in Gang zu setzen.

Wie die Dinge liegen, ist heute eine Lohnherabsetzung nicht rätlich. Wie aber ohne sie die allgemeine Schließung der Fabriken durchsetzen, ohne die die Spinner den Spekulanten auf etwa sechs Wochen an Händen und Füßen gebunden ausgeliefert sind? Durch einen Schritt, der in der Geschichte der modernen Industrie einzig dasteht.

Die Fabrikanten, durch ihr Zentralkomitee, wenden sich "offiziös" an das Zentralkomitee der Fachvereine der Arbeiter mit der Bitte, die organisierten Arbeiter möchten im gemeinsamen Interesse die widerspenstigen |387| Fabrikanten zum Stillstand zwingen durch Organisierung von Streiks. Die Herren Fabrikanten, im Eingeständnis ihrer eigenen Unfähigkeit zu geschlossenem Handeln, bitten die früher so gehaßten Gewerkschaften der Arbeiter, doch gütigst Zwang gegen sie selbst, die Fabrikanten, anwenden zu wollen, damit sie, die Fabrikanten, durch die bittre Not endlich dahin gebracht werden, einheitlich, als Klasse im Interesse ihrer eigenen Klasse zu handeln. Durch die Arbeiter gezwungen, denn sie selbst bringen's nicht fertig!

Die Arbeiter willigten ein. Und die bloße Drohung der Arbeiter genügte. In 24 Stunden war der "Ring" der Baumwollspekulanten gebrochen. Das beweist, was die Fabrikanten können, und was die Arbeiter.

Hier also, in der modernsten aller modernen Großindustrien, erweist sich die Bourgeoisie ebenso unfähig, ihre eigenen Klasseninteressen durchzusetzen wie im mittelalterlichen London. Und noch mehr. Sie gesteht es offen ein, und, indem sie sich an die organisierten Arbeiter wendet mit der Bitte, ein wesentliches Klasseninteresse der Fabrikanten gegen die Fabrikanten selbst zu erzwingen, dankt sie nicht nur selbst ab, sondern erkennt in der organisierten Arbeiterklasse ihre zur Herrschaft berufene und befähigte Nachfolgerin. Sie proklamiert es selbst, daß, wenn auch noch jeder einzelne Fabrikant seine eigene Fabrik leiten kann, einzig und allein die organisierten Arbeiter noch imstande sind, die Leitung der gesamten Baumwollindustrie in die Hand zu nehmen. Und das heißt auf deutsch, daß die Fabrikanten keinen anderen Beruf mehr haben als den, die bezahlten Geschäftsführer im Dienst der organisierten Arbeiter zu werden.

F. Engels


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