Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 8, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1960, Berlin/DDR. S. 312-317

XI. | Inhalt | XIII.

XII

<312> Die Industrieausstellung machte Epoche für die Emigration. Der große Strom deutscher Philister, die während des Sommers London überschwemmten, fühlte sich unheimlich in dem großen schwirrenden Kristallpalast und in dem noch viel größeren, rasselnden, lärmenden, schreienden London, und wenn des Tages Last und Arbeit, das pflichtgemäße Besichtigen der Ausstellung und der andern Merkwürdigkeiten im Schweiß des Angesichts vollbracht war, dann erholte sich der deutsche Philister beim Hanauer Wirt Schärttner oder beim Sternenwirt Göhringer, wo alles biergemütlich und tobaksqualmig und wirtshauspolitisch war. Hier "hatte man das ganze Vaterland beisammen", und zudem waren hier gratis die größten Männer Deutschlands zu sehen. Da saßen sie, die Parlamentsmitglieder, die Kammerabgeordneten, die Feldherren, die Klubredner der schönen Zeit von 1848 und 1849, rauchten ihre Pfeife wie ein anderer Mensch auch und verhandelten coram publico <in aller Öffentlichkeit> Tag für Tag mit unerschütterlicher Würde die höchsten Interessen des Vaterlandes. Das war der Ort, wo der deutsche Bürger, kam es ihm nur auf einige Flaschen äußerst billigen Weins nicht an, aufs Haar erfahren konnte, was in den geheimsten Beratungen der europäischen Kabinette vorging. Hier konnte man ihm auf die Minute sagen, wann es "losgehen" werde. Und dabei ging dann eine Flasche nach der andern los, und alle Parteien gingen zwar schwankend, aber mit dem stärkenden Bewußtsein nach Hause, zur Rettung des Vaterlandes das ihrige beigetragen zu haben. Nie hat die Emigration mehr und wohlfeiler gezecht als während dieser massenhaften Anwesenheit eines zahlungsfähigen Philisteriums.

Die wahre Organisation der Emigration war eben diese ihre durch die Ausstellung zu höchster Blüte entwickelte Kneiporganisation unter der Ägide von Silenus-Schärttner in Long Acre <Straße in London>. Hier saß das wahre Zentralkomitee <313> in Permanenz. Alle andern Komitees, Organisationen, Parteibildungen waren pure Flause, patriotische Arabeske dieser urdeutsch-bärenhäuterischen Stammgastwirtschaft.

Außerdem verstärkte sich die Emigration damals noch durch die Ankunft der Herren Meyen, Faucher, Sigel, Goegg, Fickler usw.

Meyen, dieser kleine Igel, der aus Versehen ohne Stacheln auf die Welt gekommen, ist schon früher einmal von Goethe unter dem Namen Poinsinet folgendermaßen geschildert worden:

"Es gibt in der Literatur, wie in der Gesellschaft, solche kleine. wunderliche, purzliche Figuren, die mit einem gewissen Talentchen begabt, sehr zu- und vordringlich sind und, indem sie leicht von jedem übersehen werden, Gelegenheit zu allerlei Unterhaltung gewähren. Indessen gewinnen diese Personen doch immer genug dabei. Sie leben, wirken, werden genannt, und es fehlt ihnen nicht an guter Aufnahme. Was ihnen mißglückt, bringt sie nicht aus der Fassung, sie sehen es als einen einzelnen Fall an und hoffen von der Zukunft die besten Erfolge. Eine solche Figur ist Poinsinet in der französischen literarischen Welt. Bis zum Unglaublichen geht, was man mit ihm vorgenommen, wozu man ihn verleitet, wie man ihn mystifiziert, und selbst sein trauriger Tod, indem er in Spanien ertrank, nimmt nichts von dem lächerlichen Eindruck, den sein Leben machte, hinweg, so wie der Frosch des Feuerwerkers dadurch nicht zu einer Würde gelangt. daß er, nachdem er lange genug geplatzert hat, mit einem stärkeren Knalle endet." <Goethe, "Anmerkungen über Personen und Gegenstände, deren in dem Dialog 'Rameaus Neffen' erwähnt wird.>

