MLWerke Marx/Engels - Werke Artikel und Korrespondenzen 1890

Seitenzahlen verweisen auf:    Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 22, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 3-6.
Korrektur:    1
Erstellt:    06.04.1999

Friedrich Engels

[Die deutschen Wahlen 1890]

Geschrieben zwischen 21. Februar und 1. März 1890.
Aus dem Englischen.


["Newcastle Daily Chronicle" Nr. 9945 vom 3. März 1890]

|3| Wer die politische Entwicklung Deutschlands während der letzten zehn Jahre aufmerksam verfolgt hat, konnte nicht daran zweifeln, daß die Sozialdemokratische Partei Deutschlands bei den allgemeinen Wahlen von 1890 einen überwältigenden Erfolg erringen werde. 1878 wurden die deutschen Sozialisten einem strengen Ausnahmegesetz unterworfen, kraft dessen alle ihre Zeitungen unterdrückt, ihre Versammlungen verboten oder aufgelöst, ihre Organisationen zerschlagen wurden. Jeder Versuch, sie neu zu schaffen, wurde als "geheime Verbindung" mit Strafe belegt, und so wurden Verurteilungen zu mehr als tausend Jahren Gefängnis über Mitglieder der Partei gefällt. Nichtsdestoweniger brachten es die deutschen Sozialisten fertig, wöchentlich etwa 10.000 Exemplare ihrer im Ausland hergestellten Zeitung, des "Sozialdemokrat", ins Reich zu schmuggeln und zu verteilen, sowie Tausende von Flugschriften zu verbreiten. Es gelang ihnen, in den Reichstag (mit neun Mitgliedern) und in eine große Anzahl von Gemeindevertretungen, unter anderem auch in die Berliner Stadtvertretung, einzudringen. Diese wachsende Stärke der Partei wurde auch ihren erbittertsten Gegnern offenbar.

Und dennoch muß ein Erfolg, wie der von den Sozialisten am 20. Februar errungene, selbst den Zuversichtlichsten unter ihnen überraschen. Zwanzig {1} Sitze wurden erobert, das heißt, in zwanzig Wahlkreisen waren die Sozialisten stärker als alle anderen Parteien zusammengenommen. In achtundfünfzig Kreisen kamen sie zur Stichwahl, das heißt, in 58 Kreisen sind sie entweder die stärkste oder beinahe die stärkste aller Parteien, die Kandidaten aufgestellt haben, und die erneute Wahl wird endgültig zwischen |4| den beiden Kandidaten entscheiden, die die meisten Stimmen hatten, aber beide nicht die absolute Stimmenmehrheit besaßen. Was die Gesamtzahl der abgegebenen sozialistischen Stimmen betrifft, so können wir sie erst annähernd schätzen. 1871 hatten sie nur 102.000 Stimmen, 1877 zählten sie 493.000, 1884 550.000, 1887 763.000, 1890 können sie nicht weniger als 1.250.000 Stimmen haben, eher bedeutend mehr. Die Stärke der Partei ist also innerhalb von drei Jahren um mindestens 60 bis 70 Prozent gestiegen.

1887 gab es nur drei Parteien mit mehr als einer Million Wähler: die Nationalliberalen mit 1.678.000, das Zentrum oder die Katholische Partei mit 1.516.000 und die Konservativen mit 1.147.000. Diesmal wird das Zentrum seine Stärke behaupten, die Konservativen haben starke und die Nationalliberalen geradezu enorme Verluste erlitten. So werden die Sozialisten vom Zentrum noch an Zahl übertroffen werden; sie werden aber an die Nationalliberalen wie auch an die Konservativen völlig herankommen oder sie gar überflügeln.

In dem Verhältnis der Parteien in Deutschland vollzieht diese Wahl eine vollständige Revolution. Sie wird, darf man sagen, eine neue Epoche in der Geschichte dieses Landes einleiten. Sie markiert den Anfang vom Ende der Periode Bismarck. Im Augenblick ist die Situation folgende:

Mit seinen Erlassen über die Arbeiterschutz-Gesetzgebung und die Internationale Arbeiterschutzkonferenz trennt sich der junge Wilhelm von seinem Mentor Bismarck. Dieser hat es für klug erachtet, seinem jungen Herrn freie Hand zu lassen und ruhig abzuwarten, bis Wilhelm II. mit seinem Steckenpferd, den Arbeiterfreund zu spielen, sich Verlegenheiten bereitet habe; dann wäre für Bismarck die Zeit gekommen, als Deus ex machina auf der Bildfläche zu erscheinen. Diesmal hat Bismarck sich über den Verlauf der Wahlen nicht sonderlich beunruhigt gezeigt. Ein Reichstag |Im "Newcastle Daily Chronicle" hier und weiterhin deutsch: Reichstag|, mit dem sich nicht regieren läßt und den man auflösen könnte, sobald der junge Kaiser seinen Mißgriff eingesehen, würde sogar den Interessen Bismarcks dienen, und ein bedeutender Erfolg der Sozialisten könnte ihm helfen, sich mit einer guten Wahlparole dem Lande zu präsentieren, sobald der Moment der Auflösung gekommen ist. Und der listige Kanzler hat jetzt wirklich einen Reichstag, mit dem niemand regieren kann. Wilhelm II. wird sehr bald die Unmöglichkeit einsehen, in seiner Stellung und angesichts des gegenwärtigen Geistes der Großgrundbesitzer und der Bourgeoisie auch nur ein Atom der in seinen Erlassen verkündeten Projekte zur |5| Verwirklichung zu bringen. Die Wahlen haben ihm schon die Überzeugung verschafft, daß die deutsche Arbeiterklasse alles, was man ihr anbietet, als Abschlagszahlung akzeptiert, aber nicht ein Jota von ihren Prinzipien und Forderungen nachläßt; und sie wird in ihrer Opposition gegen eine Regierung nicht erlahmen, die nicht existieren kann ohne Knebelung der Majorität des arbeitenden Volkes.

