MLWerke Marx/Engels - Werke Artikel und Korrespondenzen 1892
Die Lage der arbeitenden Klasse in England

Seitenzahlen verweisen auf:    Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 22, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1963, Berlin/DDR. S. 265-278.
Korrektur:    1
Erstellt:    06.04.1999

Friedrich Engels

Vorwort [zur englischen Ausgabe (1892) der "Lage der arbeitenden Klasse in England"]

Nach: "The condition of the working-class in England in 1844", London 1892.
Aus dem Englischen.


|265| Das Buch, dessen englische Übersetzung hiermit aufs neue veröffentlicht wird, wurde zuerst in Deutschland 1845 herausgegeben. Damals war der Verfasser jung, vierundzwanzig Jahre alt, und sein Werk trägt den Stempel seiner Jugend im guten wie im schlechten, wessen er sich keineswegs schämt. Es wurde 1886 von einer Amerikanerin, Frau F. Kelley-Wischnewetzky, ins Englische übersetzt und im folgenden Jahr in New York veröffentlicht. Da die amerikanische Ausgabe so gut wie vergriffen ist, ja auf dieser Seite des Atlantiks niemals weite Verbreitung gefunden hat, wird in vollem Einvernehmen mit allen interessierten Seiten die vorliegende autorisierte Ausgabe herausgebracht.

Zur amerikanischen Ausgabe schrieb der Verfasser ein neues Vorwort sowie einen Anhang in englischer Sprache. Das Vorwort hatte wenig mit dem Buch selbst zu tun; es befaßte sich mit der modernen amerikanischen Arbeiterbewegung und ist deshalb hier als nicht zur Sache gehörig weggelassen worden; der Anhang - das ursprüngliche Vorwort - ist in den vorliegenden einleitenden Bemerkungen weitgehend benutzt worden.

Der in diesem Buch beschriebne Stand der Dinge gehört heute - was England angeht - größtenteils der Vergangenheit an. Obwohl nicht ausdrücklich in den anerkannten Lehrbüchern mit aufgezählt, ist es doch ein Gesetz der modernen politischen Ökonomie, daß, je mehr die kapitalistische Produktion sich ausbildet, desto weniger sie bestehn kann bei den kleinen Praktiken der Prellerei und Mogelei, die ihre früheren Stufen kennzeichnen. Die kleinlichen Schlaumeiereien des polnischen Juden, des Repräsentanten des europäischen Handels auf seiner niedrigsten Stufe, diese selben Pfiffe, die ihm in seiner eignen Heimat so vortreffliche Dienste leisten und dort allgemein angewandt werden, lassen ihn im Stich, sobald er nach |266| Hamburg oder Berlin kommt. Desgleichen erkennt der Kommissionär, Jude oder Christ, der von Berlin oder Hamburg kommt, nachdem er einige Monate lang an der Börse von Manchester verkehrt hat, daß er, um Garn oder Gewebe wohlfeil zu kaufen, sich vor allem jener, um ein geringes verfeinerten, aber immer noch jammervollen Manöver und Kniffe entledigen müsse, die in seiner Heimat für die Spitze aller Geschäftsklugheit galten. Und in der Tat, diese Kniffe bezahlen sich nicht mehr in einem großen Markt, wo Zeit Geld ist und wo eine gewisse Höhe der kommerziellen Moralität sich unvermeidlich entwickelt, einfach, um Zeit und Mühe nicht nutzlos zu verlieren. Und genauso steht es mit dem Verhältnis des Fabrikanten zu seinen Arbeitern.

