MLWerke Marx/Engels - Werke Artikel und Korrespondenzen 1893

Seitenzahlen verweisen auf:    Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 22, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1963, Berlin/DDR. S. 544-548.
Korrektur:    1
Erstellt:    06.04.1999

Friedrich Engels

[Interview mit dem Korrespondenten der Zeitung "The Daily Chronicle" Ende Juni 1893]

Aus dem Englischen.


["The Daily Chronicle" vom 1. Juli 1893]

|544| ... Ich traf Herrn Engels in seinem Haus in der Regent's Park Road und fand ihn natürlich begeistert über das Ergebnis der deutschen Reichstagswahlen.

"Wir haben zehn Sitze gewonnen", sagte er als Antwort auf meine Fragen. "Beim ersten Wahlgang erhielten wir 24 Sitze, und von unseren 85 Leuten, die für den zweiten Wahlgang blieben, wurden 20 gewählt. Wir haben sechzehn Sitze gewonnen und sechs verloren, so daß wir einen echten Gewinn von zehn Sitzen haben. Von den sechs Sitzen in Berlin haben wir fünf."

"Wie groß ist Ihre Gesamtstimmenzahl?"

"Das werden wir erst erfahren, wenn der Reichstag zusammentritt und die Wahlberichte vorgelegt werden, aber Sie können mit etwas über 2.000.000 Stimmen rechnen. 1890 erhielten wir 1.427.000 Stimmen. Und Sie müssen bedenken, daß das rein sozialistische Stimmen sind! Alle Parteien schlossen sich gegen uns zusammen, mit Ausnahme eines kleinen Teils der Volkspartei, die eine Art radikal-republikanische Partei ist. Wir stellten 391 Kandidaten auf und ließen uns mit keiner anderen Partei auf Vereinbarungen ein. Hätten wir so etwas gewollt, hätten wir zwanzig oder dreißig Sitze mehr erhalten können, aber wir lehnten standhaft jeglichen Kompromiß ab, und gerade das ist es, was unsere Position so stark macht. Keiner unserer Leute ist verpflichtet, irgendeine Partei oder irgendeine Maßnahme zu unterstützen, ausgenommen unser eigenes Parteiprogramm."

"Aber eigentlich hätten Ihnen Ihre 2.000.000 Wähler mehr Sitze einbringen müssen?"

"Das liegt an der fehlerhaften Verteilung der Sitze. Als der Reichstag zum erstenmal gebildet wurde, setzten wir voraus, daß wir gleiche Wahlbezirke haben würden mit einem Abgeordneten auf je 100.000 Einwohner, aber ursprüngliche Fehler, das Anwachsen der Bevölkerung sowie Zu- und |545| Abwanderung führten dazu, daß die Wählerzahl in den einzelnen Wahlbezirken sehr unterschiedlich ist. Das fügt uns schweren Schaden zu. Nehmen Sie den Fall mit Liebknechts Sitz in Berlin: Er erhielt 51.000 Stimmen in einem Wahlbezirk mit etwa 500.000 Einwohnern."

"Und wie ist es mit den sechs Sitzen, die Sie verloren haben?"

"Nun, mit jedem dieser Sitze sind Umstände verbunden, die seinen Verlust erklären. Bremen wurde 1890 immer für einen glücklichen Zufall angesehen. In Lübeck sind, wie ich gerade von Bebel gehört habe, viele Arbeiter abwesend, und wären die Wahlen im Winter gewesen, hätten wir den Sitz behalten. Dann müssen Sie ferner bedenken, daß Handelsdepressionen uns mehr treffen als Sie, und wir hatten gegen die bittere Feindschaft jedes Unternehmers zu kämpfen. Obgleich die Wahl geheim ist, haben interessierte Leute Mittel und Wege gefunden, das Wahlgeheimnis null und nichtig zu machen. Wir wählen nicht, indem wir einen Wahlschein ausfüllen wie Sie in England, sondern mit Stimmzetteln, die jeder Wähler mitbringt. Außerdem haben die Handelsdepression und die Choleraepidemie von 1892 viele Arbeiter gezwungen, öffentliche Unterstützung anzunehmen, was ihr Wahlrecht für ein Jahr aufhebt.

Aber ich bin auf unsere Niederlagen mehr stolz als auf unsere Siege", fuhr Herr Engels fort. "Im Wahlbezirk Dresden-Land fehlten uns nur 100 Stimmen gegenüber dem gewählten Kandidaten, der die Stimmen aller anderen Parteien erhielt, und dies bei einer Gesamtstimmenzahl von 321.000. In Ottensen fehlten unserem Kandidaten nur 500 Stimmen gegenüber dem gewählten Abgeordneten, der in gleicher Weise unterstützt wurde, bei einer Gesamtstimmenzahl von 27.000. In Stuttgart konnte unser Kandidat 13.315 Stimmen auf sich vereinigen - nur 128 weniger als der gewählte Abgeordnete. In Lübeck waren wir nur mit 154 Stimmen im Hintertreffen, bei einer Gesamtstimmenzahl von 19.000. Und das sind, wie ich bereits sagte, alles sozialistische Stimmen gegenüber einer Koalition aller anderen Parteien."

