MLWerke | Marx/Engels - Werke |
Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft | ||
Seitenzahlen verweisen auf: | Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 22, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1963, Berlin/DDR. S. 287-311. | |
Korrektur: | 1 | |
Erstellt: | 06.04.1999 |
|287| Die vorliegende kleine Schrift ist ursprünglich Teil eines größern Ganzen. Um 1875 verkündete Dr. E. Dühring, Privatdozent |in der englischen Ausgabe deutsch: Privatdozent| an der Berliner Universität, plötzlich und ziemlich geräuschvoll seine Bekehrung zum Sozialismus und bescherte dem deutschen Publikum nicht allein eine umständliche sozialistische Theorie, sondern auch einen kompletten praktischen Plan zur Reorganisation der Gesellschaft. Es war eine Selbstverständlichkeit, daß er über seine Vorgänger herfiel; vor allem beehrte er Marx damit, daß er die volle Schale seines Grimms über ihn ausgoß.
Dies geschah um die Zeit, als die beiden Sektionen der Sozialistischen Partei in Deutschland - Eisenacher und Lassalleaner - eben ihre Verschmelzung vollzogen hatten und damit nicht nur einen immensen Kraftzuwachs. sondern, was mehr war, die Fähigkeit zum Einsatz dieser ganzen Kraft gegen den gemeinsamen Feind erhielten. Die Sozialistische Partei in Deutschland war im Begriff, rasch zu einer Macht zu werden. Sie aber zu einer Macht zu machen, dazu war die erste Bedingung, daß die neugewonnene Einheit nicht gefährdet wurde. Dr. Dühring nun schickte sich offen an, um seine Person herum eine Sekte, den Kern einer künftigen separaten Partei zu bilden. So wurde es notwendig, den uns hingeworfnen Fehdehandschuh aufzunehmen und den Strauß auszufechten, ob uns das nun behagen mochte oder nicht.
Nun war dies, wenn auch kein allzu schwieriges, so doch augenscheinlich ein langwieriges Geschäft. Wie man wohl weiß, besitzen wir Deutsche eine erschreckend gewichtige Gründlichkeit |in der englischen Ausgabe deutsch: Gründlichkeit|, einen fundamentalen Tiefsinn oder eine tiefsinnige Fundamentalität, wie man es immer nennen mag. Sooft einer von uns etwas darlegt, was er als eine neue Doktrin ansieht, hat |288| er es zunächst zu einem allumfassenden System auszuarbeiten. Er hat zu beweisen, daß sowohl die ersten Prinzipien der Logik als auch die Grundgesetze des Universums von aller Ewigkeit her zu keinem andern Zweck existiert haben als dazu, in letzter Instanz zu dieser neuentdeckten, allem die Krone aufsetzenden Theorie hinzuleiten. Und Dr. Dühring war in dieser Hinsicht ganz nach dem nationalen Standard. Nicht weniger als ein komplettes "System der Philosophie", der Geistes-, Moral-, Natur- und Geschichtsphilosophie; ein komplettes "System der politischen Ökonomie und des Sozialismus" und zum Schluß eine "Kritische Geschichte der politischen Ökonomie" - drei dicke Oktavbände, schwerfällig von außen und von innen, drei Armeekorps von Argumenten, ins Feld geführt gegen alle vorhergehenden Philosophen und Ökonomen im allgemeinen und gegen Marx im besondern - in der Tat, der Versuch einer kompletten "Umwälzung der Wissenschaft" - das war's, was ich aufs Korn nehmen sollte. Ich hatte alle nur möglichen Gegenstände zu behandeln; von den Begriffen der Zeit und des Raums bis zum Bimetallismus; von der Ewigkeit der Materie und der Bewegung bis zu der vergänglichen Natur der moralischen Ideen; von Darwins natürlicher Zuchtwahl bis zur Jugenderziehung in einer zukünftigen Gesellschaft. Immerhin gab mir die systematische Weitläufigkeit meines Opponenten Gelegenheit, in Opposition zu ihm und in einer zusammenhängenderen Form, als dies früher geschehn war, die von Marx und mir vertretnen Ansichten über diese große Mannigfaltigkeit von Gegenständen zu entwickeln. Und das war der Hauptgrund, der mich diese sonst undankbare Aufgabe in Angriff nehmen ließ.
Meine Antwort wurde zuerst veröffentlicht in einer Artikelreihe im Leipziger "Vorwärts", Zentralorgan der Sozialistischen Partei, und später als Buch: "Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft", von dem 1886 in Zürich eine zweite Auflage erschien.
Auf Ersuchen meines Freundes Paul Lafargue, gegenwärtig Vertreter von Lille in der französischen Deputiertenkammer, richtete ich drei Kapitel dieses Buchs als Broschüre ein, die er übersetzte und 1880 unter dem Titel "Socialisme utopique et socialisme scientifique" veröffentlichte. Nach diesem französischen Text wurden eine polnische und eine spanische Ausgabe veranstaltet. Im Jahre 1883 brachten unsre deutschen Freunde die Broschüre in der Originalsprache heraus. Seitdem sind auf Grund des deutschen Texts italienische, russische, dänische, holländische und rumänische Übersetzungen veröffentlicht worden. Zusammen mit der vorliegenden englischen Ausgabe ist diese kleine Schrift also in zehn Sprachen verbreitet. Ich wüßte nicht, daß irgendein andres sozialistisches Werk, nicht einmal unser |291| "Kommunistisches Manifest" von 1848 oder Marx' "Kapital", so viele Male übersetzt worden wäre. In Deutschland hat es vier Auflagen von insgesamt etwa 20.000 Exemplaren erlebt.
Der Anhang "Die Mark" wurde in der Absicht geschrieben, in der deutschen Sozialistischen Partei einige grundlegende Kenntnisse über die Geschichte und die Entwicklung des Grundeigentums in Deutschland zu verbreiten. Das schien besonders notwendig zu einer Zeit, da sich der Einfluß dieser Partei bereits auf annähernd die gesamte städtische Arbeiterschaft erstreckte und es galt, die Landarbeiter und die Bauern zu gewinnen. Dieser Anhang wurde in die Übersetzung einbezogen, da die ursprünglichen, allen germanischen Stämmen gemeinsamen Formen des Bodenbesitzes und die Geschichte ihres Verfalls in England noch weit weniger bekannt sind als in Deutschland. Ich habe den Originaltext unverändert gelassen, also nicht Bezug genommen auf die unlängst von Maxim Kowalewski aufgestellte Hypothese, der zufolge der Teilung des Acker- und Wiesenlandes unter die Mitglieder der Mark seine für gemeinsame Rechnung erfolgende Bestellung durch eine große patriarchalische Familiengemeinschaft vorausging, die mehrere Generationen umfaßte (wofür die noch heute bestehende südslawische Zadruga ein Beispiel ist), und die Teilung später erfolgte, als die Gemeinschaft so groß geworden war, daß sie für gemeinsamen Wirtschaftsbetrieb zu schwerfällig wurde. Kowalewski hat wahrscheinlich ganz recht, aber die Frage ist noch sub judice |nicht entschieden|.
Die in diesem Buch verwendeten ökonomischen Ausdrücke stimmen, soweit sie neu sind, mit den in der englischen Ausgabe von Marx' "Kapital" benutzten überein. Wir bezeichnen als "Warenproduktion" diejenige ökonomische Phase, in welcher die Gegenstände nicht nur für den Gebrauch der Produzenten, sondern auch für Zwecke des Austausches produziert werden, d.h. als Waren, nicht als Gebrauchswerte. Diese Phase reicht von den ersten Anfängen der Produktion für den Austausch bis herab in unsre gegenwärtige Zeit; sie erlangt ihre volle Entwicklung erst unter der kapitalistischen Produktion, d.h. unter Bedingungen, wo der Kapitalist, der Eigentümer der Produktionsmittel, gegen Lohn Arbeiter beschäftigt, Leute, die aller Produktionsmittel, ihre eigne Arbeitskraft ausgenommen, beraubt sind, und den Überschuß des Verkaufspreises der Produkte über seine Auslagen einsteckt. Wir teilen die Geschichte der industriellen Produktion seit dem Mittelalter in drei Perioden ein: 1. Handwerk, kleine Handwerksmeister mit wenigen Gesellen und Lehrlingen, wobei jeder |292| Arbeiter den vollständigen Artikel herstellt; 2. Manufaktur, wobei eine größre Anzahl Arbeiter, in einer großen Werkstätte gruppiert, den vollständigen Artikel nach dem Prinzip der Arbeitsteilung herstellt, indem jeder Arbeiter nur eine Teiloperation verrichtet, so daß das Produkt erst vollendet ist, nachdem es nacheinander durch die Hände aller gegangen ist; 3. moderne Industrie, wobei das Produkt durch die mittels Kraft angetriebene Maschinerie hergestellt wird und die Tätigkeit des Arbeiters sich darauf beschränkt, die Verrichtungen des Mechanismus zu überwachen und zu korrigieren.|1|
Ich weiß sehr gut, daß der Inhalt dieses Büchleins einen großen Teil des britischen Publikums vor den Kopf stoßen wird. Aber hätten wir Kontinentalen die geringste Rücksicht genommen auf die Vorurteile der britischen "Respektabilität", d.h. des britischen Philisteriums, so wären wir noch schlimmer dran als ohnehin der Fall ist. Diese Schrift vertritt das, was wir den "historischen Materialismus" nennen, und das Wort Materialismus ist für die Ohren der ungeheuren Mehrzahl britischer Leser ein schriller Mißton. "Agnostizismus" ginge noch an, aber Materialismus - rein unmöglich. Und doch ist die Urheimat alles modernen Materialismus, vom siebzehnten Jahrhundert an, nirgendswo anders als in - England.