Die Wiederbelebung des Geschäfts nach der Krisis von 1847 war der Anbruch einer neuen industriellen Epoche. Die Abschaffung der Korngesetze und die dadurch bedingten finanziellen Reformen schufen der Industrie und dem Handel Englands allen erwünschten Ellbogenraum. Gleich darauf kam die Entdeckung der kalifornischen und australischen Goldfelder. Die Kolonialmärkte entwickelten in steigendem Maß ihre Absorptionsfähigkeit für englische Industrieprodukte. Der mechanische Webstuhl von Lancashire schaffte ein für allemal Millionen indischer Handweber aus der Welt. China wurde mehr und mehr eröffnet. Und vor allem entwickelten die Vereinigten Staaten - damals vom kommerziellen Standpunkt lediglich ein Kolonialmarkt, wenngleich bei weitem der größte von allen - ihre Wirtschaft mit einer selbst für dieses Land des schnellen Fortschritts erstaunlichen Schnelligkeit. Zu alledem kam aber noch, daß die neuen, am Schluß der vorigen Periode eingeführten Verkehrsmittel - Eisenbahnen und ozeanische Dampfschiffe - jetzt auf internationalem Maßstab verwirklicht wurden und damit das tatsächlich herstellten, was bisher nur der Anlage nach bestanden hatte: den Weltmarkt. Dieser Weltmarkt bestand zuerst aus einer Anzahl von hauptsächlich oder ausschließlich ackerbauenden Ländern, gruppiert um ein Industriezentrum: England. England verbrauchte den größten Teil ihrer überschüssigen Rohprodukte und versorgte sie dafür mit dem größten Teil ihres Bedarfs an Industrieerzeugnissen. Kein Wunder, daß Englands industrieller Fortschritt kolossal und unerhört war, daß uns der Stand von 1844 heute als vergleichsweise unbedeutend und fast waldursprünglich erscheint. In demselben Grad aber, worin dieser Fortschritt sich darstellte, in demselben Grad wurde auch die große Industrie, dem äußeren Schein nach, moralisch. Die Konkurrenz von Fabrikant gegen Fabrikant, vermittelst kleiner Diebstähle an den Arbeitern, zahlte sich nicht mehr. Das Geschäft war solchen mise- |267| rablen Mitteln des Geldverdienens entwachsen, für den fabrizierenden Millionär lohnten sich derlei kleinliche Kniffe nicht. So etwas war gut höchstens für kleine geldbedürftige Leute, die jeden Groschen aufschnappen mußten, wollten sie nicht der Konkurrenz erliegen. So verschwand das Trucksystem, die Zehnstundenbill und eine ganze Reihe kleinerer Reformen ging durch - alles Dinge, die dem Geist des Freihandels und der zügellosen Konkurrenz direkt ins Gesicht schlugen, die aber ebensosehr die Konkurrenz des Riesenkapitalisten gegen seine weniger begünstigten Geschäftskollegen noch überlegner machten. Ferner. Je größer eine industrielle Anlage, je zahlreicher ihre Arbeiter, um so größer war der Schaden und der Geschäftsverdruß bei jedem Konflikt zwischen dem Fabrikanten und den Arbeitern. Daher kam mit der Zeit ein neuer Geist über die Fabrikanten, namentlich über die großen. Sie lernten unnötige Streitereien vermeiden, sich mit dem Bestand und der Macht der Trades Unions abfinden, und schließlich sogar in Strikes - wenn nur zur richtigen Zeit eingeleitet - ein wirksames Mittel entdecken zur Durchführung ihrer eignen Zwecke. So kam es, daß die größten Fabrikanten, früher die Heerführer im Kampf gegen die Arbeiterklasse, jetzt die ersten waren im Aufruf zu Frieden und Harmonie. Und aus sehr guten Gründen. Alle diese Konzessionen an die Gerechtigkeit und Menschenliebe waren eben in Wirklichkeit nur Mittel, die Konzentration des Kapitals in den Händen weniger zu beschleunigen, für die die kleinen Nebenerpressungen früherer Jahre nicht nur alle Wichtigkeit verloren hatten und jetzt geradezu im Weg waren; Mittel, um schneller und sicherer ihre kleineren Konkurrenten zu erdrücken, die ohne solchen Extraverdienst nicht leben konnten. Und so hat die Entwicklung der kapitalistischen Produktion allein hingereicht, wenigstens in den leitenden Industriezweigen - denn in den weniger wichtigen ist dies keineswegs der Fall - alle jene kleineren Beschwerden zu beseitigen, die in frühern Jahren das Los des Arbeiters verschlimmerten. Und so tritt mehr und mehr in den Vordergrund die große Haupttatsache, daß die Ursache des Elends der Arbeiterklasse zu suchen ist nicht in jenen kleinern Übelständen, sondern im kapitalistischen System selbst. Der Lohnarbeiter verkauft dem Kapitalisten seine Arbeitskraft für eine gewisse tägliche Summe. Nach der Arbeit weniger Stunden hat er den Wert jener Summe reproduziert. Aber sein Arbeitsvertrag lautet dahin, daß er nun noch eine weitere Reihe von Stunden fortschanzen muß, um seinen Arbeitstag voll zu machen. Der Wert nun, den er in diesen zusätzlichen Stunden der Mehrarbeit produziert, ist Mehrwert, der dem Kapitalisten nichts kostet, trotzdem aber in seine Tasche fließt. Dies ist die Grundlage |268| des Systems, das mehr und mehr die zivilisierte Gesellschaft spaltet, einerseits in einige wenige Rothschilde und Vanderbilts, die Eigner aller Produktions- und Unterhaltsmittel, und andererseits in eine ungeheure Menge von Lohnarbeitern, Eigner von nichts als ihrer Arbeitskraft. Und daß dies Ergebnis geschuldet ist nicht diesem oder jenem untergeordneten Beschwerdepunkt, sondern einzig dem System selbst - diese Tatsache ist durch die Entwicklung des Kapitalismus in England seit 1847 heute ins grellste Licht gestellt.