Deshalb wird es auch bald zwischen Kaiser und Parlament zu einem Konflikt kommen, und die Sozialisten werden von allen rivalisierenden Parteien der Schuld an allem geziehen werden. Ein neues Wahlprogramm wird dort verfertigt werden, und dann wird Bismarck kommen, nachdem er seinem Herrn und Meister die nötige Lektion erteilt hat, und die Auflösung bewirken.

Aber er wird dann erkennen müssen, daß die Zeiten sich geändert haben. Die sozialistischen Arbeiter werden stärker und entschlossener sein als zuvor. Auf den Adel konnte sich Bismarck niemals verlassen; dieser hat ihn immer als Verräter am wahren Konservatismus betrachtet und ist bereit, ihn über Bord zu werfen, sobald der Kaiser nichts mehr von ihm wissen will. Die Bourgeoisie war seine Hauptstütze; aber sie hat kein Vertrauen mehr zu ihm. Der kleine Hausstreit zwischen Bismarck und dem Kaiser ist auch der Öffentlichkeit zu Ohren gekommen. Er hat bewiesen, daß Bismarck nicht mehr allmächtig und der Kaiser gegen gefährliche Launen nicht gefeit ist. Wem von beiden wird das bürgerliche Philisterium in Deutschland sein Vertrauen zuwenden? Der kluge Mann hat die Macht nicht mehr, und der Mann, der die Macht hat, erweist sich als unklug. In der Tat, der Glaube an die Stabilität der 1871 geschaffenen Neuordnung der Dinge - ein Glaube, der, was die deutsche Bourgeoisie betrifft, unerschütterlich war, solange der alte Wilhelm regierte, Bismarck am Ruder und Moltke an der Spitze der Armee war -, dieser Glaube ist für immer dahin. Das Joch der immer drückenderen Steuern, die hohen Kosten für den Lebensunterhalt durch absurde Zölle auf alle Gegenstände, Nahrungsmittel wie Industrieprodukte, die unerträgliche Last der Militärpflicht, die beständige und immer erneute Furcht vor einem Kriege - einem Kriege, in den ganz Europa hineingezogen werden kann und der 4 bis 5 Millionen Deutsche unter die Fahnen zwingen würde -, all das hat dazu beigetragen, den Bauer, den Kleingewerbetreibenden, den Arbeiter der Regierung zu entfremden - kurz, die ganze Nation, mit Ausnahme der kleinen Zahl derer, die von den durch den Staat geschaffenen Monopolen profitieren. Alles das wurde als unvermeidlich ertragen, solange der alte Wilhelm, Moltke und Bismarck ein Regierungstriumvirat bildeten, das unbesiegbar schien. Aber |6| heute ist der alte Wilhelm tot, Moltke pensioniert, und Bismarck hat es mit einem jungen Kaiser zu tun, den gerade er mit einer schrankenlosen Selbstgefälligkeit erfüllt hat; dieser dünkt sich deshalb schon ein zweiter Friedrich der Große und ist doch nur ein eitler Geck, der danach strebt, das Kanzlerregiment abzuwerfen, und obendrein ein Spielzeug in der Hand der Intriganten am Hofe. Bei einem solchen Stand der Dinge wird das dem Volke aufgebürdete ungeheure Joch nicht mehr geduldig ertragen; der alte Glaube an die Stabilität der Dinge ist dahin; der Widerstand, der früher aussichtslos schien, wird jetzt zur Notwendigkeit; so kann der Fall eintreten, daß, so unregierbar der jetzige Reichstag erscheint, der künftige in dieser Hinsicht dem jetzigen noch über ist.

Nach alledem hat Bismarck sehr wahrscheinlich sein Spiel schlecht kalkuliert. Bei einer Auflösung wird auch das spectre rouge |rote Gespenst|, der Kriegsruf gegen die Sozialisten, seine Hoffnungen nicht erfüllen. Aber andererseits hat er eine unbestrittene Eigenschaft: rücksichtslose Energie. Wenn es ihm gefällt, kann er Aufstände provozieren und probieren, welche Wirkung ein kleiner "Aderlaß" hat. Doch er sollte nicht vergessen, daß mindestens die Hälfte der deutschen Sozialisten durch die Armee gegangen ist. Dort haben sie die Disziplin erlernt, die sie bis jetzt allen Provokationen zum Aufstand widerstehen ließ. Dort haben sie aber noch etwas mehr gelernt.


Textvarianten

{1} Im "Newcastle Daily Chronicle": Einundzwanzig <=


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