"Der Materialismus ist der eingeborne Sohn Großbritanniens. Schon sein Scholastiker Duns Scotus fragte sich, 'ob die Materie nicht denken könne'.
Um dies Wunder zu bewerkstelligen, nahm er zu Gottes Allmacht seine Zuflucht, d.h., er zwang die Theologie selbst, den Materialismus zu predigen. Er war überdem Nominalist. Der Nominalismus findet sich als ein Hauptelement bei den englischen Materialisten, wie er überhaupt der erste Ausdruck des Materialismus ist.
Der wahre Stammvater des englischen Materialismus ist Baco. Die Naturwissenschaft gilt ihm als die wahre Wissenschaft und die sinnliche Physik als der vornehmste Teil der Naturwissenschaft. Anaxagoras mit seinen Homoiomerien und Demokrit mit seinen Atomen sind häufig seine Autoritäten. Nach seiner Lehre sind die Sinne untrüglich und die Quelle aller Kenntnisse. Die Wissenschaft ist Erfahrungswissenschaft und besteht dann, eine rationelle Methode auf das sinnlich Gegebne anzuwenden. Induktion, Analyse, Vergleichung, Beobachtung, Experimentieren sind die Hauptbedingungen einer rationellen Methode. Unter den der |293| Materie eingebornen Eigenschaften ist die Bewegung die erste und vorzüglichste, nicht nur als mechanische und mathematische Bewegung, sondern mehr noch als Trieb, Lebensgeist, Spannkraft, als Qual - um den Ausdruck Jakob Böhmes zu gebrauchen (1) - der Materie. Die primitiven Formen der letztern sind lebendige, individualisierende, ihr inhärente, die spezifischen Unterschiede produzierende Wesenskräfte.
In Baco, als seinem ersten Schöpfer, birgt der Materialismus noch auf eine naive Weise die Keime einer allseitigen Entwicklung in sich. Die Materie lacht in poetisch-sinnlichem Glanze den ganzen Menschen an. Die aphoristische Doktrin selbst wimmelt dagegen noch von theologischen Inkonsequenzen.
In seiner Fortentwicklung wird der Materialismus einseitig. Hobbes ist der Systematiker des baconischen Materialismus. Die Sinnlichkeit verliert ihre Blume und wird zur abstrakten Sinnlichkeit des Geometers. Die physische Bewegung wird der mechanischen oder mathematischen geopfert; die Geometrie wird als die Hauptwissenschaft proklamiert. Der Materialismus wird menschenfeindlich. Um den menschenfeindlichen, fleischlosen Geist auf seinem eignen Gebiet überwinden zu können, muß der Materialismus selbst sein Fleisch abtöten und zum Asketen werden. Er tritt auf als ein Verstandeswesen, aber er entwickelt auch die rücksichtslose Konsequenz des Verstandes.
Wenn die Sinnlichkeit alle Kenntnisse den Menschen liefert, demonstriert Hobbes, von Baco ausgehend, so sind Anschauung, Gedanke, Vorstellung etc. nichts als Phantome der mehr oder minder von ihrer sinnlichen Form entkleideten Körperwelt. Die Wissenschaft kann diese Phantome nur benennen. Ein Name kann auf mehrere Phantome angewandt werden. Es kann sogar Namen von Namen geben. Es wäre aber ein Widerspruch, einerseits alle Ideen ihren Ursprung in der Sinnenwelt finden zu lassen und andrerseits zu behaupten, daß ein Wort mehr als ein Wort sei, daß es außer den vorgestellten, immer einzelnen Wesen noch allgemeine Wesen gebe. |294| Eine unkörperliche Substanz ist vielmehr derselbe Widerspruch wie ein unkörperlicher Körper. Körper, Sein, Substanz ist eine und dieselbe reelle Idee. Man kann den Gedanken nicht von einer Materie trennen, die denkt. Sie ist das Subjekt aller Veränderungen. Das Wort unendlich ist sinnlos, wenn es nicht die Fähigkeit unsres Geistes bedeutet, ohne Ende hinzuzufügen. Weil nur das Materielle wahrnehmbar, wißbar ist, so weiß man nichts von Gottes Existenz. Nur meine eigne Existenz ist sicher. Jede menschliche Leidenschaft ist eine mechanische Bewegung, die endet oder anfängt. Die Objekte der Triebe sind das Gute. Der Mensch ist denselben Gesetzen unterworfen wie die Natur. Macht und Freiheit sind identisch.
Hobbes hatte den Baco systematisiert, aber sein Grundprinzip, den Ursprung der Kenntnisse und Ideen aus der Sinnenwelt, nicht näher begründet.
Locke begründet das Prinzip des Baco und Hobbes in seinem Versuch über den Ursprung des menschlichen Verstandes.
Wie Hobbes die theistischen Vorurteile des baconischen Materialismus vernichtete, so Collins, Dodwell, Coward. Hartley, Priestley etc. die letzte theologische Schranke des Lockeschen Sensualismus. Mehr als eine bequeme und nachlässige Weise, die Religion loszuwerden, ist der Deismus wenigstens für den Materialisten nicht."(2)
So sprach Karl Marx sich aus über den britischen Ursprung des modernen Materialismus. Und wenn heutzutage die Engländer sich nicht besonders erbaut fühlen durch die Anerkennung, die er ihren Vorfahren zollte, so kann uns das nur leid tun. Es bleibt trotzdem unleugbar, daß Baco, Hobbes und Locke die Väter waren jener glänzenden Schule französischer Materialisten, die, trotz aller von Deutschen und Engländern zu Land und zur See über Franzosen erfochtnen Siege, das achtzehnte Jahrhundert zu einem vorwiegend französischen Jahrhundert machten; und das lange vor jener den Jahrhundertschluß krönenden französischen Revolution, deren Resultate wir andern, in England wie in Deutschland, noch immer zu akklimatisieren bestrebt sind.
Es ist nun einmal nicht zu leugnen. Wenn um die Mitte unseres Jahrhunderts ein gebildeter Ausländer in England Wohnsitz nahm, so fiel ihm eins am meisten auf, und das war - wie er es auffassen mußte - die religiöse Bigotterie und Dummheit der englischen "respektablen" Mittelklasse. Wir waren damals alle Materialisten oder doch sehr weitgehende Freidenker; |295| es erschien uns unbegreiflich, daß fast alle gebildeten Leute in England an allerlei unmögliche Wunder glaubten und daß selbst Geologen wie Buckland und Mantell die Tatsachen ihrer Wissenschaft verdrehten, damit sie nur ja nicht zu sehr den Mythen der mosaischen Schöpfungsgeschichte ins Gesicht schlugen; unbegreiflich, daß, um Leute zu finden, die ihren Verstand in religiösen Dingen zu brauchen wagten, man gehn mußte zu den Ungebildeten, zu der "ungewaschenen Horde", wie es damals hieß, zu den Arbeitern, besonders den owenistischen Sozialisten.