Ferner. Die wiederholten Heimsuchungen durch Cholera, Typhus, Pocken und andre Epidemien haben dem britischen Bourgeois die dringende Notwendigkeit eingetrichtert, seine Städte gesund zu machen, falls er nicht mit Familie diesen Seuchen zum Opfer fallen will. Demgemäß sind die in diesem Buch beschriebenen schreiendsten Mißstände heute beseitigt oder doch weniger auffällig gemacht. Die Kanalisation ist eingeführt oder verbessert, breite Straßenzüge sind quer durch viele der schlechtesten unter den "schlechten Vierteln", die ich beschreiben mußte, angelegt. "Kleinirland" ist verschwunden, die "Seven Dials" kommen demnächst an die Reihe. Aber was heißt das? Ganze Bezirke, die ich 1844 noch als fast idyllisch schildern konnte, sind jetzt, mit dem Anwachsen der Städte, herabgefallen in denselben Stand des Verfalls, der Unwohnlichkeit, des Elends. Die Schweine und die Abfallhaufen duldet man freilich nicht mehr. Die Bourgeoisie hat weitere Fortschritte gemacht in der Kunst, das Unglück der Arbeiterklasse zu verbergen. Daß aber, was die Arbeiterwohnungen angeht, kein wesentlicher Fortschritt stattgefunden hat, beweist vollauf der Bericht der königlichen Kommission "on the Housing of the Poor" |"über die Behausungen der Armen"|, 1885. Und ebenso in allem andern. Polizeiverordnungen sind so häufig geworden wie Brombeeren; sie können aber nur das Elend der Arbeiter einhegen, beseitigen können sie es nicht.

Während aber England dem von mir geschilderten Jugendstand der kapitalistischen Ausbeutung entwachsen ist, haben andre Länder ihn eben erst erreicht. Frankreich, Deutschland und vor allem Amerika sind die drohenden Rivalen, die, wie ich 1844 vorhersah, mehr und mehr Englands industrielles Monopol brechen. Ihre Industrie ist jung gegen die englische, aber sie wächst mit weit größrer Geschwindigkeit als diese und ist erstaunlicherweise heute so ziemlich auf derselben Entwicklungsstufe angekommen, worauf die englische 1844 stand. Mit Beziehung auf Amerika ist die Parallele besonders frappant. Allerdings sind die äußern Umgebungen für |269| die amerikanische Arbeiterklasse sehr verschieden, aber dieselben ökonomischen Gesetze sind an der Arbeit, und die Ergebnisse, wenn nicht in jeder Beziehung identisch, müssen doch derselben Ordnung angehören. Daher finden wir in Amerika dieselben Kämpfe für einen kürzeren, gesetzlich festzustellenden Arbeitstag, besonders für Frauen und Kinder in Fabriken; wir finden das Trucksystem in voller Blüte und das Cottagesystem, in ländlichen Gegenden, von den "bosses" ausgebeutet als Mittel der Arbeiterbeherrschung. Als ich 1886 die amerikanischen Zeitungen erhielt mit den Berichten über den großen Strike der 12.000 pennsylvanischen Bergleute im Distrikt von Connellsville, kam es mir vor, als läse ich meine eigne Schilderung des Ausstands der Kohlengräber in Nordengland 1844. Dieselbe Prellerei der Arbeiter durch falsches Maß; dasselbe Trucksystem; derselbe Versuch, den Widerstand der Grubenleute zu brechen durch das letzte zermalmende Mittel des Kapitalisten: die Ausweisung der Arbeiter aus ihren Wohnungen, die der Zechenverwaltung gehören.

Ich habe in dieser Übersetzung nicht versucht, das Buch dem heutigen Stand der Dinge anzupassen, d.h. die seit 1844 eingetretenen Änderungen im einzelnen aufzuzählen. Und zwar aus zwei Gründen. Erstens hätte ich, um es gründlich zu machen, den Umfang des Buches verdoppeln müssen. Und zweitens gibt der erste Band des Marxschen "Kapital", der in englischer Übersetzung vorliegt, eine ausführliche Darstellung der Lage der britischen Arbeiterklasse für die Zeit von etwa 1865, d.h. die Zeit, wo die britische industrielle Prosperität ihren Höhepunkt erreichte. Ich hätte also das wiederholen müssen, was schon in Marx' berühmtem Werk gesagt worden ist.

