MLWerke Marx/Engels - Werke Artikel und Korrespondenzen 1890

Seitenzahlen verweisen auf:    Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 22, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1963, Berlin/DDR. S. 71-75.
Korrektur:    1
Erstellt:    06.04.1999

Friedrich Engels

Der internationale Arbeiterkongreß

Geschrieben zwischen 9. und 15. September 1890.
Nach dem handschriftlichen Entwurf.
Aus dem Französischen.


|71| Auf dem Kongreß der englischen Trade-Unions in Liverpool (September 1890) hat der Nationalrat der belgischen Arbeiterpartei die Trade-Unions zu dem internationalen Kongreß eingeladen, der im nächsten Jahr in Belgien abgehalten werden soll.

Die Belgier haben den Auftrag zur Einberufung eines internationalen Kongresses in Belgien von dem Possibilistenkongreß erhalten. Der marxistische Kongreß (ich benutze diese Bezeichnung der Kürze wegen) hat ihnen sowie auch den Schweizern den Auftrag gegeben, nur gemeinsam einen Kongreß einzuberufen; der Ort des Kongresses ist noch nicht festgelegt worden.

Soweit es sich nicht um eine beabsichtigte Zweideutigkeit handelt, haben die Belgier also die Engländer zum Possibilistenkongreß eingeladen, dem einzigen Kongreß, zu dessen Einberufung sie allein den Auftrag hatten. Und die Engländer haben begeistert angenommen.

Es wird unmöglich sein, den jungen Trade-Unions der einfachen Handarbeiter begreiflich zu machen, daß ihr guter Glauben mißbraucht worden ist; daß es 1891 zwei Kongresse geben wird, einen guten und einen schlechten, und daß sie versprochen haben, gerade den schlechten zu besuchen. Das ist nicht nur meine persönliche Meinung, sondern auch die Meinung von Personen, die sich am meisten um die Einbeziehung der Trade-Unions in die internationale Bewegung bemüht haben. Die Kampagne, die der "Sozialdemokrat" 1889 gegen die Freunde der Possibilisten in England unternommen hat, könnte diesmal nicht mit gleichem Erfolg wiederholt werden. Wenn es zwei Kongresse geben wird, warum hat man uns dann nicht auch zu dem anderen eingeladen, so daß wir hätten wählen können? Jetzt ist es zu spät. So werden diese praktischen Leute sagen. Sie haben die Einladung der Belgier angenommen, und sie werden den Kongreß besuchen, der in Belgien stattfinden wird. Das ist absolut sicher; es sei |72| denn, die Belgier und die Possibilisten stießen sie durch unglaubliche Dummheiten zurück; aber sie werden solche Dummheiten nicht begehen.

Diese Lage ist die unvermeidliche Folge der von dem marxistischen Kongreß begangenen Fehler. Man hat die wichtigste Frage, die des künftigen Kongresses, ungelöst gelassen. Schlimmer noch, man hat jede Lösung beinahe unmöglich gemacht, indem man die Einberufung des Kongresses zwei nationalen Komitees, dem belgischen und dem Schweizer, anvertraut hat, ohne deren vorheriges Einverständnis nicht der geringste Schritt getan werden könnte; das sicherste Mittel, daß nichts geschieht. Überdies haben sich die Belgier, wie nach der Haager Konferenz, von ihren eigenen Interessen leiten lassen, statt sich an den Rahmen des empfangenen Auftrags zu halten. Sie haben sich einen Kongreß in Belgien sichern wollen, und sie berufen ihn ein, ohne sich um ihre Mitbeauftragten, die Schweizer, zu kümmern. Ich möchte keineswegs die Aufrichtigkeit und die guten Absichten des belgischen Nationalrats bezweifeln; aber praktisch leistet er den Possibilisten durch sein Verhalten Vorschub gegen uns. Anstatt die anderen zu tadeln, sollten wir erkennen, daß dies nur die Folgen unserer eigenen Fehler sind. (Tadeln wir sie nicht zu sehr; der Auftrag, den wir ihnen gegeben haben, lud sie geradezu ein, ihn nicht wörtlich zu nehmen.)