Aber seitdem ist England "zivilisiert" worden. Die Ausstellung von 1851 läutete die Totenglocke der englischen insularen Ausschließlichkeit. England internationalisierte sich allmählich, in Essen und Trinken, in Sitten, in Vorstellungen, so sehr, daß ich mehr und mehr wünsche, gewisse englische Sitten fänden auf dem Kontinent dieselbe allgemeine Annahme wie andre kontinentale Gebräuche in England. Soviel ist sicher: Die Ausbreitung des (vor 1851 nur der Aristokratie bekannten) Salatöls war begleitet von einer fatalen Ausbreitung des kontinentalen Skeptizismus in religiösen Dingen; und dahin ist es gekommen, daß der Agnostizismus zwar noch nicht für ebenso fein gilt wie die englische Staatskirche, aber doch, was Respektabilität anlangt, fast auf derselben Stufe steht wie die Baptistensekte und jedenfalls einen höheren Rang einnimmt als die Heilsarmee. Und da kann ich mir nicht anders vorstellen, als daß für viele, die diesen Fortschritt des Unglaubens von Herzen bedauern und verfluchen, es tröstlich sein wird, zu erfahren, daß diese neugebacknen Ideen nicht ausländischen Ursprungs, nicht mit der Marke: Made in Germany, deutsches Fabrikat, versehen sind wie so viele andre Artikel alltäglichen Gebrauchs, daß sie im Gegenteil altenglischen Ursprungs sind und daß ihre britischen Urheber vor zweihundert Jahren ein gut Stück weiter gingen als ihre Nachkommen heutigestags,
In der Tat, was ist Agnostizismus anders {1} als verschämter Materialismus? Die Naturanschauung des Agnostikers ist durch und durch materialistisch. Die ganze natürliche Welt wird von Gesetzen beherrscht und schließt jederlei Einwirkung von außen absolut aus. Aber, setzt der Agnostiker vorsichtig hinzu, wir sind nicht imstande, die Existenz oder Nichtexistenz irgendeines höchsten Wesens jenseits der uns bekannten Welt zu beweisen. Dieser Vorbehalt mochte seinen Wert haben zur Zeit, als Laplace auf Napoleons Frage, warum in der "Mécanique céleste" des großen Astronomen der Schöpfer nicht einmal erwähnt sei, die stolze Antwort gab: |296| Je n'avais pas besoin de cette hypothèse. |Ich bedurfte dieser Hypothese nicht.| Heute aber läßt unser Gedankenbild vom Weltall in seiner Entwicklung absolut keinen Raum weder für einen Schöpfer noch für einen Regierer; wollte man aber ein von der ganzen existierenden Welt ausgeschloßnes höchstes Wesen annehmen, so wäre das ein Widerspruch in sich selbst und obendrein, wie mir scheint, eine unprovozierte Verletzung der Gefühle religiöser Leute.
Ebenso gibt unser Agnostiker zu, daß all unser Wissen beruht auf den Mittellungen, die wir durch unsre Sinne empfangen. Aber, setzt er hinzu, woher wissen wir, ob unsre Sinne uns richtige Abbilder der durch sie wahrgenommenen Dinge geben? Und weiter berichtet er uns: Wenn er von Dingen oder ihren Eigenschaften spricht, so meint er in Wirklichkeit nicht diese Dinge und ihre Eigenschaften selbst, von denen er nichts Gewisses wissen kann, sondern nur die Eindrücke, die sie auf seine Sinne gemacht haben. Das ist allerdings eine Auffassungsweise, der es schwierig scheint, auf dem Wege der bloßen Argumentation beizukommen. Aber ehe die Menschen argumentierten, handelten sie. "Im Anfang war die Tat." Und menschliche Tat hatte die Schwierigkeit schon gelöst, lange ehe menschliche Klugtuerei sie erfand. The proof of the pudding is in the eating. |Man prüft den Pudding, indem man ihn ißt.| In dem Augenblick, wo wir diese Dinge, je nach den Eigenschaften, die wir in ihnen wahrnehmen, zu unserm eignen Gebrauch anwenden, in demselben Augenblick unterwerfen wir unsre Sinneswahrnehmungen einer unfehlbaren Probe auf ihre Richtigkeit oder Unrichtigkeit. Waren diese Wahrnehmungen unrichtig, dann muß auch unser Urteil über die Verwendbarkeit eines solchen Dings unrichtig sein, und unser Versuch, es zu verwenden, muß fehlschlagen. Erreichen wir aber unsern Zweck, finden wir, daß das Ding unsrer Vorstellung von ihm entspricht, daß es das leistet, wozu wir es anwandten, dann ist dies positiver Beweis dafür, daß innerhalb dieser Grenzen unsre Wahrnehmungen von dem Ding und von seinen Eigenschaften mit der außer uns bestehenden Wirklichkeit stimmen. Finden wir dagegen, daß wir einen Fehlstoß gemacht, dann dauert es meistens auch nicht lange, ehe wir die Ursache davon entdecken; wir finden, daß die unserm Versuch zugrunde gelegte Wahrnehmung entweder selbst unvollständig und oberflächlich oder mit den Ergebnissen andrer Wahrnehmungen in einer durch die Sachlage nicht gerechtfertigten Weise verkettet worden war {2}. Solange wir unsre Sinne richtig ausbilden und gebrauchen und unsre Handlungsweise innerhalb der durch regelrecht gemachte und verwertete Wahrnehmungen gesetzten Schranken halten, solange werden wir |297| finden, daß die Erfolge unsrer Handlungen den Beweis liefern für die Übereinstimmung unsrer Wahrnehmungen mit der gegenständlichen Natur der wahrgenommenen Dinge. Nicht in einem einzigen Fall, soviel bis heute bekannt, sind wir zu dem Schluß gedrängt worden, daß unsre wissenschaftlich kontrollierten Sinneswahrnehmungen in unserm Gehirn Vorstellungen von der Außenwelt erzeugen, die ihrer Natur nach von der Wirklichkeit abweichen, oder daß zwischen der Außenwelt und unsren Sinneswahrnehmungen von ihr eine angeborne Unverträglichkeit besteht.
Aber dann kommt der neukantianische Agnostiker und sagt: Ja, wir können möglicherweise die Eigenschaften eines Dings richtig wahrnehmen, aber nicht durch irgendwelchen Sinnes- oder Denkprozeß das Ding selbst erfassen. Dies Ding an sich ist jenseits unsrer Kenntnis. Hierauf hat schon Hegel vor langer Zeit geantwortet: Wenn ihr alle Eigenschaften eines Dings kennt, so kennt ihr auch das Ding selbst; es bleibt dann nichts als die Tatsache, daß besagtes Ding außer uns existiert, und sobald eure Sinne euch diese Tatsache beigebracht haben, habt ihr den letzten Rest dieses Dings, Kants berühmtes unerkennbares Ding an sich, erfaßt. Heute können wir dem nur noch zufügen, daß zu Kants Zeit unsre Kenntnis der natürlichen Dinge fragmentarisch genug war, um hinter jedem {3} noch ein besondres geheimnisvolles Ding an sich vermuten zu lassen. Aber seitdem sind diese unfaßbaren Dinge eines nach dem andern durch den Riesenfortschritt der Wissenschaft gefaßt, analysiert und, was mehr ist, reproduziert worden. Und was wir machen können, das können wir sicherlich nicht als unerkennbar bezeichnen. Für die Chemie der ersten Hälfte unsres Jahrhunderts waren die organischen Substanzen solche geheimnisvolle Dinge. Jetzt lernen wir sie eine nach der andern aus den chemischen Elementen und ohne Hilfe organischer Prozesse aufbauen. Die moderne Chemie erklärt: Sobald die chemische Konstitution einerlei welches Körpers bekannt ist, kann dieser Körper aus den Elementen zusammengesetzt werden. Nun sind wir noch weit entfernt von genauer Kenntnis der Konstitution der höchsten organischen Substanzen, der sogenannten Eiweißkörper; aber es liegt durchaus kein Grund vor, warum wir nicht, wenn auch erst nach Jahrhunderten, diese Kenntnis erlangen und mit ihrer Hilfe künstliches Eiweiß machen sollten. Kommen wir aber dahin, so haben wir auch gleichzeitig organisches Leben produziert, denn Leben, von seinen niedrigsten bis zu seinen höchsten Formen, ist nichts als die normale Daseinsweise der Eiweißkörper.