Es wird wohl kaum nötig sein zu bemerken, daß der allgemein theoretische Standpunkt dieses Buchs - in philosophischer, ökonomischer und politischer Beziehung - sich keineswegs genau deckt mit meinem heutigen Standpunkt. Im Jahr 1844 existierte der moderne internationale Sozialismus noch nicht, der seitdem, vor allem und fast ausschließlich durch die Leistungen von Marx, zu einer Wissenschaft ausgebildet worden. Mein Buch repräsentiert nur eine der Phasen seiner embryonalen Entwicklung. Und wie der menschliche Embryo in seinen frühesten Entwicklungsstufen die Kiemenbögen unserer Vorfahren, der Fische, noch immer reproduziert, so verrät dies Buch überall die Spuren der Abstammung des modernen Sozialismus von einem seiner Vorfahren - der deutschen Philosophie. So wird großes Gewicht gelegt auf die Behauptung, daß der Kommunismus nicht eine bloße Parteidoktrin der Arbeiterklasse ist, sondern eine Theorie, deren Endziel ist die Befreiung der gesamten Gesellschaft, mit Einschluß |270| der Klasse der Kapitalisten, aus den gegenwärtigen einengenden Verhältnissen. Dies ist in abstraktem Sinn richtig, aber in der Praxis meist schlimmer als nutzlos. Solange die besitzenden Klassen nicht nur kein Bedürfnis verspüren nach Befreiung, sondern auch der Selbstbefreiung der Arbeiterklasse sich mit allen Kräften widersetzen, solange wird die Arbeiterklasse nun einmal genötigt sein, die soziale Umwälzung allein einzuleiten und durchzuführen. Die französischen Bourgeois von 1789 erklärten auch die Befreiung der Bourgeoisie für die Emanzipation des gesamten Menschengeschlechts; Adel und Geistlichkeit wollten das aber nicht einsehn; die Behauptung - obwohl damals, soweit der Feudalismus dabei in Betracht kam, eine abstrakte, historische Wahrheit - artete bald aus in pure sentimentale Redensart und verduftete gänzlich im Feuer des revolutionären Kampfs. Heutzutage gibt es auch Leute genug, die den Arbeitern von der "Unparteilichkeit" ihres höheren Standpunkt" einen über allen Klassengegensätzen und Klassenkämpfen erhabenen Sozialismus predigen und danach streben, in einer höheren Menschlichkeit die Interessen beider widerstreitenden Klassen zu versöhnen. Aber diese Leute sind entweder Neulinge, die noch massenhaft zu lernen haben, oder aber die schlimmsten Feinde der Arbeiter, Wölfe im Schafspelz.

Im Text wird die Kreislaufsperiode der großen industriellen Krisen auf fünf Jahre angegeben. Dies war die Zeitbestimmung, die sich aus dem Gang der Ereignisse von 1825 bis 1842 scheinbar ergab. Die Geschichte der Industrie von 1842 bis 1868 hat aber bewiesen, daß die wirkliche Periode eine zehnjährige ist; daß die Zwischenkrisen sekundärer Natur waren und mehr und mehr verschwunden sind. Seit 1868 hat sich die Sachlage wieder verändert; darüber weiter unten.

Ich habe mir nicht einfallen lassen, aus dem Text die vielen Prophezeiungen zu streichen, namentlich nicht die einer nahe bevorstehenden sozialen Revolution in England, wie meine jugendliche Hitze sie mir damals eingab. Das wunderbare ist nicht, daß so viele dieser Prophezeiungen fehlgingen, sondern daß so viele eingetroffen sind und daß die kritische Lage der englischen Industrie, infolge kontinentaler und namentlich amerikanischer Konkurrenz, die ich damals in einer allerdings viel zu nahen Zukunft voraussah, seitdem wirklich eingetreten ist. In Beziehung auf diesen Punkt ist es mir möglich - und ich bin dazu verpflichtet -, das Buch mit dem heutigen Stand der Dinge in Einklang zu bringen. Ich tue es, indem ich hier einen Artikel reproduziere, der in der Londoner "Commonweal" vom 1. März 1885 unter dem Titel "England 1845 und 1885" erschien. Der |271| Artikel gibt zugleich einen kurzen Überblick über die Geschichte der englischen Arbeiterklasse während dieser vierzig Jahre. Er hat folgenden Wortlaut:

"Vor vierzig Jahren stand England vor einer Krisis, die zu lösen allem Anschein nach nur die Gewalt berufen war. Die ungeheure und rasche Entwicklung der Industrie hatte die Ausdehnung der auswärtigen Märkte und die Zunahme der Nachfrage weit überholt. Alle zehn Jahre wurde der Gang der Produktion gewaltsam unterbrochen durch eine allgemeine Handelskrisis, der, nach einer langen Periode chronischer Abspannung, wenige kurze Jahre der Prosperität folgten, um stets wieder zu enden in fieberhafter Überproduktion und schließlich in neuem Zusammenbruch. Die Kapitalistenklasse verlangte laut nach Freihandel in Korn und drohte, ihn zu erzwingen durch Rücksendung der hungernden Städtebevölkerung in die Landbezirke, woher sie kamen; aber, wie John Bright sagte: nicht wie Bedürftige, die um Brot betteln, sondern wie eine Armee, die sich auf feindlichem Gebiete einquartiert. Die Arbeitermassen der Städte verlangten ihren Anteil an der politischen Macht - die Volks-Charte; sie wurden unterstützt von der Mehrzahl der Kleinbürger, und der einzige Unterschied zwischen beiden war, ob die Charte gewaltsam oder gesetzlich durchgeführt werden sollte. Da kam die Handelskrisis von 1847 und die irische Hungersnot, und mit beiden die Aussicht auf Revolution.

Die französische Revolution von 1848 rettete die englische Bourgeoisie. Die sozialistischen Proklamationen der siegreichen französischen Arbeiter erschreckten das englische Kleinbürgertum und desorganisierten die Bewegung der englischen Arbeiter, die innerhalb engerer, aber mehr unmittelbar praktischer Grenzen vor sich ging. Gerade in demselben Augenblick, wo der Chartismus seine volle Kraft entwickeln sollte, brach er in sich selbst zusammen, schon ehe er am 10. April äußerlich zusammenbrach. Die politische Tätigkeit der Arbeiterklasse wurde in den Hintergrund gedrängt. Die Kapitalistenklasse hatte auf der ganzen Linie gesiegt.

Die Parlamentsreform von 1831 war der Sieg der gesamten Kapitalistenklasse über die grundbesitzende Aristokratie. Die Abschaffung der Kornzölle war der Sieg der industriellen Kapitalisten nicht nur über den großen Grundbesitz, sondern auch über die Fraktionen von Kapitalisten, deren Interessen mehr oder weniger mit denen des Grundbesitzes identisch oder verkettet waren: Bankiers, Börsenleute, Rentiers usw. Freihandel bedeutete die Umgestaltung der gesamten inneren und äußeren Finanz- und Handelspolitik Englands im Einklang mit den Interessen der industriellen Kapitalisten, der Klasse, die jetzt die Nation vertrat. Und diese Klasse |272| machte sich ernstlich ans Werk. Jedes Hemmnis der industriellen Produktion wurde unbarmherzig entfernt. Der Zolltarif und das ganze Steuersystem wurden umgewälzt. Alles wurde einem einzigen Zweck untergeordnet, aber einem Zweck von der äußersten Wichtigkeit für den industriellen Kapitalisten: der Verwohlfeilerung aller Rohstoffe und besonders der Lebensmittel für die Arbeiterklasse; der Verringerung der Rohstoffkosten und der Niederhaltung, wenn auch noch nicht der Herunterbringung des Arbeitslohnes. England sollte 'die Werkstatt der Welt werden'; alle anderen Länder sollten für England werden, was Irland schon war - Märkte für seine Industrieprodukte, Bezugsquellen seiner Rohstoffe und Nahrungsmittel. England, der große industrielle Mittelpunkt einer ackerbauenden Welt, mit einer stets wachsenden Zahl Korn und Baumwolle produzierender Trabanten wie Irland, die sich um die industrielle Sonne drehen. Welch herrliche Aussicht!

Die industriellen Kapitalisten gingen an die Durchführung dieses ihres großen Ziels mit dem kräftigen, gesunden Menschenverstand und der Verachtung überkommener Grundsätze, durch die sie sich immer ausgezeichnet haben vor ihren philisterhafteren Konkurrenten auf dem Kontinent. Der Chartismus war im Aussterben. Die Wiederkehr der Geschäftsblüte, natürlich und fast selbstverständlich nachdem der Krach von 1847 sich erschöpft hatte, wurde ausschließlich auf Rechnung des Freihandels geschrieben. Infolge beider Umstände war die englische Arbeiterklasse politisch der Schwanz der 'großen liberalen Partei' geworden, der von den Fabrikanten angeführten Partei. Diesen einmal gewonnenen Vorteil galt es zu verewigen. Und aus der Opposition der Chartisten, nicht gegen den Freihandel, sondern gegen die Verwandlung des Freihandels in die einzige Lebensfrage der Nation, hatten die Fabrikanten begriffen, und sie begriffen täglich mehr, daß die Bourgeoisie nie volle soziale und politische Herrschaft über die Nation erringen kann, außer mit Hilfe der Arbeiterklasse. So veränderte sich allmählich die gegenseitige Haltung beider Klassen. Die Fabrikgesetze, einst der Popanz aller Fabrikanten, wurden jetzt nicht nur willig von ihnen befolgt, sondern mehr oder minder fast auf die ganze Industrie ausgedehnt. Die Trades Unions, vor kurzem noch als Teufelswerk verrufen, wurden jetzt von den Fabrikanten kajoliert und protegiert als äußerst wohlberechtigte Einrichtungen und als ein nützliches Mittel, gesunde ökonomische Lehren unter den Arbeitern zu verbreiten. Selbst Strikes, die vor 1848 in die Acht erklärt worden waren, wurden jetzt gelegentlich recht nützlich befunden, besonders, wenn die Herren Fabrikanten zu gelegener Zeit sie selbst hervorgerufen hatten. Von den Gesetzen, |273| die dem Arbeiter gleiches Recht gegenüber seinem Beschäftiger geraubt hatten, wurden wenigstens die empörendsten abgeschafft. Und die einst so fürchterliche 'Volks-Charte' wurde nun der Hauptsache nach das politische Programm derselben Fabrikanten, die ihr bis zuletzt opponiert hatten. 'Die Abschaffung des Wählbarkeitszensus' und 'die geheime Abstimmung' sind durch Gesetz eingeführt. Die Parlamentsreformen von 1867 und 1884 nähern sich schon stark dem 'allgemeinen Stimmrecht', wenigstens wie es jetzt in Deutschland besteht; die Wahlkreisvorlage, die das Parlament jetzt berät, schafft 'gleiche Wahlkreise', im ganzen wenigstens nicht ungleicher als die in Deutschland. 'Diäten' und kürzere Mandatsdauer, wenn auch nicht gerade 'jährlich gewählte Parlamente', kommen in Sicht als unzweifelhafte Errungenschaften der nächsten Zukunft; und dennoch sagen einige Leute, der Chartismus sei tot.