Wir haben uns gewissermaßen in eine Sackgasse begeben, in eine Situation, in der wir uns nicht rühren können, während unsere Rivalen handeln. Wie ist da herauszukommen?

Zunächst steht außer Zweifel, daß von mehr als nur einer Seite neue Versuche erfolgen werden, um den "Skandal" zweier miteinander rivalisierender Arbeiterkongresse zu verhindern. Wir können diese Versuche nicht zurückweisen; es ist für uns im Gegenteil von allergrößtem Interesse, daß die Verantwortung für den "Skandal", sollte er sich wiederholen, auf die Possibilisten und ihre Verbündeten zurückfällt. Jeder, der auch nur ein wenig Erfahrung in der internationalen Bewegung hat, weiß, daß im Falle einer Spaltung derjenige, der sie hervorgerufen hat oder hervorgerufen zu haben scheint, in den Augen der Arbeiter immer unrecht hat. Falls es 1891 also zwei Kongresse geben wird, müssen wir so vorgehen, daß man nicht uns die Schuld dafür zuschreiben kann.

Wenn außer Zweifel steht, daß solche Einigungsversuche erfolgen werden - müssen wir sie denn passiv abwarten? Wir riskierten dann, daß die Possibilisten und ihre Verbündeten uns in letzter Minute ein Ultimatum präsentieren voller bekannter Fallen (wir kennen sie) - Fallen, die unter einem betäubenden Wortschwall derart versteckt sind, daß die breite Öffentlichkeit nichts Böses dahinter vermutet, während wir es nicht akzeptieren |73| könnten; dann befänden wir uns in der angenehmen Situation, entweder den Vorschlag anzunehmen und mit offenen Augen ins Netz zu gehen oder ihn abzulehnen und vor den Arbeitern die Verantwortung dafür zu tragen, durch einen unerklärlichen Starrsinn die sozialistische Einigung verhindert zuhaben!

Kurzum, die Situation ist für uns unerträglich. Wir müssen ihr entrinnen. Doch wie? Indem wir handeln. Wir werden uns nicht mehr auf den an die Belgier und Schweizer gegebenen Auftrag verlassen; nehmen wir die Sache in die eigenen Hände.|1|

Hätten wir die Vereinigung der beiden Kongresse zu bedauern? Prüfen wir die Frage.

Wir können mit Sicherheit rechnen 1. auf die französischen Kollektivisten und Blanquisten (wenn sich auch die Zahl der letzteren durch die ins Lager der Boulangisten übergelaufene Masse verringert hat), 2. auf die Deutschen, 3. auf die Österreicher, 4. auf die spanischen Sozialisten, 5. auf die dänischen "Revolutionäre", 1/5 der dänischen Sozialisten, 6. auf die Schweden und vielleicht auf einige Norweger, 7. auf die Schweizer, 8. auf die russischen und polnischen Emigranten.

Der mit uns rivalisierende Kongreß würde sich zusammensetzen 1. aus den französischen Possibilisten, 2. aus den englischen Trade-Unions, die in Masse vertreten wären, und der englischen Social Democratic Föderation, die von dem allgemeinen Aufschwung der Bewegung in England profitiert hat, 3. aus den Belgiern, 4. aus den Holländern, 5. aus den spanischen Syndikaten in Barcelona etc., 6. wahrscheinlich aus den portugiesischen Syndikaten, 7. aus den Italienern, 8. aus den dänischen "Reformisten", 4/5 aller Sozialisten Dänemarks, die vielleicht noch einige Norweger anzögen.

Je nach den Umständen könnten die Belgier und Holländer ihre Delegierten auch zu uns schicken; den Schweizern hingegen wäre auch zuzutrauen, daß sie einige Delegierte zu dem Possibilistenkongreß entsenden.

