MLWerke Marx/Engels - Werke Artikel und Korrespondenzen 1891

Seitenzahlen verweisen auf:    Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 22, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1963, Berlin/DDR. S. 241-243.
Korrektur:    1
Erstellt:    06.04.1999

Friedrich Engels

[Über den Brüsseler Kongreß und die Lage in Europa]

[Aus einem Brief an Paul Lafargue]

Aus dem Französischen.


["Le Socialiste" Nr. 51 vom 12. September 1891]

|241| London, 2. September 1891

Der Brüsseler Kongreß

Wir haben allen Grund, mit dem Kongreß in Brüssel zufrieden zu sein. Man hat gut daran getan, den Ausschluß der Anarchisten zu votieren: damit hat die alte Internationale aufgehört, damit beginnt die neue. Es ist das, 19 Jahre später, die klare und einfache Bestätigung der Resolutionen des Haager Kongresses.

Von nicht geringerer Bedeutung ist es gewesen, daß man die Tür den englischen Trade-Unions weit öffnete. Diese Maßnahme beweist, wie sehr man die Situation begriffen hat. Und die Abstimmungen, die die Trade-Unions an "den Klassenkampf und die Abschaffung der Lohnarbeit" gebunden haben, zeigen, daß keine Konzession von unserer Seite gemacht worden ist.

Der Zwischenfall Domela Nieuwenhuis hat bewiesen, daß die europäischen Arbeiter endgültig die Periode der Herrschaft hochklingender Phrasen hinter sich gelassen haben und sich der Verantwortung bewußt sind, die sie tragen: Sie sind eine Klasse, die sich als eine "Kampf"partei konstituiert hat, als eine Partei, die mit den "Tatsachen" rechnet. Und die Tatsachen nehmen eine mehr und mehr revolutionäre Wendung,

Die Lage in Europa

In Rußland herrscht schon Hungersnot; in Deutschland wird sie in einigen Monaten einziehen; die anderen Länder werden weniger darunter |242| leiden, hier die Gründe dafür: Das Defizit der Ernte des Jahres 1891 wird auf 111/2 Millionen Hektoliter Weizen geschätzt und auf 87 oder 100 Millionen Hektoliter Roggen. Das letztere Defizit berührt also hauptsächlich die beiden Länder, die Konsumenten von Roggen sind - Rußland und Deutschland.

Dies garantiert uns den Frieden bis zum Frühjahr 1892. Rußland wird sich vor diesem Zeitpunkt nicht rühren; wenn man in Paris oder Berlin nicht außerordentliche Dummheiten begeht, wird es also keinen Krieg geben.

Wird hingegen das Zarentum diese Krise überstehen? Ich zweifle daran. Es gibt zuviel rebellische Elemente in den großen Städten und besonders in St. Petersburg, als daß man nicht versuchen würde, die Gelegenheit dazu zu benützen, den Trunkenbold Alexander III. abzusetzen oder zum allernwenigsten ihn unter die Kontrolle einer Nationalversammlung zu stellen; vielleicht wird er selbst genötigt sein, die Initiative zu dieser Einberufung zu ergreifen. Rußland - das heißt die Regierung und die junge Bourgeoisie - hat enorm an der Schaffung einer großen nationalen Industrie gearbeitet (siehe den Artikel von Plechanow in der "Neuen Zeit"). Diese Industrie wird mit einmal in ihrer Entwicklung aufgehalten werden, weil die Hungersnot ihr das einzige Absatzgebiet verschließen wird - den inneren Markt. Der Zar wird sehen, was es heißt, Rußland zu einem sich selbst genügenden und vom Auslande unabhängigen Lande gemacht zu haben: Er wird eine Ackerbaukrise haben, die durch eine Industriekrise verdoppelt wird.

In Deutschland wird die Regierung sich, wie immer, zu spät zur Abschaffung oder zur zeitweiligen Aufhebung der Getreidezölle entschließen. Das wird die schutzzöllnerische Mehrheit im Reichstag |In "Le Socialiste" deutsch: Reichstag| zertrümmern. Die Großgrundbesitzer, die "ruraux", werden nicht mehr die Zölle auf Industrieprodukte aufrechterhalten wollen, sie werden so billig wie möglich kaufen wollen. So werden wir wahrscheinlich eine Wiederholung dessen erleben, was seinerzeit bei der Abstimmung über das Sozialistengesetz geschehen ist: eine schutzzöllnerische Mehrheit, die in sich selbst durch die unter den neuen Bedingungen entstandenen Interessengegensätze gespalten ist und die vor der Unmöglichkeit steht, sich über die Details des Schutzzollsystems zu verständigen. Alle möglichen Vorschläge finden nur Minoritäten; es wird entweder eine Rückkehr zum System des Freihandels stattfinden, was ebenfalls unmöglich ist, oder eine Auflösung des Reichstags, was für die alten Parteien und die frühere Mehrheit den Verlust ihrer |243| Positionen zur Folge haben und zur Bildung einer neuen freihändlerischen Mehrheit führen würde, die zu der gegenwärtigen Regierung in Opposition tritt. Das kennzeichnet das wirkliche und definitive Ende der Bismarck-Ära und des innerpolitischen Stillstandes - ich spreche hier nicht von unserer Partei, sondern von den möglichen Regierungsparteien; es wird zu Auseinandersetzungen kommen zwischen dem grundbesitzenden Adel und der Bourgeoisie und auch zwischen der industriellen Bourgeoisie, die schutzzöllnerisch ist, und den Kaufleuten sowie jener Fraktion der industriellen Bourgeoisie, die für den Freihandel eintritt; die Stabilität der Regierung und der Innenpolitik wird zerstört werden; schließlich wird es Bewegung geben, Kampf, Leben, und unsere Partei wird alle Früchte davon ernten; und wenn die Ereignisse diese Richtung nehmen, wird unsere Partei schon um das Jahr 1898 zur Macht kommen können.

So ist die Lage! Ich spreche nicht von den anderen Ländern, weil die Ackerbaukrise sie nicht so sehr berührt. Aber wenn diese Ackerbaukrise die Industriekrise in England ausbrechen läßt, die wir seit 25 Jahren erwarten ... dann!

F. Engels


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