Die Revolution von 1848, wie manche ihrer Vorgänger, hat seltsame Geschicke gehabt. Dieselben Leute, die sie niederwarfen, sind, wie Karl Marx zu sagen pflegte, ihre Testamentsvollstrecker geworden. Louis-Napoleon war gezwungen, ein einiges und unabhängiges Italien zu schaffen, Bismarck war gezwungen, Deutschland in seiner Art umzuwälzen und Ungarn die Unabhängigkeit wiederzugeben, und die englischen Fabrikanten mußten der Volks-Charte Gesetzeskraft geben.

Die Wirkungen dieser Herrschaft der industriellen Kapitalisten für England waren anfangs staunenerregend. Das Geschäft lebte wieder auf und dehnte sich aus in einem Grade, unerhört selbst in dieser Wiege der modernen Industrie. Alle frühern gewaltigen Schöpfungen des Dampfes und der Maschinerie verschwanden in nichts, verglichen mit dem gewaltigen Aufschwung der Produktion in den zwanzig Jahren von 1850 bis 1870, mit den erdrückenden Ziffern der Ausfuhr und Einfuhr, des in den Händen der Kapitalisten sich aufhäufenden Reichtums und der sich in Riesenstädten konzentrierenden menschlichen Arbeitskraft. Der Fortschritt wurde freilich unterbrochen, wie vorher durch die Wiederkehr einer Krisis alle zehn Jahre, 1857 so gut wie 1866; aber diese Rückschläge galten nun als natürliche unvermeidliche Ereignisse, die man eben durchmachen muß und die .schließlich doch auch wieder ins Gleise kommen.

Und die Lage der Arbeiterklasse während dieser Periode? Zeitweilig gab es Besserung, selbst für die große Masse. Aber diese Besserung wurde immer wieder auf das alte Niveau herabgebracht durch den Zustrom der großen Menge der unbeschäftigten Reserve, durch die fortwährende Ver- |274| drängung von Arbeitern durch neue Maschinerie und durch die Einwanderung der Ackerbauarbeiter, die jetzt auch mehr und mehr durch Maschinen verdrängt wurden.

Eine dauernde Hebung findet sich nur bei zwei 'beschützten' Abteilungen der Arbeiterklasse. Davon sind die erste die Fabrikarbeiter. Die gesetzliche Feststellung verhältnismäßig rationeller Grenzen ihres Arbeitstages hat ihre Körperkonstitution wiederhergestellt und ihnen eine, noch durch ihre lokale Konzentration verstärkte, moralische Überlegenheit gegeben. Ihre Lage ist unzweifelhaft besser als vor 1848. Der beste Beweis dafür ist, daß von zehn Strikes, die sie machen, neun hervorgerufen sind durch die Fabrikanten selbst und in ihrem eignen Interesse als einziges Mittel, die Produktion einzuschränken. Ihr werdet die Fabrikanten nie dahin bringen, daß sie sich alle dazu verstehn, kurze Zeit zu arbeiten, mögen ihre Fabrikate noch so unverkäuflich sein. Aber bringt die Arbeiter zum Striken, und die Kapitalisten schließen ihre Fabriken bis auf den letzten Mann.

Zweitens die großen Trades Unions. Sie sind die Organisationen der Arbeitszweige, in denen die Arbeit erwachsener Männer allein anwendbar ist oder doch vorherrscht. Hier ist die Konkurrenz weder der Weiber- und der Kinderarbeit noch der Maschinerie bisher imstande gewesen, ihre organisierte Stärke zu brechen. Die Maschinenschlosser, Zimmerleute und Schreiner, Bauarbeiter sind jede für sich eine Macht, so sehr, daß sie selbst, wie die Bauarbeiter tun, der Einführung der Maschinerie erfolgreich widerstehn können. Ihre Lage hat sich unzweifelhaft seit 1848 merkwürdig verbessert; der beste Beweis dafür ist, daß seit mehr als fünfzehn Jahren nicht nur ihre Beschäftiger mit ihnen, sondern auch sie mit ihren Beschäftigern äußerst zufrieden gewesen sind. Sie bilden eine Aristokratie in der Arbeiterklasse; sie haben es fertiggebracht, sich eine verhältnismäßig komfortable Lage zu erzwingen, und diese Lage akzeptieren sie als endgültig. Sie sind die Musterarbeiter der Herrn Leone Levi und Giften, und sie sind in der Tat sehr nette, traktable Leute für jeden verständigen Kapitalisten im besondern und für die Kapitalistenklasse im allgemeinen.

Aber was die große Masse der Arbeiter betrifft, so steht das Niveau des Elends und der Existenzunsicherheit für sie heute ebenso niedrig, wenn nicht niedriger als je. Das Ostende von London ist ein stets sich ausdehnender Sumpf von stockendem Elend und Verzweiflung, von Hungersnot, wenn unbeschäftigt, von physischer und moralischer Erniedrigung, wenn beschäftigt. Und so in allen anderen Großstädten, mit Ausnahme nur der bevorrechteten Minderheit der Arbeiter; und so in den kleineren Städten und in den Landbezirken. Das Gesetz, das den Wert der Arbeitskraft |275| auf den Preis der notwendigen Lebensmittel beschränkt, und das andere Gesetz, das ihren Durchschnittspreis der Regel nach auf das Minimum dieser Lebensmittel herabdrückt, diese beiden Gesetze wirken auf sie mit der unwiderstehlichen Kraft einer automatischen Maschine, die sie zwischen ihren Rädern erdrückt.

Das also war die Lage, geschaffen durch die Freihandelspolitik von 1847 und durch die zwanzigjährige Herrschaft der industriellen Kapitalisten. Aber dann kam eine Wendung. Der Krisis von 1866 folgte in der Tat ein kurzer und leichter Geschäftsaufschwung gegen 1873, aber er dauerte nicht. Wir haben in der Tat zu der Zeit, wo sie fällig war, 1877 oder 1878, keine volle Krisis durchgemacht, aber wir leben seit 1876 in einem chronischen Versumpfungszustand aller herrschenden Industriezweige. Weder will der vollständige Zusammenbruch kommen noch die langersehnte Zeit der Geschäftsblüte, auf die wir ein Recht zu haben glaubten, sowohl vor wie nach dem Krach. Ein tödlicher Druck, eine chronische Überfüllung aller Märkte für alle Geschäfte, das ist der Zustand, den wir seit beinahe zehn Jahren durchmachen. Woher das?

Die Freihandelstheorie hatte zum Grund die eine Annahme: daß England das einzige große Industriezentrum einer ackerbauenden Welt werden sollte, und die Tatsachen haben diese Annahme vollständig Lügen gestraft. Die Bedingungen der modernen Industrie, Dampfkraft und Maschinerie, sind überall herstellbar, wo es Brennstoff, namentlich Kohlen, gibt, und andre Länder neben England haben Kohlen: Frankreich, Belgien, Deutschland, Amerika, selbst Rußland. Und die Leute da drüben waren nicht der Ansicht, daß es in ihrem Interesse sei, sich in irische Hungerpächter zu verwandeln, einzig zum größeren Ruhme und Reichtum der englischen Kapitalisten. Sie fingen an zu fabrizieren, nicht nur für sich selbst, sondern auch für die übrige Welt, und die Folge ist, daß das Industriemonopol, das England beinahe ein Jahrhundert besessen hat, jetzt unwiederbringlich gebrochen ist.

Aber das Industriemonopol Englands ist der Angelpunkt des bestehenden englischen Gesellschaftssystems, Selbst während dies Monopol dauerte, konnten die Märkte nicht Schritt halten mit der wachsenden Produktivität der englischen Industrie; die zehnjährigen Krisen waren die Folge. Und jetzt werden neue Märkte täglich seltner, so sehr, daß selbst den Negern am Kongo die Zivilisation aufgezwungen werden soll, die aus den Kattunen von Manchester, den Töpferwaren von Staffordshire und den Metallartikeln von Birmingham fließt. Was wird die Folge sein, wenn kontinentale und besonders amerikanische Waren in stets wachsender Masse hervor- |276| strömen, wenn der jetzt noch den englischen Fabriken zufallende Löwenanteil an der Versorgung der Welt von Jahr zu Jahr zusammenschrumpft? Antworte, Freihandel, du Universalmittel!

Ich bin nicht der erste, der darauf hinweist. Schon 1883, in der Versammlung der British Association in Southport, hat Herr Inglis Palgrave, Präsident der ökonomischen Sektion, geradezu gesagt, daß

"die Tage großer Geschäftsprofite in England vorbei seien und eine Pause eingetreten sei in der Weiterentwicklung verschiedner großer Industriezweige. Man könne fast sagen, daß das Land im Begriffe sei, in einen nicht länger fortschreitenden Zustand überzugehen."

Aber was wird das Ende von alledem sein? Die kapitalistische Produktion kann nicht stabil werden, sie muß wachsen und sich ausdehnen, oder sie muß sterben. Schon jetzt, die bloße Einschränkung von Englands Löwenanteil an der Versorgung des Weltmarkts heißt Stockung, Elend, Übermaß an Kapital hier, Übermaß an unbeschäftigten Arbeitern dort. Was wird es erst sein, wenn der Zuwachs der jährlichen Produktion vollends zum Stillstand gebracht ist?

Hier ist die verwundbare Achillesferse der kapitalistischen Produktion. Ihre Lebensbedingung ist die Notwendigkeit fortwährender Ausdehnung, und diese fortwährende Ausdehnung wird jetzt unmöglich. Die kapitalistische Produktion läuft aus in eine Sackgasse. Jedes Jahr bringt England dichter vor die Frage: Entweder die Nation geht in Stücke oder die kapitalistische Produktion. Welches von beiden muß dran glauben?

Und die Arbeiterklasse? Wenn selbst unter der unerhörten Ausdehnung des Handels und der Industrie von 1848 bis 1868 sie solches Elend durchzumachen hatte, wenn selbst damals ihre große Masse im besten Fall nur eine vorübergehende Verbesserung ihrer Lage erfuhr, während nur eine kleine privilegierte, 'geschützte' Minorität dauernden Vorteil hatte, wie wird es sein, wenn diese blendende Periode endgültig zum Abschluß kommt, wenn die gegenwärtige drückende Stagnation sich nicht nur noch steigert, sondern wenn dieser gesteigerte Zustand ertötenden Drucks der dauernde, der Normalzustand der englischen Industrie wird?

Die Wahrheit ist diese: Solange Englands Industriemonopol dauerte, hat die englische Arbeiterklasse bis zu einem gewissen Grad teilgenommen an den Vorteilen dieses Monopols. Diese Vorteile wurden sehr ungleich unter sie verteilt; die privilegierte Minderheit sackte den größten Teil ein, aber selbst die große Masse hatte wenigstens dann und wann vorübergehend ihr Teil. Und das ist der Grund, warum seit dem Aussterben des Owenismus es in England keinen Sozialismus gegeben hat. Mit dem |277| Zusammenbruch des Monopols wird die englische Arbeiterklasse diese bevorrechtete Stellung verlieren. Sie wird sich allgemein - die bevorrechtete und leitende Minderheit nicht ausgeschlossen - eines Tages auf das gleiche Niveau gebracht sehen wie ihre Arbeitergenossen des Auslandes. Und das ist der Grund, warum es in England wieder Sozialismus geben wird."

Dieser Schilderung der Sachlage, wie sie mir 1885 vorkam, habe ich nur wenig zuzufügen. Es ist unnötig zu sagen, daß es heute "wirklich wieder Sozialismus in England gibt", und das massenhaft: Sozialismus aller Schattierungen, Sozialismus bewußt und unbewußt, Sozialismus in Prosa und in Versen, Sozialismus der Arbeiterklasse und der Mittelklasse. Denn wahrlich, dieser Greuel aller Greuel, der Sozialismus, ist nicht nur respektabel geworden, sondern hat sich allbereits in Gesellschaftstoilette geworfen und lungert nachlässig herum auf Saloncauseusen. Das beweist, von welch unheilbarer Unbeständigkeit jener schreckliche Despot der "guten Gesellschaft" ist: die öffentliche Meinung der Mittelklasse, und rechtfertigt wieder einmal die Verachtung, die wir Sozialisten einer vergangnen Generation stets für diese öffentliche Meinung hegten. Sonst aber haben wir keinen Grund, uns über dies Symptom selbst zu beklagen.

Was ich für weit wichtiger halte als diese augenblickliche Mode, in Bourgeoiszirkeln mit einer verwässerten Lösung von Sozialismus großzutun, und selbst wichtiger als den wirklichen Fortschritt, den der Sozialismus in England im allgemeinen gemacht, das ist das Wiedererwachen des Londoner Ostends. Dies unermeßliche Lager des Elends ist nicht mehr die stagnierende Pfütze, die es vor sechs Jahren noch war. Das Ostend hat seine starre Verzweiflung abgeschüttelt; es ist dem Leben wiedergegeben und ist die Heimat des sogenannten "Neuen Unionismus" geworden, d.h. der Organisation der großen Masse "ungelernter" Arbeiter. Diese Organisation mag in mancher Beziehung die Form der alten Unionen von "gelernten" Arbeitern annehmen; sie ist dennoch wesentlich verschieden dem Charakter nach. Die alten Unionen bewahren die Traditionen der Zeit, wo sie gegründet wurden; sie sehn das Lohnsystem für eine ein für allemal gegebne, endgültige Tatsache an, die sie im besten Fall im Interesse ihrer Mitglieder etwas mildern können. Die neuen Unionen dagegen wurden zu einer Zeit gegründet, wo der Glaube an die Ewigkeit des Lohnsystems schon gewaltig erschüttert war. Ihre Gründer und Beförderer waren entweder bewußte oder Gefühlssozialisten; die Massen, die ihnen zuströmten und in denen ihre Stärke ruht, waren roh, vernachlässigt, von der Aristokratie der Arbeiterklasse über die Achsel angesehn. Aber sie haben diesen einen unermeßlichen Vorteil: Ihre Gemüter sind noch jungfräulicher Boden, gänzlich frei von |278| den ererbten, "respektablen" Bourgeoisvorurteilen, die die Köpfe der bessergestellten "alten" Unionisten verwirren. Und so sehn wir jetzt, wie diese neuen Unionen die Führung der Arbeiterbewegung überhaupt ergreifen und mehr und mehr die reichen und stolzen "alten" Unionen ins Schlepptau nehmen.

Unzweifelhaft haben die Leute des Ostends kolossale Böcke gemacht; das taten aber ihre Vorgänger auch, das tun noch heute die doktrinären Sozialisten, die über jene die Nase rümpfen. Eine große Klasse wie eine große Nation lernt nie schneller als durch die Folgen ihrer eignen Irrtümer. Und trotz aller möglichen Fehler in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bleibt das Erwachen des Ostends von London eins der größten und fruchtbarsten Ereignisse dieses fin de siècle |Jahrhundertendes|, und froh und stolz bin ich, daß ich es erlebte.

F. Engels

11. Januar 1892


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