Hat unser Agnostiker aber diese formellen Vorbehalte einmal gemacht, |298| so spricht und handelt er ganz als der hartgesottne Materialist, der er im Grunde ist. Er mag sagen: Soweit wir wissen, kann Materie und Bewegung, oder wie man jetzt sagt, Energie, weder geschaffen noch vernichtet werden, aber wir haben keinen Beweis dafür, daß beide nicht zu irgendeiner unbekannten Zeit erschaffen worden sind. Versucht ihr aber einmal, dies Zugeständnis in einem gegebnen Fall gegen ihn zu verwerten, so wird er euch schleunigst ab- und zur Ruhe verweisen. Gibt er die Möglichkeit des Spiritualismus in abstracto zu, so will er in concreto nichts von ihr wissen. Er wird euch sagen: Soviel wir wissen und wissen können, gibt es keinen Schöpfer oder Regierer des Weltalls; soweit wir in Betracht kommen, sind Materie und Energie ebenso unerschaffbar wie unzerstörbar; für uns ist das Denken eine Form der Energie, eine Funktion des Gehirns; alles, was wir wissen, läuft darauf hinaus, daß die materielle Welt von unveränderlichen Gesetzen beherrscht wird - usw. usw.; soweit er also ein wissenschaftlicher Mann ist, soweit er etwas weiß, soweit ist er Materialist; außerhalb seiner Wissenschaft, auf Gebieten, wo er nicht zu Hause ist, übersetzt er seine Unwissenheit ins Griechische und nennt sie Agnostizismus,
Jedenfalls scheint eines sicher: Selbst wenn ich ein Agnostiker wäre, könnte ich die in diesem Büchlein skizzierte Geschichtsauffassung nicht bezeichnen als "historischen Agnostizismus". Religiöse Leute würden mich auslachen, und die Agnostiker würden mich entrüstet fragen, ob ich sie verhöhnen will. Und so hoffe ich, daß auch die britische "Respektabilität", die man auf deutsch Philisterium heißt, nicht gar zu entsetzt sein wird, wenn ich im Englischen, wie in so vielen andern Sprachen, den Ausdruck "historischer Materialismus" anwende zur Bezeichnung derjenigen Auffassung des Weltgeschichtsverlaufs, die die schließliche Ursache und die entscheidende Bewegungskraft aller wichtigen geschichtlichen Ereignisse sieht in der ökonomischen Entwicklung der Gesellschaft, in den Veränderungen der Produktions- und Austauschweise, in der daraus entspringenden Spaltung der Gesellschaft in verschiedne Klassen und in den Kämpfen dieser Klassen unter sich.
Man wird mir diese Nachsicht vielleicht um so eher angedeihen lassen, wenn ich nachweise, daß der historische Materialismus von Nutzen sein kann sogar für die Respektabilität des britischen Philisters. Ich habe auf die Tatsache hingewiesen, daß vor vierzig oder fünfzig Jahren jedem gebildeten Ausländer, der sich in England niederließ, das unangenehm gegenübertrat, was ihm erscheinen mußte als die religiöse Bigotterie und Verranntheit der englischen "respektablen" Mittelklasse. Ich werde jetzt nachweisen, daß die respektable englische Mittelklasse jener Zeit doch nicht ganz so dumm |299| war, wie sie dem intelligenten Ausländer erschien. Ihre religiösen Tendenzen lassen sich erklären.
Als Europa aus dem Mittelalter herauskam, war das emporkommende Bürgertum der Städte sein revolutionäres Element. Die anerkannte Stellung, die es sich innerhalb der mittelalterlichen Feudalverfassung erobert hatte, war bereits zu eng geworden für seine Expansionskraft. Die freie Entwicklung des Bürgertums vertrug sich nicht mehr mit dem Feudalsystem, das Feudalsystem mußte fallen.
Das große internationale Zentrum des Feudalsystems aber war die römisch-katholische Kirche. Sie vereinigte das ganze feudalisierte Westeuropa, trotz aller innern Kriege, zu einem großen politischen Ganzen, das im Gegensatz stand sowohl zu der schismatisch-griechischen wie zur muhammedanischen Welt. Sie umgab die Feudalverfassung mit dem Heiligenschein göttlicher Weihe. Sie hatte ihre eigne Hierarchie nach feudalem Muster eingerichtet, und schließlich war sie der größte aller Feudalherrn, denn mindestens der dritte Teil alles katholischen Grundbesitzes gehörte ihr. Ehe der weltliche Feudalismus in jedem Land und im einzelnen angegriffen werden konnte, mußte diese seine zentrale, geheiligte Organisation zerstört werden.
Schritt für Schritt mit dem Emporkommen des Bürgertums entwickelte sich aber der gewaltige Aufschwung der Wissenschaft. Astronomie, Mechanik, Physik, Anatomie, Physiologie wurden wieder betrieben. Das Bürgertum gebrauchte zur Entwicklung seiner industriellen Produktion eine Wissenschaft, die die Eigenschaften der Naturkörper und die Betätigungsweisen der Naturkräfte untersuchte. Bisher aber war die Wissenschaft nur die demütige Magd der Kirche gewesen, der es nicht gestattet war, die durch den Glauben gesetzten Schranken zu überschreiten - kurz, sie war alles gewesen, nur keine Wissenschaft. Jetzt rebellierte die Wissenschaft gegen die Kirche; das Bürgertum brauchte die Wissenschaft und machte die Rebellion mit.
Ich habe hiermit nur zwei der Punkte berührt, bei denen das emporstrebende Bürgertum mit der bestehenden Kirche in Kollision kommen mußte; das wird aber genügen zum Beweis, erstens, daß die bei dem Kampf gegen die Machtstellung der katholischen Kirche am meisten beteiligte Klasse eben dies Bürgertum war; und zweitens, daß damals jeder Kampf gegen den Feudalismus eine religiöse Verkleidung annehmen, sich in erster Instanz richten mußte gegen die Kirche. Wurde aber der Schlachtruf angestimmt von den Universitäten und den Geschäftsleuten der Städte, so fand er unvermeidlich starken Widerhall bei den Massen des Landvolks, den Bauern, |300| die überall mit ihren geistlichen und weltlichen Feudalherrn einen harten Kampf kämpften, und zwar um die Existenz selbst.
Der große {4} Kampf des europäischen Bürgertums gegen den Feudalismus kulminierte in drei großen Entscheidungsschlachten.
Die erste war das, was wir die Reformation in Deutschland nennen. Dem Ruf Luthers zur Rebellion gegen die Kirche antworteten zwei politische Aufstände: zuerst der des niedern Adels unter Franz von Sickingen 1523, dann der große Bauernkrieg 1525. Beide wurden erdrückt, hauptsächlich infolge der Unentschlossenheit der meistbeteiligten Partei, der Städtebürger- eine Unentschlossenheit, deren Ursachen wir hier nicht untersuchen können. Von dem Augenblick an entartete der Kampf in einen Krakeel zwischen den Einzelfürsten und der kaiserlichen Zentralgewalt und hatte zur Folge, daß Deutschland für 200 Jahre aus der Reihe der politisch tätigen Nationen Europas gestrichen wurde. Die lutherische Reformation brachte es allerdings zu einer neuen Religion - und zwar zu einer solchen, wie die absolute Monarchie sie grade brauchte. Kaum hatten die nordostdeutschen Bauern das Luthertum angenommen, so wurden sie auch von freien Männern zu Leibeignen degradiert.
Aber wo Luther fehlschlug, da siegte Calvin. Sein Dogma war den kühnsten der damaligen Bürger angepaßt. Seine Gnadenwahl war der religiöse Ausdruck der Tatsache, daß in der Handelswelt der Konkurrenz Erfolg oder Bankrott nicht abhängt von der Tätigkeit oder dem Geschick des einzelnen, sondern von Umständen, die von ihm unabhängig sind. "So liegt es nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern am Erbarmen" überlegner, aber unbekannter ökonomischer Mächte. Und dies war ganz besonders wahr zu einer Zeit ökonomischer Umwälzung, wo alle alten Handelswege und Handelszentren durch neue verdrängt, wo Amerika und Indien der Welt eröffnet wurden und wo selbst die altehrwürdigsten ökonomischen Glaubensartikel - die Werte des Goldes und Silbers - ins Wanken und Krachen gerieten. Dazu war Calvins Kirchenverfassung durchweg demokratisch und republikanisch; wo aber das Reich Gottes republikanisiert war, konnten da die Reiche dieser Welt Königen, Bischöfen und Feudalherrn Untertan bleiben? Wurde das deutsche Luthertum ein gefügiges Werkzeug in den Händen deutscher Kleinfürsten, so gründete der Calvinismus eine Republik in Holland und starke republikanische Parteien in England und namentlich in Schottland.
