MLWerke Marx/Engels - Werke Artikel und Korrespondenzen 1893

Seitenzahlen verweisen auf:    Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 22, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1963, Berlin/DDR. S. 412/413.
Korrektur:    1
Erstellt:    06.04.1999

Friedrich Engels

[Rede auf einer sozialdemokratischen Versammlung in Berlin am 22. September 1893]

[Zeitungsbericht]


["Vorwärts" Nr. 226 vom 26. September 1893]

|412| Parteigenossinnen und Genossen!

Ich danke Ihnen von Herzen für den glänzenden und unverdienten Empfang, den Sie mir bereitet haben. Ich kann hier nur wiederholen, was ich schon in Zürich und in Wien gesagt: Diesen Empfang sehe ich an als nicht mir persönlich gewidmet, sondern mir als Mitarbeiter und Mitstreiter eines Größeren, als dem Kampfgenossen von Karl Marx, und in diesem Sinne nehme ich ihn dankend entgegen. Sie wissen, ich bin kein Volksredner und kein Parlamentarier, meine Arbeit liegt auf einem anderen Feld, ich arbeite meist in der Studierstube und mit der Feder. Dennoch möchte ich Ihnen noch einige Worte sagen. Es sind, fast auf den Tag, 51 Jahre, daß ich Berlin zuletzt gesehen. Seitdem ist Berlin vollständig umgewandelt. Damals war es eine kleine sogenannte "Residenz" von kaum 350.000 Einwohnern und lebte vom Hof, vom Adel, von der Garnison und der Beamtenwelt. Heute ist es eine große Hauptstadt mit fast zwei Millionen Einwohnern, die von der Industrie lebt; heute könnten Hof, Adel, Garnison und Beamte sich einen anderen Wohnort suchen, und Berlin bliebe doch Berlin. Und die industrielle Entwicklung Berlins hat noch eine andere Umwälzung hervorgebracht. Damals gab es noch keinen einzigen Sozialdemokraten in Berlin; man wußte nicht einmal, was Sozialdemokratie war; heute, vor wenigen Monaten, hat man die Berliner Sozialdemokratie Revue passieren lassen, und sie ist aufmarschiert mit fast 160.000 Stimmen, und Berlin hat fünf sozialdemokratische Abgeordnete auf sechs Vertreter im ganzen. In dieser Beziehung steht Berlin an der Spitze aller europäischen Großstädte und hat selbst Paris weit überflügelt.

|413| Aber nicht nur Berlin, sondern auch das ganze übrige Deutschland hat diese industrielle Revolution durchgemacht. Ich bin sechzehn Jahre lang nicht in Deutschland gewesen. Wie Sie wissen - Sie haben es ja an Ihrer eigenen Person gespürt - hat hier seit 1878 das Sozialistengesetz geherrscht, mit dem Sie nun glücklich fertig geworden sind. Solange dies Gesetz in Kraft war, habe ich es vermieden, nach Deutschland zu kommen; ich wollte den Behörden den Kummer ersparen, mich auszuweisen, was doch sicher geschehen wäre. (Heiterkeit; Rufe: "Das wäre sicher geschehen!") Und da habe ich mich bei meiner gegenwärtigen Reise überzeugen können, wie großartig der Umschwung ist, der in den ökonomischen Verhältnissen Deutschlands stattgefunden hat. Vor einem Menschenalter war Deutschland ein ackerbauendes Land mit einer zu zwei Dritteln ländlichen Bevölkerung; heute ist es ein Industrieland ersten Ranges, und den ganzen Rhein entlang, von der holländischen bis zur Schweizer Grenze, habe ich nicht ein einziges Fleckchen gefunden, wo man um sich schauen kann, ohne Dampfschlote zu sehen. Das scheint allerdings zunächst nur die Kapitalisten anzugehen. Aber die Kapitalisten, indem sie die Industrie steigern, schaffen nicht nur Mehrwert, sie schaffen auch Proletarier, sie zerstören die kleinbürgerlichen und kleinbäuerlichen Mittelstände, sie treiben den Klassengegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat auf die Spitze, und wer Proletarier schafft, der schafft auch Sozialdemokraten. Die Bourgeoisie ist bestürzt bei jeder neuen Reichstagswahl über das unaufhaltsame Anschwellen der sozialdemokratischen Stimmen, sie fragt: Woher kommt das? Ja, hätte sie einigen Verstand, so müßte sie sehn, daß dies ihr eigenes Werk ist! So ist es gekommen, daß die deutsche Sozialdemokratie die einigste, die geschlossenste, die stärkste in der ganzen Welt ist und von Sieg zu Sieg schreitet dank der Ruhe, der Disziplin und dem guten Humor, womit sie ihre Kämpfe führt. Parteigenossen, ich bin überzeugt. Sie werden auch fernerhin Ihre Schuldigkeit tun, und so schließe ich mit dem Rufe: Hoch die internationale Sozialdemokratie!