Hieraus folgt, daß diesmal die Possibilisten eine weit ansehnlichere Armee hätten als 1889. Wenn wir die Deutschen haben, so werden die Possibilisten dies durch die Engländer ausgleichen, die durch unsere Untätigkeit und Ungeschicklichkeit für uns verloren sind; in allem übrigen werden sie so viele Nationalitäten haben wie wir, wenn nicht mehr. Und mit ihrer Geschicklichkeit in der Fabrikation fiktiver Mandate und fiktiver |74| Vertreter werden sie uns weit hinter sich lassen. Fügen wir hinzu, daß, setzten wir dieses bisher von uns verfolgte System der Untätigkeit fort, die Schuld für die Spaltung sicherlich auf uns fiele, was eine erneute Verringerung der Zahl der Teilnehmer unseres Kongresses zur Folge hätte.

Nehmen wir jetzt an, die Vereinigung sei zustande gekommen. Dann würden unsere Kräfte durch all diejenigen verstärkt, die der "Skandal" der Spaltung bisher veranlaßte, sich neutral zu verhalten - die Belgier, Holländer, Italiener; sie werden unweigerlich die neuen englischen Trade-Unions zu uns ziehen mit ihrem ausgezeichneten Mitgliederbestand, der noch nicht völlig widerstandsfähig, aber rechtschaffen und klug ist. Wir haben dort schon Wurzel gefaßt; der Kontakt mit den französischen Kollektivisten und den Deutschen würde genügen, damit sie sich uns weiter annäherten, und das um so mehr, als die S[ocial] D[emocratic| Föderation], deren diktatorische Allüren sie abstoßen, die fanatische Verbündete der Possibilisten ist. Die Belgier wollen nur solche Kongresse, auf denen sie eine führende Rolle spielen können, wozu ihnen die Possibilisten auch verhelfen haben, und vor allen Dingen wollen sie einen großen Kongreß in Brüssel. Wenn wir mithelfen, daß die Vereinigung sich bei ihnen vollzieht, werden die Flamen, das bessere Element in ihren Reihen, auf unserer Seite sein und die possibilistischen Tendenzen der Brüsseler ausgleichen. Die Holländer sind fanatische Anhänger der Vereinigung, aber sie sind weit davon entfernt, Possibilisten zu sein.

Welches sind die für uns unerläßlichen Bedingungen?

1. Daß der gemeinsame Kongreß von den Bevollmächtigten der beiden Kongresse von 1889 einberufen wird. Die Belgier werden ihn kraft des possibilistischen Auftrags einberufen, und die Belgier und Schweizer werden ihn gemeinsam kraft unseres Auftrags einberufen; die Form ist festzulegen.

2. Daß der Kongreß sein eigener Herr ist. Die Reglements, die Tagesordnungen, die Resolutionen der vorangegangenen Kongresse existieren für ihn nicht. Er selbst bestimmt sein Reglement, die Art der Mandatsprüfung und seine Tagesordnung, ohne sich durch irgendwelche Präzedenzien binden zu lassen. Kein Komitee, sei es von einem der vorangegangenen Kongresse ernannt oder während der Vereinigungsverhandlungen gebildet worden, hat das Recht, den Kongreß an irgend etwas zu binden.

3. Die Bedingungen für die Vertretung der verschiedenen Arbeitergesellschaften und die Proportionen, in denen sie vertreten sein werden, werden vorher festgelegt (bestimmte Vorschläge wären wünschenswert, aber es ist nicht meine Sache, sie zu machen).

|75| 4. Ein Komitee, dessen Zusammensetzung zu bestimmen ist, wird beauftragt, einen Entwurf des Reglements, des Verfahrens der Mandatsprüfung und einen Entwurf der Tagesordnung vorzubereiten und diese dem Kongreß zur Bestätigung vorzulegen.


|1| Die folgenden sechs Absätze bis zu den Worten "Possibilisten zu sein" sind in der Handschrift senkrecht durchgestrichen <=


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