Im Calvinismus fand die zweite große Erhebung des Bürgertums ihre |301| Kampftheorie fertig vor. Diese Erhebung fand statt in England. Das Bürgertum der Städte setzte sie in Gang, und die Mittelbauern (yeomanry) der Landdistrikte erkämpften den Sieg. Es ist sonderbar genug: In allen den drei großen bürgerlichen Revolutionen liefern die Bauern die Armee zum Schlagen, und die Bauern sind grade die Klasse, die nach erfochtnem Sieg durch die ökonomischen Folgen dieses Siegs am sichersten ruiniert wird. Hundert Jahre nach Cromwell war die yeomanry Englands so gut wie verschwunden. jedenfalls aber war es nur durch die Einmischung dieser yeomanry und des plebejischen Elements der Städte, daß der Streit bis auf die letzte Entscheidung durchgekämpft wurde und Karl I. aufs Schafott kam {5}. Damit selbst nur diejenigen Siegesfrüchte vom Bürgertum eingeheimst wurden, die damals erntereif waren, war es nötig, daß die Revolution bedeutend über das Ziel hinausgeführt wurde - ganz wie 1793 in Frankreich und 1848 in Deutschland. Es scheint dies in der Tat eins der Entwicklungsgesetze der bürgerlichen Gesellschaft zu sein.
Auf dies Übermaß revolutionärer Tätigkeit folgte die unvermeidliche Reaktion, die ihrerseits weit übers Ziel hinausschoß {6}. Nach einer Reihe von Schwankungen wurde der neue Schwerpunkt endlich festgehalten und diente der weitern Entwicklung als Ausgangspunkt. Die großartige Periode der englischen Geschichte, die vom Philisterium als "die große Rebellion" bezeichnet wird, und die ihr folgenden Kämpfe erreichen ihren Abschluß in dem verhältnismäßig winzigen Ereignis von 1689, das die liberale Geschichtsschreibung "die ruhmreiche Revolution" nennt.
Der neue Ausgangspunkt war ein Kompromiß zwischen der aufkommenden Bourgeoisie und den ehemals feudalen Großgrundbesitzern. Diese, obwohl damals wie heute als die Aristokratie bezeichnet, waren schon längst auf dem Wege, das zu werden, was Louis-Philippe in Frankreich erst viel später wurde: die ersten Bourgeois der Nation. Zum Glück für England hatten sich die alten Feudalbarone in den Rosenkriegen gegenseitig totgeschlagen. Ihre Nachfolger, wenn auch meist Sprößlinge derselben alten Familien, kamen doch von so entfernten Seitenlinien, daß sie eine ganz neue Körperschaft ausmachten; ihre Gewohnheiten und Tendenzen waren weit mehr bürgerlich als feudal; sie kannten vollauf den Wert des Geldes und gingen sofort auf Erhöhung ihrer Bodenrenten aus, indem sie Hunderte kleiner Pächter durch Schafe verdrängten. Heinrich VIII. schuf massenweise neue Bourgeois-Landlords, indem er die Kirchengüter verschenkte |302| und verschleuderte; dasselbe taten die bis Ende des siebzehnten Jahrhunderts ununterbrochen fortgesetzten Konfiskationen von großen Gütern, die dann an ganze oder halbe Emporkömmlinge vergeben wurden. Daher hatte die englische "Aristokratie" seit Heinrich VII. nicht nur der Entwicklung der industriellen Produktion nicht entgegengewirkt, sondern umgekehrt aus ihr Nutzen zu ziehn gesucht. Und ebenso hatte sich jederzeit ein Teil der großen Grundbesitzer, aus ökonomischen oder politischen Beweggründen, bereit finden lassen zum Zusammenwirken mit den Führern der finanziellen und industriellen Bourgeoisie. So war also der Kompromiß von 1689 leicht zustande gekommen. Die politischen spolia optima |besten Beutestücke| - Ämter, Sinekuren, große Gehälter - verblieben den großen Landadelsfamilien unter der Bedingung, daß sie die ökonomischen Interessen der finanziellen, fabrizierenden und handeltreibenden Mittelklasse genügend wahrnähmen. Und diese ökonomischen Interessen waren schon damals mächtig genug; sie bestimmten schließlich die allgemeine Politik der Nation. Über Einzelfragen mochte man sich zanken, aber die aristokratische Oligarchie wußte nur zu gut, wie untrennbar ihre eigne ökonomische Prosperität verkettet war mit der der industriellen und kommerziellen Bourgeoisie.
Von dieser Zeit an war die Bourgeoisie ein bescheidner, aber anerkannter Bestandteil der herrschenden Klassen Englands. Mit ihnen allen hatte sie gemein das Interesse an der Niederhaltung der großen arbeitenden Masse des Volks. Der Kaufmann oder Fabrikant selbst hatte gegenüber seinen Kommis, seinen Arbeitern, seinem Gesinde die Stellung des Brotherrn, oder wie man das noch vor kurzem in England nannte, des "natürlichen Vorgesetzten". Er mußte aus ihnen so viel und so gute Arbeit herausschlagen wie möglich; zu diesem Zweck hatte er sie zur entsprechenden Unterwürfigkeit zu erziehen. Er war selbst religiös; seine Religion hatte ihm die Fahne geliefert, worunter er König und Lords bekämpft hatte; nicht lange, so hatte er auch die Mittel entdeckt, die diese Religion ihm bot, um die Gemüter seiner natürlichen Untergebenen zu bearbeiten und sie gehorsam zu machen den Befehlen der Brotherrn, die Gottes unerforschlicher Ratschluß ihnen vorgesetzt. Kurz, der englische Bourgeois war jetzt mitbeteiligt bei der Niederhaltung der "niederen Stände", der großen produzierenden Volksmasse, und eins der dabei gebrauchten Mittel war der Einnuß der Religion.
Es kam aber noch ein andrer Umstand dazu, der die religiösen Neigungen der Bourgeoisie stärkte: das Aufkommen des Materialismus in England. |303| Diese neue gottlose Lehre entsetzte nicht nur den frommen Mittelstand, sie kündigte sich obendrein noch an als eine Philosophie, die sich nur schicke für Gelehrte und gebildete Weltleute, im Gegensatz zur Religion, die gut genug sei für die ungebildete große Masse, mit Einschluß der Bourgeoisie. Mit Hobbes betrat sie die Bühne als Verteidigerin königlicher Allgewalt und rief die absolute Monarchie auf zur Niederhaltung jenes puer robustus sed malitiosus |ein kerniger aber bösartiger Bursche|, des Volks. Und auch bei Hobbes' Nachfolgern, Bolingbroke, Shaftesbury etc., blieb die neue, deistische Form des Materialismus eine aristokratische, esoterische Lehre und deshalb der Bourgeoisie verhaßt nicht nur wegen ihrer religiösen Ketzerei, sondern auch wegen ihrer antibürgerlichen politischen Konnexionen. Demgemäß stellten auch, im Gegensatz zum Materialismus und Deismus der Aristokratie, grade die protestantischen Sekten, die die Fahne und die Mannschaft im Kampf gegen die Stuarts geliefert, ebenfalls die Hauptstreitkräfte der fortschrittlichen Mittelklasse und bilden noch heute den Rückgrat der "großen liberalen Partei".
Inzwischen verpflanzte sich der Materialismus von England nach Frankreich, wo er eine zweite materialistische Philosophenschule vorfand, die aus dem Cartesianismus hervorgegangen war und mit der er verschmolz. Auch in Frankreich blieb er anfangs eine ausschließlich aristokratische Doktrin. Bald aber trat sein revolutionärer Charakter an den Tag. Die französischen Materialisten beschränkten ihre Kritik nicht auf bloß religiöse Dinge; sie kritisierten jede wissenschaftliche Überlieferung, jede politische Institution ihrer Zeit; um die allgemeine Anwendbarkeit ihrer Theorie nachzuweisen, nahmen sie den kürzesten Weg: Sie wandten sie kühnlich an auf alle Gegenstände des Wissens in dem Riesenwerk, nach dem sie benannt wurden, in der "Encyclopédie". So wurde denn der Materialismus in dieser oder jener Form - als erklärter Materialismus oder als Deismus - die Weltanschauung der gesamten gebildeten Jugend Frankreichs; und zwar in solchem Maß, daß während der großen Revolution die von englischen Royalisten in die Welt gesetzte Lehre den französischen Republikanern und Terroristen die theoretische Fahne lieferte und den Text für die "Erklärung der Menschenrechte" abgab.