Von gleichzeitigen Schriftstellern wird dagegen folgendes von ihm gemeldet: Eduard Meyen gehörte zu den "Entschiedenen", welche der massenhaften Dummheit des übrigen Deutschlands gegenüber die Berliner Intelligenz vertraten. Er hatte mit seinen Freunden Mügge, Klein, Zabel, Buhl u.a. in Berlin auch einen Meyenkäferverein. Jeder dieser Meyenkäfer saß auf seinem besondern Blättchen, Eduard Meyen auf dem "Mannheimer Abendblättchen", auf dem er unter großen Anstrengungen allwöchentlich einmal ein grünes Korrespondenzwürstchen ablagerte. Meyenkäfer brachte es wirklich dahin, daß er 1845 eine Monatsschrift herausgeben sollte; es liefen von verschiednen Seiten Arbeiten ein, der Verleger wartete, aber das ganze Unternehmen scheiterte daran, daß Eduard nach achtmonatlichem Angstschweiß erklärte, er könne den Prospektus nicht fertigbringen. Da unser Eduard alle Kindereien, die er treibt, ernsthaft nimmt, galt er nach der Märzrevolution in Berlin für einen Mann, der es mit der Bewegung ernst nehme. In London arbeitete er nebst Faucher unter der Redaktion und Zensur einer alten Frau, die vor zwanzig Jahren einmal etwas Deutsch verstanden hatte, an der deutschen Ausgabe der "Illustrated London News", wurde aber als unbrauchbar beseitigt, da er mit großer Zähigkeit versuchte, <314> seine schon vor zehn Jahren in Berlin gedruckten tiefsinnigen Artikel über Skulptur auszustellen. Als ihn aber später die Kinkelsche Emigration zu ihrem Sekretär ernannte, sah er ein, daß er ein praktischer homme d'état <Staatsmann> und verkündigte in einem lithographierten Zirkular, daß er zur "Ruhe eines Standpunkts" gekommen sei. Nach seinem Tode wird man eine Masse Titel zu projektierten Arbeiten bei Meyenkäfers Nachlaß finden.

An Meyen schließt sich notwendig sein Mitredakteur und Mitsekretär Oppenheim. Von Oppenheim wird behauptet, daß er kein Mensch, sondern eine allegorische Figur sei: Die Göttin der Langeweile soll nämlich in Frankfurt a.M. in der Gestalt des Sohnes eines jüdischen Juwelenhändlers niedergekommen sein. Als Voltaire schrieb: "Tous les genres sont bons, excepté le genre ennuyeux" <"Jedes Genre ist gut, außer dem langweiligen" (Voltaire, Vorwort zu "L'Enfant prodigue")>, ahnte er unsern Heinrich Bernhard Oppenheim. Wir ziehen in Oppenheim den Schriftsteller dem Sprecher vor. Vor seinen Schriften kann man sich retten, aber vor seinem mündlichen Vortrag - c'est impossible <das ist unmöglich>. Die pythagoreische Seelenwanderung mag ihre Richtigkeit haben, aber der Name, den Heinrich Bernhard Oppenheim in früheren Jahrhunderten trug, ist nicht wiederzuentdecken, da sich in keinem Jahrhundert ein Mensch durch schwatzhafte Unerträglichkeit einen Namen gemacht hat. Sein Leben faßt sich in drei Glanzpunkten zusammen: Redakteur von Arnold Ruge - Redakteur von Brentano - Redakteur von Kinkel.

Der Dritte im Bunde ist Herr Julius Faucher. Er gehört zu jenen Hugenotten der Berliner Kolonie, die ihr kleines Talent mit großem industriellen Geschick zu exploitieren wissen. Er trat zuerst in die Öffentlichkeit als Fähnrich Pistol der Freihandelspartei, in welcher Eigenschaft er von den Hamburger Kaufleuten für die Propaganda engagiert wurde. Sie erlaubten ihm, während der revolutionären Aufregung die Handelsfreiheit unter der wildaussehenden Form der Anarchie zu predigen. Als dies nicht mehr zeitgemäß, wurde er entlassen und übernahm mit Meyen die Redaktion der Berliner "Abendpost". Unter dem Vorwand, der Staat überhaupt müsse abgeschafft und die Anarchie eingeführt werden, entzog er sich hier der gefährlichen Opposition gegen die bestehende Regierung, und als das Blättchen später an der Kaution zugrunde ging, bedauerte die "Neue Preußische Zeitung" das Schicksal Fauchers, des einzig würdigen Schriftstellers unter den Demokraten. Dies gemütliche Verhältnis mit der "Neuen Preußischen Zeitung" wurde bald so intim, daß unser Faucher in London anfing, Korrespondenzen für dies Blättchen zu schreiben. Die Tätigkeit Fauchers in der <315> Emigrationspolitik war nicht von Dauer; sein Freihandel verwies ihn auf die Industrie als seinen Beruf, zu dem er emsigst zurückkehrte und worin er eine bisher unerreichte Leistung prästierte: einen Preiskurant, der seine Artikel nach einer vollständig gleitenden Skala taxiert. Die Indiskretion der "Breslauer Ztg." hat dies Aktenstück bekanntlich auch dem größern Publikum mitgeteilt.