"Nun sagen Sie mir, was ist Ihr politisches Programm?"

"Unser Programm ist nahezu identisch mit dem der Social Democratic Föderation in England, obwohl unsere Politik eine ganz andere ist."

"Ich nehme an, sie ähnelt mehr der Politik der Fabian Society?"

"Nein, keineswegs", erwiderte Herr Engels sehr lebhaft. "Die Fabian Society halte ich für nichts anderes als eine Filiale der Liberalen Partei. Sie strebt nach sozialer Erneuerung nur mit jenen Mitteln, die Ihre Partei gutheißt. Wir stehen in Opposition zu allen anderen politischen Parteien und werden sie alle bekämpfen. Die englische Social Democratic Federation ist nur eine kleine Sekte und handelt auch so. Sie ist ein exklusiver Verein. |546| Sie hat es nicht verstanden, die Führung der gesamten Arbeiterbewegung zu übernehmen und sie auf den Sozialismus zu orientieren. Sie hat den Marxismus in eine Orthodoxie verwandelt. So hat sie von John Burns verlangt, beim Dockerstreik die rote Fahne zu hissen, wo doch eine solche Maßnahme die ganze Bewegung zugrunde gerichtet und die Dockarbeiter, statt sie zu gewinnen, in die Arme der Kapitalisten zurückgetrieben hätte. So etwas machen wir nicht. Dennoch ist unser Programm ein rein sozialistisches Programm. Unsere erste Forderung ist die Sozialisierung aller Produktionsmittel und Produktionsinstrumente. Zwar akzeptieren wir alles, was uns irgendeine Regierung gibt, aber nur als Abschlagszahlung, für die wir keinen Dank schulden. Wir stimmen immer gegen das Budget und gegen jede Forderung von Geld oder Menschen für die Armee. In Wahlbezirken, wo wir keinen Kandidaten für den zweiten Wahlgang hatten, wurden unsere Anhänger angewiesen, nur für jene Kandidaten zu stimmen, die sich verpflichteten, gegen die Militärvorlage, gegen jede Steuererhöhung und jede Einschränkung der Volksrechte aufzutreten."

"Und wie werden sich die Wahlen auf die deutsche Politik auswirken?"

"Die Militärvorlage wird man durchbringen. Die Opposition steht vor dem völligen Zusammenbruch. In der Tat sind wir jetzt die einzige wirkliche und massive Opposition. Die Nationalliberalen haben sich den Konservativen angeschlossen. Die Freisinnige Partei hat sich in zwei Teile gespalten, und die Wahlen haben sie nahezu vernichtet. Die Katholiken und die kleinen Fraktionen wagen nicht, eine neue Auflösung zu riskieren, und sie werden eher nachgeben als Widerstand leisten."

"Um nun zur europäischen Politik zu kommen, was für Auswirkungen werden Ihrer Ansicht nach die Wahlen auf sie haben?"

"Nun, wenn die Militärvorlage angenommen ist, werden Frankreich und Rußland offensichtlich in der gleichen Richtung etwas unternehmen. Frankreich hat bereits jetzt seine ganze männliche Bevölkerung in die Armee gepreßt, selbst solche Leute, die physisch untauglich sind, aber zweifellos wird es sich mit der Vervollkommnung seiner Armee als Kriegsmaschinerie befassen. Rußland wird bei der Suche nach Offizieren auf Schwierigkeiten stoßen. Österreich und Deutschland werden natürlich gemeinsame Sache machen."

"Demnach bestehen also ziemlich schlechte Aussichten für den Frieden in Europa?"

"Natürlich kann irgendeine Kleinigkeit einen Konflikt auslösen, aber ich glaube nicht, daß die Herrscher dieser Länder einen Krieg wollen. Die Präzision und die Schußweite der neuen Schnellfeuerwaffen und die Einführung von rauchlosem Pulver bedeuten eine solche Revolution in der Kriegführung, daß niemand voraussagen kann, welche Taktik für eine |547| Schlacht unter diesen neuen Bedingungen die richtige sein wird. Es wäre ein Sprung ins Ungewisse. Und die Armeen, die in Zukunft einander gegenüberstehen, werden so gewaltig sein, daß im Vergleich mit dem nächsten Krieg alle vorhergegangenen Kriege ein Kinderspiel waren."

"Und welchen Einfluß wird die Sozialdemokratische Partei Ihrer Meinung nach in Europa haben?"