Die große französische Revolution war die dritte Erhebung der Bourgeoisie, aber die erste, die den religiösen Mantel gänzlich abgeworfen hatte und auf unverhüllt politischem Boden ausgekämpft wurde. Sie war aber auch die erste, die wirklich ausgekämpft wurde bis zur Vernichtung des einen Kombattanten, der Aristokratie, und zum vollständigen Sieg des andern, der Bourgeoisie. In England fanden die ununterbrochene Kon- |304| tinuität der vorrevolutionären und nachrevolutionären Institutionen und der Kompromiß zwischen Großgrundbesitzern und Kapitalisten ihren Ausdruck in der Kontinuität der gerichtlichen Präzedenzfälle wie in der respektvollen Beibehaltung der feudalen Gesetzesformen. In Frankreich machte die Revolution einen vollständigen Bruch mit den Traditionen der Vergangenheit, fegte die letzten Spuren des Feudalismus weg und schuf im Code civil eine meisterhafte Anpassung, an modern kapitalistische Verhältnisse, des alten römischen Rechts - jenes fast vollkommenen Ausdrucks der juristischen Beziehungen, die aus der von Marx als "Warenproduktion" bezeichneten ökonomischen Entwicklungsstufe entspringen; so meisterhaft, daß dies revolutionäre französische Gesetzbuch noch heute in allen andern Ländern - England nicht ausgenommen - als Muster dient bei Reformen des Eigentumsrechts. Vergessen wir aber darüber eines nicht. Wenn das englische Recht fortfährt, die ökonomischen Verhältnisse der kapitalistischen Gesellschaft auszudrücken in einer barbarischen Feudalsprache, die der auszudrückenden Sache ganz so entspricht wie die englische Orthographie der englischen Aussprache - vous écrivez Londres et vous prononcez Constantinople |ihr schreibt London und sprecht Konstantinopel|, sagte ein Franzose -, so ist dies selbe englische Recht auch das einzige, das unverfälscht aufrechterhalten und nach Amerika und den Kolonien verpflanzt hat den besten Teil jener persönlichen Freiheit, lokalen Selbstverwaltung und Sicherung vor allen fremden Eingriffen außer denen der Gerichte, kurz, jener altgermanischen Freiheiten, die auf dem Kontinent unter der absoluten Monarchie verlorengegangen und bis jetzt nirgends vollständig wiedererobert sind.
Doch zurück zu unserm britischen Bourgeois. Die französische Revolution gab ihm eine herrliche Gelegenheit, mit Hilfe der kontinentalen Monarchien den französischen Seehandel zu ruinieren, französische Kolonien zu annexieren und die letzten französischen Ansprüche auf Nebenbuhlerschaft zur See zu unterdrücken. Das war der eine Grund, warum er sie bekämpfte. Ein zweiter war, daß die Methoden dieser Revolution ihm sehr wider die Haare gingen. Nicht nur ihr "verdammenswerter" Terrorismus, sondern schon ihr Versuch, die Bourgeoisherrschaft bis aufs äußerste durchzuführen. Was in aller Welt sollte der britische Bourgeois anfangen ohne seine Aristokratie, die ihm Manieren beibrachte (sie waren auch danach) und Moden für ihn erfand, die die Offiziere lieferte für die Armee, die Erhalterin der Ordnung zu Hause, und für die Flotte, die Eroberin neuer Kolonialbesitzungen und neuer Märkte? - Allerdings fand sich auch |305| eine fortschrittliche Minorität der Bourgeoisie, Leute, deren Interessen bei dem Kompromiß nicht so gut wegkamen; diese Minorität, aus der geringeren Mittelklasse bestehend, sympathisierte mit der Revolution, aber sie war machtlos im Parlament.
Je mehr also der Materialismus das Credo der französischen Revolution wurde, desto fester hielt der gottesfürchtige englische Bourgeois an seiner Religion. Hatte nicht die Schreckenszeit in Paris bewiesen, was daraus entsteht, wenn dem Volk die Religion abhanden kommt? Je mehr der Materialismus sich von Frankreich über die Nachbarländer ausbreitete und durch verwandte theoretische Strömungen, namentlich durch die deutsche Philosophie, Verstärkung erhielt, je mehr in der Tat auf dem Kontinent Materialismus und Freidenkertum überhaupt die notwendige Qualifikation eines gebildeten Menschen wurde, desto zäher hielt die englische Mittelklasse an ihren mannigfachen religiösen Glaubensbekenntnissen. Sie mochten noch so sehr voneinander abweichen, entschieden religiöse, christliche Bekenntnisse waren sie alle.
Während die Revolution den politischen Triumph der Bourgeoisie in Frankreich sicherstellte, leiteten in England Watt, Arkwright, Cartwright und andere eine industrielle Revolution ein, die den Schwerpunkt der ökonomischen Macht vollständig verschob. Der Reichtum der Bourgeoisie wuchs jetzt unendlich schneller als der der Grundaristokratie. Innerhalb der Bourgeoisie selbst trat die Finanzaristokratie, die Bankiers etc., mehr und mehr in den Hintergrund vor den Fabrikanten. Der Kompromiß von 1689, selbst nach den allmählich erfolgten Abänderungen zugunsten der Bourgeoisie, entsprach nicht mehr der gegenseitigen Stellung der Beteiligten. Der Charakter dieser Beteiligten hatte sich ebenfalls geändert; die Bourgeoisie von 1830 war sehr verschieden von der des vorigen Jahrhunderts. Die der Aristokratie noch verbliebne und gegen die Ansprüche der neuen industriellen Bourgeoisie in Bewegung gesetzte politische Macht wurde unverträglich mit den neuen ökonomischen Interessen. Ein erneuter Kampf gegen die Aristokratie wurde nötig; er konnte nur endigen mit dem Sieg der neuen ökonomischen Macht. Unter dem Impuls der französischen Revolution von 1830 wurde zuerst trotz alles Widerstands die Reformakte durchgesetzt. Das gab der Bourgeoisie eine anerkannte und mächtige Stellung im Parlament. Dann kam die Abschaffung der Korngesetze, die ein für allemal die Vorherrschaft der Bourgeoisie und namentlich die ihres tätigsten Teils, der Fabrikanten, über die Grundaristokratie herstellte. Es war dies der größte Sieg der Bourgeoisie, aber auch der letzte, den sie in ihrem eignen ausschließlichen Interesse gewann. Alle ihre späteren |306| Triumphe hatte sie zu teilen mit einer neuen, ihr anfangs verbündeten, nachher aber mit ihr rivalisierenden sozialen Macht.
Die industrielle Revolution hatte eine Klasse großer fabrizierender Kapitalisten geschaffen, aber auch eine weit zahlreichere Klasse fabrizierender Arbeiter. Diese Klasse wuchs fortwährend an Zahl, im Maß, wie die industrielle Revolution einen Produktionszweig nach dem andern ergriff. Mit ihrer Zahl aber wuchs auch ihre Macht, und diese Macht zeigte sich schon 1824, wo sie das widerhaarige Parlament zur Aufhebung der Gesetze gegen die Koalitionsfreiheit zwang. Während der Reformagitation machten die Arbeiter den radikalen Flügel der Reformpartei aus; als die Akte von 1832 sie vom Stimmrecht ausschloß, faßten sie ihre Forderungen in der Volks-Charte (people's charter) zusammen und konstituierten sich, im Gegensatz zur großen bürgerlichen Anti-Korngesetz-Partei, als unabhängige Chartistenpartei. Es war dies die erste Arbeiterpartei unserer Zeit.
Dann kamen die kontinentalen Revolutionen vom Februar und März 1848, worin die Arbeiter eine so bedeutende Rolle spielten und wo sie, wenigstens in Paris, mit Forderungen auftraten, die entschieden unzulässig waren vom Standpunkt der kapitalistischen Gesellschaft. Und dann erfolgte die allgemeine Reaktion. Zuerst die Niederlage der Chartisten am 10 .April 1848, dann die Zermalmung des Pariser Arbeiteraufstands vom Juni desselben Jahres, dann die Unfälle von 1849 in Italien, Ungarn, Süddeutschland, endlich der Sieg des Louis Bonaparte über Paris am 2. Dezember 1851. So war, wenigstens für einige Zeit, der Popanz der Arbeiterforderungen verscheucht, aber mit welchem Kostenaufwand! War also der britische Bourgeois schon früher überzeugt von der Notwendigkeit, das gemeine Volk in religiöser Stimmung zu erhalten, um wieviel dringender mußte er diese Notwendigkeit empfinden nach allen diesen Erfahrungen? Und ohne von dem Hohnlächeln seiner kontinentalen Genossen die geringste Notiz zu nehmen, fuhr er fort, Tausende und Zehntausende aufzuwenden, jahraus, jahrein, für die Evangelisierung der niederen Stände. Nicht zufrieden mit seiner eignen religiösen Maschinerie, wandte er sich an Bruder Jonathan, den dermaligen größten Organisator des religiösen Geschäfts, und importierte aus Amerika den Revivalismus, Moody und Sankey und so weiter; schließlich nahm er sogar den gefährlichen Beistand der Heilsarmee an, die die Propagandamittel des Urchristentums neu belebt, die an die Armen sich wendet als an die Auserwählten, die den Kapitalismus in ihrer religiösen Weise bekämpft und so ein Element urchristlichen Klassenkampfs züchtet, das eines Tages den wohlhabenden |307| Leuten, die heute das bare Geld dafür beischaffen, sehr fatal werden kann.