Diesem Dreigestirn der Berliner Intelligenz tritt nun gegenüber das Dreigestirn süddeutscher Kerngesinnung: Sigel, Fickler, Goegg.

Franz Sigel, dieser "kleine, bartlose, in seinem ganzen Wesen an Napoleon erinnernde Mann", wie ihn sein Freund Goegg nennt, ist nach Aussage desselben Goegg "ein Held", "ein Mann der Zukunft", "vor allem genial, produktiv an Geist, rastlos mit neuen Plänen beschäftigt".

Unter uns gesagt, ist General Sigel ein junger badischer Leutnant von Gesinnung und Ambition. Aus den Feldzügen der französischen Revolution las er heraus, daß der Sprung vom Unterleutnant zum Obergeneral pures Kinderspiel ist, und von diesem Augenblick stand es fest für den kleinen bartlosen Mann, Franz Sigel müsse einmal Obergeneral irgendeiner Revolutionsarmee werden. Eine auf Namensverwechslung beruhende Popularität bei der Armee <Siehe S. 322> und die badische Insurrektion von 1849 erfüllten seinen Wunsch. Die Schlachten, die er am Neckar geschlagen und im Schwarzwald nicht geschlagen hat, sind bekannt; sein Rückzug in die Schweiz wird selbst von seinen Feinden als ein zeitgemäßes und richtiges Manöver gerühmt. Seine militärischen Pläne beweisen hier sein Studium der Revolutionskriege. Um der revolutionären Tradition getreu zu bleiben, zog Held Sigel, unbekümmert um den Feind, um Operations- und Rückzugslinien und andre derartige Kleinigkeiten, aus einer Moreauschen Stellung gewissenhaft in die andre, und wenn es ihm trotzdem nicht gelang, die Moreauschen Feldzüge in allen ihren Details zu parodieren, wenn er statt bei Paradies bei Eglichau über den Rhein ging, so ist dies der Beschränktheit des Feindes zuzuschreiben, der ein so gelehrtes Manöver nicht zu würdigen verstand. In seinen Tagesbefehlen und Instruktionen tritt Sigel als Prediger auf und entwickelt zwar weniger Stil, aber mehr Gesinnung als Napoleon. Er hat sich später mit der Ausarbeitung eines Handbuchs für Revolutionsoffiziere aller Waffen beschäftigt, woraus wir folgende wichtige Mitteilung zu machen in den Stand gesetzt sind:

"Ein Revolutionsoffizier muß reglementsmäßig bei sich führen: 1 Kopfbedeckung nebst Mütze, 1 Säbel mit Kuppel, 1 schwarzrotgelbe Schärpe von Kamelhaar, 2 Paar <316> schwarzlederne Handschuhe, 2 Waffenröcke, 1 Mantel, 1 Tuchbeinkleid, l Halsbinde, 2 Paar Stiefel oder Schuhe, 1 schwarzlederne Reisetasche - 12 Zoll breit, 10 Zoll hoch, 4 Zoll dick -, 6 Hemden, 3 Unterhosen, 8 Paar Strümpfe, 6 Nastücher, 2 Handtücher, 1 Wasch- und Rasierzeug, 1 Schreibzeug, 1 Schreibtafel mit Patent, 1 Kleiderbürste, 1 Felddienstreglement."

Joseph Fickler -

"das Vorbild eines biedern, entschiedenen, unerschütterlich ausharrenden Volksmannes, der das ganze badische Oberland und den Seekreis wie einen Mann zu seiner Unterstützung und durch seine langjährigen Kämpfe und Leiden eine Brentano nahekommende Popularität hatte" (nach der Schilderung seines Freundes Goegg).

Joseph Fickler hat, wie es einem biedern, entschiedenen, unerschütterlichen Volksmann geziemt, ein feistes Vollmondsgesicht, einen dicken Kehlbraten und entsprechenden Wanstumfang. Aus seinem früheren Leben ist nur bekannt, daß er mit einem Bildschnitzkunstwerk aus dem fünfzehnten Säkulum und mit Reliquien, die auf das Konstanzer Konzil Bezug hatten, eine livelihood <einen Lebensunterhalt> gewann, indem die Reisenden und fremden Kunstliebhaber jene Merkwürdigkeiten für Geld in Augenschein nahmen und nebenbei "altertümliche" Andenken kauften, die Fickler, wie er mit bedeutendem Selbstgenuß erzählt, immer wieder aufs neue "altertümlich" anfertigen ließ.

Seine einzigen Taten während der Revolution waren erstens seine Verhaftung durch Mathy nach dem Vorparlament und zweitens seine Verhaftung durch Römer in Stuttgart im Juni 1849; dank diesen Verhaftungen ist er an der Gefahr, sich zu kompromittieren, glücklich vorbeigeschifft. Die württembergischen Demokraten stellten später für ihn 1.000 Gulden Kaution, worauf Fickler inkognito ins Thurgau ging und zum großen Bedauern der Kautionssteller nichts mehr von sich hören ließ. Es ist nicht zu leugnen, daß er in den "Seeblättern" die Gefühle und Meinungen der Seebauern mit Glück in Druckerschwärze übersetzte; übrigens ist er in d. Hinblick auf seinen Freund Ruge der Meinung, daß das viele Studieren dumm macht, weshalb er auch seinen Freund Goegg warnte, die Bibliothek des Britischen Museums zu besuchen.

Amandus Goegg, liebenswürdig, wie schon sein Name besagt, ist zwar kein großer Redner, "aber ein schlichter Bürger, dessen edles und bescheidenes Betragen ihm überall Freunde erwirkt" ("Westamerikanische Blätter"). Aus Edelmut wurde Goegg Mitglied der provisorischen Regierung in Baden, wo er eingestandenermaßen gegen Brentano nichts ausrichten konnte, und aus Bescheidenheit ließ er sich den Titel Herr Diktator beilegen. Niemand leugnet, daß seine Leistungen als Finanzminister bescheiden waren. Aus <317> Bescheidenheit proklamierte er d. letzten Tag vor dem schon angeordneten Gesamtrückzug nach der Schweiz die "Sozial-demokratische Republik" in Donaueschingen. Aus Bescheidenheit erklärte er später (s. "Janus" von Heinzen 1852), d. Pariser Proletariat habe den 2. Dezember verloren, weil es seine badisch-französische und die sonst in dem französischen Süddeutschland gangbare demokratische Einsicht nicht besaß. Wer von der Bescheidenheit Goeggs und von dem Vorhandensein einer "Goeggschen Partei" weitere Beweise wünscht, findet sie in der Schrift: "Rückblick auf die badische Revolution pp.", Paris 1850, von ihm selbst geschrieben. Er setzte seiner Bescheidenheit die Krone auf, als er in einem öffentlichen Meeting in Cincinnati erklärte:

"Angesehene Männer seien nach dem Bankerutt der badischen Revolution zu ihm nach Zürich gekommen und hätten erklärt: An der badischen Revolution hätten Männer aller deutschen Stämme teilgenommen, sie sei deshalb als eine deutsche Sache zu betrachten, wie die römische Revolution als eine italienische. Er sei der Mann gewesen, der ausgehalten habe, er müsse also deutscher Mazzini werden. Aus Bescheidenheit habe er es abgelehnt."

Warum? Wer schon einmal Herr "Diktator" war und noch der Busenfreund von "Napoleon" Sigel ist, konnte auch "deutscher Mazzini werden".

Nachdem durch diese und ähnliche, weniger hervorragende Ankömmlinge die Emigration au grand complet <absolut vollzählig> war, konnte sie zu den gewaltigen Kämpfen übergehn, die im nächsten Gesange dem Leser vorgeführt werden.