"Wir sind selbstverständlich für Frieden. Wir haben stets gegen die Annexion von Elsaß-Lothringen protestiert, und nach Sedan haben Marx und ich eine Adresse der Internationale verfaßt, wo wir darauf hinwiesen, daß es zwischen dem deutschen Volk und der Französischen Republik keinen Streit gibt, wo wir Frieden zu ehrenhaften Bedingungen forderten und auch genau auf das hinwiesen, was später eingetreten ist - daß diese Annexion Frankreich in die Arme Rußlands treiben und für den Frieden in Europa eine ständige Bedrohung sein würde. Unsere Partei hat im Reichstag immer gefordert, daß den Elsaß-Lothringern Gelegenheit gegeben werden muß, über ihr künftiges Schicksal zu entscheiden, ob sie sich mit Frankreich wiedervereinen, deutsch bleiben, sich der Schweiz anschließen oder unabhängig werden wollen."

"Demnach rechnen Sie in nicht allzu ferner Zeit mit den 'Vereinigten Staaten von Europa'?"

"Gewiß. Alles läuft darauf hinaus. Unsere Ideen werden in jedem Lande Europas verbreitet. Hier ist" (er griff nach einem dicken Band) "unsere neue Zeitschrift für Rumänien. Wir haben eine ähnliche für Bulgarien. Die Arbeiter der Welt lernen schnell, sich zu vereinen."

"Können Sie mir einige Zahlen nennen, um das Wachstum des Sozialismus in Deutschland zu veranschaulichen?"

Darauf holte Herr Engels ein sorgfältig ausgearbeitetes Diagramm hervor, das die Stimmenzahl jeder Partei bei allen Wahlen veranschaulichte, die seit der Konstituierung des Reichstags in seiner gegenwärtigen Form stattgefunden haben.

"Im Jahre 1877", sagte er, "bekamen wir 500.000 Stimmen; 1881 infolge der Härte des Sozialistengesetzes nur 300.000; 1884 - 550.000 und 1890 - 1.437.000. Diesmal haben wir über 2.000.000 Stimmen erhalten."

"Und worauf führen Sie dieses erstaunliche Anwachsen zurück?"

"Hauptsächlich auf ökonomische Ursachen. Wir haben in Deutschland seit 1860 eine so große industrielle Revolution mit allen ihren üblen Begleiterscheinungen durchgemacht wie Sie in England von 1760 bis 1810. Ihre Unternehmer wissen das sehr wohl. Weiterhin hat die jetzige Handelsdepression unser industriell junges Land mehr getroffen als das Ihrige, ein |548| altes Industrieland. Daher ist der Druck auf die Arbeiter größer gewesen. Wenn ich Arbeiter sage, so verstehe ich darunter die Arbeitenden aller Klassen. Der kleine Händler, der durch das große Handelsunternehmen ruiniert wird, der Angestellte, der Handwerker, der Arbeiter in Stadt und Land, sie alle fangen an, den Druck unseres gegenwärtigen kapitalistischen Systems zu spüren. Und wir weisen ihnen einen wissenschaftlich begründeten Ausweg, und da sie alle lesen und selbständig denken können, kommen sie bald zu den richtigen Schlußfolgerungen und schließen sich unseren Reihen an. Unsere Organisation ist vorzüglich, sie erregt die Bewunderung und die Verzweiflung unserer Widersacher. Sie ist vorzüglich geworden dank dem Sozialistengesetz Bismarcks, das Ihren Ausnahmegesetzen für Irland sehr ähnlich war. Ferner ist unsere militärische Ausbildung und Disziplin von unschätzbarem Wert. Alle 240.000 Wähler Hamburgs erhielten unsere Wahlaufrufe und Literatur in einer Viertelstunde. Im vergangenen Jahr haben selbst die Behörden dieser Stadt an uns appelliert, ihnen beim Versand der Instruktionen zur Bekämpfung der Cholera zu helfen."

.Sie hoffen also, bald - worauf jeder gespannt ist - eine sozialistische Regierung an der Macht zu sehen?"

"Warum nicht? Wenn unsere Partei weiterhin so anwächst wie bisher, werden wir zwischen 1900 und 1910 die Mehrheit haben. Und wenn das der Fall ist, so können Sie überzeugt sein, daß es uns weder an Ideen mangeln wird noch an Menschen, um sie auszuführen. Ihr Volk wird zu dieser Zeit, so vermute ich, eine Regierung haben, in der Herr Sidney Webb bei seinen Versuchen, die Liberale Partei zu durchdringen, graue Haare bekommen wird. Wir glauben nicht an die Durchdringung der bürgerlichen Parteien. Wir durchdringen das Volk."

MLWerke Marx/Engels - Werke Artikel und Korrespondenzen 1893