Es scheint ein Gesetz der historischen Entwicklung, daß die Bourgeoisie in keinem europäischen Land die politische Macht - wenigstens nicht für längere Zeit - in derselben ausschließlichen Weise erobern kann, wie die Feudalaristokratie sie während des Mittelalters sich bewahrte. Selbst in Frankreich, wo der Feudalismus so vollständig ausgerottet wurde, hat die Bourgeoisie, als Gesamtklasse, die Herrschaft nur während kurzer Zeiträume besessen. Unter Louis-Philippe, 1830-1848, herrschte nur ein kleiner Teil der Bourgeoisie, der bei weitem größere war durch den hohen Zensus vom Wahlrecht ausgeschlossen. Unter der zweiten Republik herrschte die ganze Bourgeoisie, aber nur drei Jahre; ihre Unfähigkeit bahnte den Weg für das zweite Kaisertum. Erst jetzt, unter der dritten Republik, hat die Bourgeoisie als Gesamtheit zwanzig Jahre hindurch das Steuer geführt, und dabei entwickelt sie schon jetzt erfreuliche Zeichen des Verfalls. Eine langjährige Herrschaft der Bourgeoisie war bis jetzt nur möglich in Ländern wie Amerika, wo der Feudalismus nie bestand und die Gesellschaft von vornherein von bürgerlicher Grundlage ausging. Und selbst in Frankreich und Amerika klopfen die Nachfolger der Bourgeoisie, die Arbeiter, schon laut an die Tür.
In England hat die Bourgeoisie nie ungeteilte Herrschaft geübt. Selbst der Sieg von 1832 ließ die Aristokratie in fast ausschließlichem Besitz aller hohen Regierungsämter. Die Unterwürfigkeit, womit die reiche Mittelklasse sich das gefallen ließ, blieb mir unerklärlich, bis eines Tages der große liberale Fabrikant Herr W. E. Forster in einer Rede die jungen Leute von Bradford anflehte, ihres eignen Fortkommens wegen doch ja Französisch zu lernen, und dabei erzählte, wie schafsmäßig er sich vorgekommen, als er, Staatsminister geworden, auf einmal in eine Gesellschaft versetzt wurde, wo Französisch mindestens so nötig war wie Englisch! Und in der Tat waren die damaligen englischen Bourgeois, im Durchschnitt, ganz ungebildete Emporkömmlinge, die wohl oder übel der Aristokratie alle jene höheren Regierungsposten überlassen mußten, wo andre Eigenschaften gefordert wurden als insulare Beschränktheit und insulare Aufgeblasenheit, gepfeffert durch Geschäftsschlauheit.(3) Selbst heute noch zeigen die end- |308| losen Zeitungsdebatten über "Middle-class-education" |"bürgerliche Bildung"|, daß die englische Mittelklasse sich noch immer nicht gut genug hält für die beste Erziehung und sich nach etwas Bescheidnerem umsieht. Es schien also auch nach Abschaffung der Korngesetze selbstverständlich, daß die Leute, die den Sieg erkämpft, die Cobdens, Brights, Forsters etc., von jeder Beteiligung an der offiziellen Regierung ausgeschlossen blieben, bis endlich, zwanzig Jahre später, eine neue Reformakte ihnen die Tür des Ministeriums öffnete. Ja, bis heute ist die englische Bourgeoisie so tief durchdrungen vom Gefühl ihrer eignen gesellschaftlichen Inferiorität, daß sie auf ihre eignen und des Volkes Kosten eine Zierkaste von Faulenzern unterhält, die die Nation bei allen Prunkgelegenheiten würdig repräsentieren muß, und daß sie selbst sich höchlichst geehrt fühlt, wenn ein beliebiger Bourgeois würdig befunden wird der Zulassung in diese, schließlich von der Bourgeoisie selbst fabrizierte, exklusive Körperschaft.
So hatte also die industrielle und kommerzielle Mittelklasse es noch nicht fertiggebracht, die Grundaristokratie vollständig von der politischen Macht zu vertreiben, als der neue Konkurrent, die Arbeiterklasse, auf der Bühne erschien. Die Reaktion nach der Chartistenbewegung und den kontinentalen Revolutionen, dazu die unerhörte Ausdehnung der englischen Industrie von 1848 bis 1866 (die gewöhnlich allein dem Freihandel zugut geschrieben wird, die aber weit mehr der kolossalen Ausdehnung der Eisen- |309| bahnen, Ozeandampfer und Verkehrsmittel überhaupt geschuldet ist), hatte die Arbeiter wiederum in die Abhängigkeit von den Liberalen gebracht, bei denen sie, wie zur vorchartistischen Zeit, den radikalen Flügel bildeten. Allmählich aber wurden die Ansprüche der Arbeiter auf das Stimmrecht unwiderstehlich; während die Whigs, die Führer der Liberalen, noch angstmeierten, bewies Disraeli seine Überlegenheit; er nutzte den günstigen Moment für die Tories aus, indem er das Household-Stimmrecht (das jeden einschloß, der ein apartes Haus bewohnte) in den städtischen Wahlbezirken einführte und damit eine Änderung der Wahlbezirke verband. Dann folgte bald die geheime Abstimmung (the ballot); dann, 1884, die Ausdehnung des Household-Stimmrechts auf alle, auch die Grafschaftswahlbezirke, und eine neue Verteilung der Wahlkreise, die diese wenigstens einigermaßen ausglich. Durch alles dies wurde die Macht der Arbeiterklasse bei den Wahlen so sehr vermehrt, daß sie jetzt in 150 bis 200 Wahlkreisen die Mehrzahl der Wähler stellt. Aber keine bessere Schule des Respekts vor der Überlieferung als das parlamentarische System! Wenn die Mittelklasse mit Andacht und Ehrfurcht auf die Gruppe schaut, die Lord John Manners scherzweise "unsern alten Adel" nennt, so blickte damals die Masse der Arbeiter mit Respekt und Ehrerbietung auf die damals sogenannte "bessere Klasse", die Bourgeoisie. Und tatsächlich war der britische Arbeiter vor fünfzehn Jahren der Musterarbeiter, dessen respektvolle Rücksichtnahme auf die Stellung seines Arbeitgebers und dessen Selbstbezähmung und Demut bei Erhebung seiner eignen Ansprüche Balsam in die Wunden goß, die unsern deutschen Kathedersozialisten geschlagen waren durch die unheilbaren kommunistischen und revolutionären Tendenzen ihrer heimischen deutschen Arbeiter.
Jedoch die englischen Bourgeois waren gute Geschäftsleute und sahen weiter als die deutschen Professoren. Nur widerwillig hatten sie ihre Macht mit den Arbeitern geteilt. Während der Chartistenzeit hatten sie gelernt, wessen jener puer robustus sed malitiosus, das Volk, fähig ist. Seitdem war ihnen der größere Teil der Volks-Charte aufgenötigt und Landesgesetz geworden. Mehr als je galt es jetzt, das Volk im Zaum zu halten durch moralische Mittel; das erste und wichtigste moralische Mittel aber, womit man auf die Massen wirkt, blieb - die Religion. Daher stammen die Pfaffenmajoritäten in den Schulbehörden, daher die wachsende Selbstbesteurung der Bourgeoisie für alle möglichen Sorten frommer Demagogie, vom Ritualismus bis zur Heilsarmee.
Und jetzt kam der Triumph des britischen respektablen Philisteriums über die Freigeisterei und religiöse Indifferenz des kontinentalen Bourgeois. |310| Die Arbeiter Frankreichs und Deutschlands waren rebellisch geworden. Sie waren total vom Sozialismus durchseucht und dabei, aus sehr guten Gründen, keineswegs sehr versessen auf die Gesetzlichkeit der Mittel, sich die Herrschaft zu erobern. Der puer robustus war hier in der Tat täglich mehr malitiosus geworden. Was blieb dem französischen und deutschen Bourgeois als letzte Hülfsquelle anders, als ihre Freigeisterei stillschweigend fallenzulassen, ganz wie ein kecker Bengel, wenn die Seekrankheit ihn mehr und mehr beschleicht, die brennende Zigarre verschwinden läßt, mit der er renommistisch an Bord stolziert war? Einer nach dem andern nahmen die Spötter ein äußerlich frommes Wesen an, sprachen mit Achtung von der Kirche, ihren Lehren und Gebräuchen, und machten selbst von den letzteren soviel mit, als nicht zu umgehn war. Französische Bourgeois wiesen am Freitag Fleisch zurück, und deutsche Bourgeois schwitzten in ihren Kirchenstühlen ganze endlose protestantische Predigten durch. Sie waren mit ihrem Materialismus ins Pech geraten. "Die Religion muß dem Volk erhalten werden" - das war das letzte und einzige Mittel zur Rettung der Gesellschaft vor totalem Untergang. Zum Unglück für sie selbst entdeckten sie dies erst, nachdem sie ihr Menschenmöglichstes getan, die Religion für immer zu ruinieren. Und da kam der Moment, wo der britische Bourgeois an der Reihe war zu höhnen und ihnen zuzurufen: Ihr Narren, das hätte ich euch schon vor zweihundert Jahren sagen können!
Jedennoch, fürchte ich, wird weder die religiöse Vernageltheit des britischen noch die post festum erfolgte Bekehrung des kontinentalen Bourgeois die ansteigende proletarische Flut eindämmen. Die Tradition ist eine große hemmende Kraft, sie ist die Trägheitskraft der Geschichte. Aber sie ist bloß passiv und muß deshalb unterliegen. Auch die Religion bildet auf die Dauer keine Schutzmauer der kapitalistischen Gesellschaft. Sind unsre juristischen, philosophischen und religiösen Vorstellungen die nähern oder entferntern Sprößlinge der in einer gegebnen Gesellschaft herrschenden ökonomischen Verhältnisse, so können diese Vorstellungen sich nicht auf die Dauer halten, nachdem die ökonomischen Verhältnisse sich gründlich geändert. Entweder müssen wir an übernatürliche Offenbarung glauben oder zugeben, daß keine religiösen Predigten eine zusammenbrechende Gesellschaft zu stützen imstande sind.
Und in der Tat, auch in England haben die Arbeiter wieder angefangen sich zu bewegen. Unzweifelhaft sind sie gefesselt durch allerlei Traditionen. Bourgeoistraditionen - so der weitverbreitete Aberglaube, es seien nur zwei Parteien möglich, Konservative und Liberale, und die Arbeiterklasse müsse sich ihre Erlösung erarbeiten vermittelst der großen liberalen Partei. |311| Arbeitertraditionen, ererbt aus der Zeit ihrer ersten tastenden Versuche selbständigen Handelns - so die Ausschließung, bei zahlreichen alten Trades Unions, aller derjenigen Arbeiter, die keine regelmäßige Lehrzeit durchgemacht; was nichts andres heißt, als daß jede solche Union sich ihre eignen Strikebrecher züchtet. Aber trotz alledem und alledem bewegt sich die englische Arbeiterklasse vorwärts, wie selbst Herr Professor Brentano seinen kathedersozialistischen Brüdern mit Leidwesen zu berichten genötigt war. Sie bewegt sich, wie alles in England, mit langsamem, gemessenem Schritt, mit Zaudern hier, mit teilweis unfruchtbaren, tastenden Versuchen dort; sie bewegt sich stellenweise mit übervorsichtigem Mißtrauen gegen den Namen Sozialismus, während sie die Sache allmählich in sich aufnimmt; sie bewegt sich, und die Bewegung ergreift eine Schicht der Arbeiter nach der andern. Jetzt hat sie die ungelernten Arbeiter des Londoner Ostendes aus ihrem Todesschlaf emporgerüttelt, und wir alle haben gesehn, welchen prächtigen Anstoß diese neuen Kräfte ihr dafür zurückgegeben haben. Und wenn die Gangart der Bewegung nicht Schritt hält mit der Ungeduld dieser und jener, so mögen diese und jene nicht vergessen, daß es gerade die Arbeiterklasse ist, die die besten Seiten des englischen Nationalcharakters lebendig erhält, und daß jeder Schritt vorwärts, der in England einmal gewonnen ist, nie wieder verlorengeht. Waren die Söhne der alten Chartisten, aus vorhin erwähnten Gründen, nicht alles, was man erwarten konnte, so sieht es doch aus, als würden die Enkel der Großväter würdig sein,
Indes hängt der Sieg der europäischen Arbeiterklasse nicht von England allein ab. Er kann nur sichergestellt werden durch das Zusammenwirken von mindestens England, Frankreich und Deutschland. In den beiden letztern Ländern ist die Arbeiterbewegung der englischen ein gut Stück voraus. In Deutschland steht sie sogar innerhalb meßbarer Entfernung vom Triumph. Der Fortschritt, den sie dort seit fünfundzwanzig Jahren gemacht, ist ohnegleichen. Er bewegt sich voran mit stets wachsender Geschwindigkeit. Hat die deutsche Bourgeoisie bewiesen, welchen jammervollen Mangel sie leidet an politischer Fähigkeit, Disziplin, Mut, Energie, so hat die deutsche Arbeiterklasse gezeigt, daß sie alle diese Eigenschaften in reichlichem Maß besitzt. Vor fast vierhundert Jahren war Deutschland der Ausgangspunkt der ersten großen Erhebung der europäischen Mittelklasse; wie die Dinge heute liegen, sollte es unmöglich sein, daß Deutschland auch der Schauplatz sein wird für den ersten großen Sieg des europäischen Proletariats?
F. Engels
Fußnoten von Friedrich Engels
"Qual" ist ein philosophisches Wortspiel. Qual bedeutet wörtlich torture, einen Schmerz, der zu irgendeiner Tat antreibt; zugleich trägt der Mystiker Böhme in das deutsche Wort etwas von der Bedeutung des lateinischen qualitas |Eigenschaft| hinein; im Gegensatz zu einem Schmerz, der von außen zugefügt wird, war seine "Qual" das aktivierende Prinzip, das aus der spontanen Entwicklung des Dings - der Beziehung oder der Person, die dieser Qual ausgesetzt sind - entsteht und seinerseits fördernd auf die Entwicklung einwirkt. [Fußnote von Engels zum englischen Text; fehlt in der "Neuen Zeit".] <= K. Marx u. F. Engels, "Die heilige Familie", Frankfurt a.M. 1845, p. 201-204. F. E. <= Und selbst in Geschäftssachen ist die Aufgeblasenheit des nationalen Chauvinismus ein gar kläglicher Ratgeber. Bis ganz kürzlich hielt es der gewöhnliche englische Fabrikant für erniedrigend für einen Engländer, eine andre als seine eigne Sprache zu sprechen, und war gewissermaßen stolz darauf, daß "arme Teufel" von Ausländern sich in England niederließen und ihm die Mühe abnahmen, seine Produkte im Ausland zu vertreiben. Er merkte nicht einmal, daß diese Ausländer, meist Deutsche, dadurch einen großen Teil des englischen auswärtigen Handels in ihre Hände bekamen - Einfuhr nicht minder als Ausfuhr - und daß der direkte Auslandshandel der Engländer sich allmählich auf die Kolonien, China, die Vereinigten Staaten und Südamerika beschränkte. Noch weniger merkte er, daß diese Deutschen handelten mit andern Deutschen im Ausland, die mit der Zeit ein vollständiges Netzwerk von Handelskolonien über die ganze Welt organisierten. Als aber vor etwa vierzig Jahren Deutschland im Ernst anfing, für die Ausfuhr zu fabrizieren, da fand es in diesen deutschen Handelskolonien ein Werkzeug vor, das ihm wunderbare Dienste leistete in seiner Verwandlung, in so kurzer Zeit, aus einem kornausführenden Land in ein Industrieland ersten Rangs. Da endlich, vor etwa 10 Jahren, überkam den englischen Fabrikanten die Angst und er frug an bei seinen Gesandten und Konsuln, wie es käme, daß er seine Kunden nicht mehr beisammenhalten könne. Die einstimmige Antwort war: 1. ihr lernt nicht die Sprache eures Kunden, sondern verlangt, daß er die eurige spreche, und 2. ihr versucht nicht einmal, die Bedürfnisse, Gewohnheiten und Geschmäcke eures Kunden zu befriedigen, sondern verlangt, daß er eure englischen annehme. <=Textvarianten
In der englischen Ausgabe eingefügt: um einen treffenden Lancashirer Ausdruck zu gebrauchen <= In der englischen Ausgabe eingefügt: was wir einen Fehlschluß nennen <= In der englischen Ausgabe: hinter dem Wenigen, das wir über jedes von ihnen wußten. <= In der englischen Ausgabe: lange <= In der englischen Ausgabe eingefügt: die Bourgeoisie allein hätte das nie fertiggebracht <= In der englischen Ausgabe lautet der letzte Teil des Satzes: weit über den Punkt hinausschoß, an dem sie sich selbst hätte halten können <=
MLWerke | Marx/Engels - Werke |
Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft | ||