MLWerke | Vorworte | Inhalt | 1. Abschnitt | Marx/Engels

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/ Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 20. Berlin/DDR. 1962. »Herrn Eugen Dührung's Umwälzung der Wissenschaft«, S. 16-31.
1. Korrektur
Erstellt am 05.09.1999

Friedrich Engels - Herrn Eugen Dühring's Umwälzung der Wissenschaft

Einleitung

  1. Allgemeines
  2. Was Herr Dühring verspricht

I. Allgemeines

|16| Der moderne Sozialismus ist seinem Inhalte nach zunächst das Erzeugnis der Anschauung, einerseits der in der modernen Gesellschaft herrschenden Klassengegensätze von Besitzenden und Besitzlosen, Lohnarbeitern und Bourgeois, andrerseits der in der Produktion herrschenden Anarchie. Aber seiner theoretischen Form nach erscheint er anfänglich als eine weitergetriebne, angeblich konsequentere Fortführung der von den großen französischen Aufklärern des 18. Jahrhunderts aufgestellten Grundsätze.{1} Wie jede neue Theorie, mußte er zunächst anknüpfen an das vorgefundne Gedankenmaterial, sosehr auch seine Wurzel in den ökonomischen Tatsachen lag.

Die großen Männer, die in Frankreich die Köpfe für die kommende Revolution klärten, traten selbst äußerst revolutionär auf. Sie erkannten keine äußere Autorität an, welcher Art sie auch sei. Religion, Naturanschauung, Gesellschaft, Staatsordnung, alles wurde der schonungslosesten Kritik unterworfen; alles sollte seine Existenz vor dem Richterstuhl der Vernunft rechtfertigen oder auf die Existenz verzichten. Der denkende Verstand wurde als alleiniger Maßstab an alles angelegt. Es war die Zeit, wo, wie Hegel sagt, die Welt auf den Kopf gestellt wurde, zuerst in dem Sinn, daß der menschliche Kopf und die durch sein Denken gefundnen Sätze den Anspruch |17| machten, als Grundlage aller menschlichen Handlung und Vergesellschaftung zu gelten; dann aber später auch in dem weitern Sinn, daß die Wirklichkeit, die diesen Sätzen widersprach, in der Tat von oben bis unten umgekehrt wurde. Alle bisherigen Gesellschafts- und Staatsformen, alle altüberlieferten Vorstellungen wurden als unvernünftig in die Rumpelkammer geworfen; die Welt hatte sich bisher lediglich von Vorurteilen leiten lassen; alles Vergangene verdiente nur Mitleid und Verachtung. Jetzt erst brach das Tageslicht an; von nun an sollte der Aberglaube, das Unrecht, das Privilegium und die Unterdrückung verdrängt werden durch die ewige Wahrheit, die ewige Gerechtigkeit, die in der Natur begründete Gleichheit und die unveräußerlichen Menschenrechte.

Wir wissen jetzt, daß dies Reich der Vernunft weiter nichts war, als das idealisierte Reich der Bourgeoisie; daß die ewige Gerechtigkeit ihre Verwirklichung fand in der Bourgeoisjustiz; daß die Gleichheit hinauslief auf die bürgerliche Gleichheit vor dem Gesetz; daß als eins der wesentlichsten Menschenrechte proklamiert wurde - das bürgerliche Eigentum; und daß der Vernunftstaat, der Rousseausche Gesellschaftsvertrag ins Leben trat und nur ins Leben treten konnte als bürgerliche, demokratische Republik. Sowenig wie alle ihre Vorgänger, konnten die großen Denker des 18. Jahrhunderts über die Schranken hinaus, die ihnen ihre eigne Epoche gesetzt hatte.

Aber neben dem Gegensatz von Feudaladel und Bürgertum bestand der allgemeine Gegensatz von Ausbeutern und Ausgebeuteten, von reichen Müßiggängern und arbeitenden Armen. War es doch grade dieser Umstand, der es den Vertretern der Bourgeoisie möglich machte, sich als Vertreter, nicht einer besondren Klasse, sondern der ganzen leidenden Menschheit hinzustellen. Noch mehr. Von ihrem Ursprung an war die Bourgeoisie behaftet mit ihrem Gegensatz: Kapitalisten können nicht bestehn ohne Lohnarbeiter, und im selben Verhältnis wie der mittelalterliche Zunftbürger sich zum modernen Bourgeois, im selben Verhältnis entwickelte sich auch der Zunftgeselle und nichtzünftige Tagelöhner zum Proletarier. Und wenn auch im ganzen und großen das Bürgertum beanspruchen durfte, im Kampf mit dem Adel gleichzeitig die Interessen der verschiednen arbeitenden Klassen jener Zelt mitzuvertreten, so brachen doch bei jeder großen bürgerlichen Bewegung selbständige Regungen derjenigen Klasse hervor, die die mehr oder weniger entwickelte Vorgängerin des modernen Proletariats war. So in der deutschen Reformations- und Bauernkriegszeit die Thomas Münzersche Richtung; in der großen englischen Revolution die Levellers; in der großen französischen Revolution Babeuf. Neben diesen |18| revolutionären Schilderhebungen einer noch unfertigen Klasse gingen entsprechende theoretische Manifestationen her; im 16. und 17. Jahrhundert utopische Schilderungen idealer Gesellschaftszustände, im 18. schon direkt kommunistische Theorien (Morelly und Mably). Die Forderung der Gleichheit wurde nicht mehr auf die politischen Rechte beschränkt, sie sollte sich auch auf die gesellschaftliche Lage der einzelnen erstrecken; nicht bloß die Klassenprivilegien sollten aufgehoben werden, sondern die Klassenunterschiede selbst. Ein asketischer, an Sparta anknüpfender Kommunismus war so die erste Erscheinungsform der neuen Lehre. Dann folgten die drei großen Utopisten: Saint-Simon, bei dem die bürgerliche Richtung noch neben der proletarischen eine gewisse Geltung behielt; Fourier, und Owen, der, im Lande der entwickeltsten kapitalistischen Produktion und unter dem Eindruck der durch diese erzeugten Gegensätze, seine Vorschläge zur Beseitigung der Klassenunterschiede in direkter Anknüpfung an den französischen Materialismus systematisch entwickelte.

Allen dreien ist gemeinsam, daß sie nicht als Vertreter der Interessen des inzwischen historisch erzeugten Proletariats auftreten. Wie die Aufklärer, wollen sie nicht eine bestimmte Klasse, sondern die ganze Menschheit befreien. Wie jene, wollen sie das Reich der Vernunft und der ewigen Gerechtigkeit einführen; aber ihr Reich ist himmelweit verschieden von dem der Aufklärer. Auch die nach den Grundsätzen dieser Aufklärer eingerichtete bürgerliche Welt ist unvernünftig und ungerecht und wandert daher ebensogut in den Topf des Verwerflichen wie der Feudalismus und alle frühern Gesellschaftszustände. Daß die wirkliche Vernunft und Gerechtigkeit bisher nicht in der Welt geherrscht haben, kommt nur daher, daß man sie bisher nicht richtig erkannt hatte. Es fehlte eben der geniale einzelne Mann, der jetzt aufgetreten, und der die Wahrheit erkannt hat; daß er jetzt aufgetreten, daß die Wahrheit grade jetzt erkannt worden, ist nicht ein aus dem Zusammenhang der geschichtlichen Entwicklung mit Notwendigkeit folgendes, unvermeidliches Ereignis, sondern ein reiner Glücksfall. Er hätte ebensogut 500 Jahre früher geboren werden können und hätte dann der Menschheit 500 Jahre Irrtum, Kämpfe und Leiden erspart.

Diese Anschauungsweise ist wesentlich die aller englischen und französischen und der ersten deutschen Sozialisten, Weitling einbegriffen. Der Sozialismus ist der Ausdruck der absoluten Wahrheit, Vernunft und Gerechtigkeit, und braucht nur entdeckt zu werden, um durch eigne Kraft die Welt zu erobern; da die absolute Wahrheit unabhängig von Zeit, Raum und menschlicher, geschichtlicher Entwicklung ist, so ist es bloßer Zufall, wann |19| und wo sie entdeckt wird. Dabei ist dann die absolute Wahrheit, Vernunft und Gerechtigkeit wieder bei jedem Schulstifter verschieden; und da bei einem jeden die besondre Art der absoluten Wahrheit, Vernunft und Gerechtigkeit wieder bedingt ist durch seinen subjektiven Verstand, seine Lebensbedingungen, sein Maß von Kenntnissen und Denkschulung, so ist in diesem Konflikt absoluter Wahrheiten keine andre Lösung möglich, als daß sie sich aneinander abschleißen. Dabei konnte dann nichts andres herauskommen, als eine Art von eklektischem Durchschnittssozialismus, wie er in der Tat bis heute in den Köpfen der meisten sozialistischen Arbeiter in Frankreich und England herrscht, eine, äußerst mannigfaltige Schattierungen zulassende, Mischung aus den weniger auffälligen kritischen Auslassungen, ökonomischen Lehrsätzen und gesellschaftlichen Zukunftsvorstellungen der verschiednen Sektenstifter, eine Mischung, die sich um so leichter bewerkstelligt, je mehr den einzelnen Bestandteilen im Strom der Debatte die scharfen Ecken der Bestimmtheit abgeschliffen sind wie runden Kieseln im Bach. Um aus dem Sozialismus eine Wissenschaft zu machen, mußte er erst auf einen realen Boden gestellt werden.

Inzwischen war neben und nach der französischen Philosophie des 18. Jahrhunderts die neuere deutsche Philosophie entstanden und hatte in Hegel ihren Abschluß gefunden. Ihr größtes Verdienst war die Wiederaufnahme der Dialektik als der höchsten Form des Denkens. Die alten griechischen Philosophen waren alle geborne, naturwüchsige Dialektiker, und der universellste Kopf unter ihnen, Aristoteles, hat auch bereits die wesentlichsten Formen des dialektischen Denkens untersucht.{2} Die neuere Philosophie dagegen, obwohl auch in ihr die Dialektik glänzende Vertreter hatte (z.B. Descartes und Spinoza), war besonders durch englischen Einfluß mehr und mehr in der sog, metaphysischen Denkweise festgefahren, von der auch die Franzosen des 18. Jahrhunderts, wenigstens in ihren speziell philosophischen Arbeiten, fast ausschließlich beherrscht wurden. Außerhalb der eigentlichen Philosophie waren sie ebenfalls imstande, Meisterwerke der Dialektik zu liefern; wir erinnern nur an »Rameaus Neffen« von Diderot und die »Abhandlung über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen« von Rousseau. - Wir geben hier kurz das Wesentliche beider Denkmethoden an; wir werden noch ausführlicher darauf zurückzukommen haben.

|20| Wenn wir die Natur oder die Menschengeschichte oder unsre eigne geistige Tätigkeit der denkenden Betrachtung unterwerfen, so bietet sich uns zunächst dar das Bild einer unendlichen Verschlingung von Zusammenhängen und Wechselwirkungen, in der nichts bleibt, was, wo und wie es war, sondern alles sich bewegt, sich verändert, wird und vergeht. Diese ursprüngliche, naive, aber der Sache nach richtige Anschauung von der Welt ist die der alten griechischen Philosophie und ist zuerst klar ausgesprochen von Heraklit: Alles ist und ist auch nicht, denn alles fließt, ist in steter Veränderung, in stetem Werden und Vergehn begriffen. Aber diese Anschauung, so richtig sie auch den allgemeinen Charakter des Gesamtbildes der Erscheinungen erfaßt, genügt doch nicht, die Einzelheiten zu erklären, aus denen sich dies Gesamtbild zusammensetzt; und solange wir dies nicht können, sind wir auch über das Gesamtbild nicht klar. Um diese Einzelheiten zu erkennen, müssen wir sie aus ihrem natürlichen oder geschichtlichen Zusammenhang herausnehmen und sie, jede für sich, nach ihrer Beschaffenheit, ihren besondern Ursachen und Wirkungen etc. untersuchen. Dies ist zunächst die Aufgabe der Naturwissenschaft und Geschichtsforschung; Untersuchungszweige, die aus sehr guten Gründen bei den Griechen der klassischen Zeit einen nur untergeordneten Rang einnahmen, weil diese vor allem erst das Material zusammenschleppen mußten. Die Anfänge der exakten Naturforschung werden erst bei den Griechen der alexandrinischen Periode und später, im Mittelalter, von den Arabern, weiter entwickelt; eine wirkliche Naturwissenschaft datiert indes erst von der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, und von da an hat sie mit stets wachsender Geschwindigkeit Fortschritte gemacht. Die Zerlegung der Natur in ihre einzelnen Teile, die Sonderung der verschiednen Naturvorgänge und Naturgegenstände in bestimmte Klassen, die Untersuchung des Innern der organischen Körper nach ihren mannigfachen anatomischen Gestaltungen war die Grundbedingung der Riesenfortschritte, die die letzten 400 Jahre uns in der Erkenntnis der Natur gebracht. Aber sie hat uns ebenfalls die Gewohnheit hinterlassen, die Naturdinge und Naturvorgänge in ihrer Vereinzelung, außerhalb des großen Gesamtzusammenhangs aufzufassen; daher nicht in ihrer Bewegung, sondern in ihrem Stillstand, nicht als wesentlich veränderliche, sondern als feste Bestände, nicht in ihrem Leben, sondern in ihrem Tod. Und indem, wie dies durch Bacon und Locke geschah, diese Anschauungsweise aus der Naturwissenschaft sich in die Philosophie übertrug, schuf sie die spezifische Borniertheit der letzten Jahrhunderte, die metaphysische Denkweise.

Für den Metaphysiker sind die Dinge und ihre Gedankenabbilder, die |21| Begriffe, vereinzelte, eins nach dem andern und ohne das andre zu betrachtende, feste, starre, ein für allemal gegebne Gegenstände der Untersuchung. Er denkt in lauter unvermittelten Gegensätzen: seine Rede ist ja, ja, nein, nein, was darüber ist, ist vom Übel. Für ihn existiert ein Ding entweder, oder es existiert nicht: ein Ding kann ebensowenig zugleich es selbst und ein andres sein. Positiv und negativ schließen einander absolut aus; Ursache und Wirkung stehn ebenso in starrem Gegensatz zueinander. Diese Denkweise erscheint uns auf den ersten Blick deswegen äußerst plausibel, weil sie diejenige des sogenannten gesunden Menschenverstandes ist. Allein der gesunde Menschenverstand, ein so respektabler Geselle er auch in dem hausbackenen Gebiet seiner vier Wände ist, erlebt ganz wunderbare Abenteuer, sobald er sich in die weite Welt der Forschung wagt; und die metaphysische Anschauungsweise, auf so weiten, je nach der Natur des Gegenstandes ausgedehnten Gebieten sie auch berechtigt und sogar notwendig ist, stößt doch jedesmal früher oder später auf eine Schranke, jenseits welcher sie einseitig, borniert, abstrakt wird und sich in unlösliche Widersprüche verirrt, weil sie über den einzelnen Dingen deren Zusammenhang, über ihrem Sein ihr Werden und Vergehn, über ihrer Ruhe ihre Bewegung vergißt, weil sie vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht. Für alltägliche Fälle wissen wir z.B. und können mit Bestimmtheit sagen, ob ein Tier existiert oder nicht; bei genauerer Untersuchung finden wir aber, daß dies manchmal eine höchst verwickelte Sache ist, wie das die Juristen sehr gut wissen, die sich umsonst abgeplagt haben, eine rationelle Grenze zu entdecken, von der an die Tötung des Kindes im Mutterleibe Mord ist; und ebenso unmöglich ist es, den Moment des Todes festzustellen, indem die Physiologie nachweist, daß der Tod nicht ein einmaliges, augenblickliches Ereignis, sondern ein sehr langwieriger Vorgang ist. Ebenso ist jedes organische Wesen in jedem Augenblick dasselbe und nicht dasselbe; in jedem Augenblick verarbeitet es von außen zugeführte Stoffe und scheidet andre aus, in jedem Augenblick sterben Zellen seines Körpers ab und bilden sich neue; je nach einer längern oder kürzern Zeit ist der Stoff dieses Körpers vollständig erneuert, durch andre Stoffatome ersetzt worden, so daß jedes organisierte Wesen stets dasselbe und doch ein andres ist. Auch finden wir bei genauerer Betrachtung, daß die beiden Pole eines Gegensatzes, wie positiv und negativ, ebenso untrennbar voneinander wie entgegengesetzt sind, und daß sie trotz aller Gegensätzlichkeit sich gegenseitig durchdringen; ebenso, daß Ursache und Wirkung Vorstellungen sind, die nur in der Anwendung auf den einzelnen Fall als solche Gültigkeit haben, daß sie aber, sowie wir den einzelnen Fall in seinem allgemeinen Zusammenhang |22| mit dem Weltganzen betrachten, zusammengehn, sich auflösen in der Anschauung der universellen Wechselwirkung, wo Ursachen und Wirkungen fortwährend ihre Stelle wechseln, das was jetzt oder hier Wirkung, dort oder dann Ursache wird und umgekehrt.

Alle diese Vorgänge und Denkmethoden passen nicht in den Rahmen des metaphysischen Denkens hinein. Für die Dialektik dagegen, die die Dinge und ihre begrifflichen Abbilder wesentlich in ihrem Zusammenhang, ihrer Verkettung, ihrer Bewegung, ihrem Entstehn und Vergehn auffaßt, sind Vorgänge wie die obigen, ebensoviel Bestätigungen ihrer eignen Verfahrungsweise. Die Natur ist die Probe auf die Dialektik, und wir müssen es der modernen Naturwissenschaft nachsagen, daß sie für diese Probe ein äußerst reichliches, sich täglich häufendes Material geliefert und damit bewiesen hat, daß es in der Natur, in letzter Instanz, dialektisch und nicht metaphysisch hergeht. Da aber die Naturforscher bis jetzt zu zählen sind, die dialektisch zu denken gelernt haben, so erklärt sich aus diesem Konflikt der entdeckten Resultate mit der hergebrachten Denkweise die grenzenlose Verwirrung, die jetzt in der theoretischen Naturwissenschaft herrscht und die Lehrer wie Schüler, Schriftsteller wie Leser zur Verzweiflung bringt.

Eine exakte Darstellung des Weltganzen, seiner Entwicklung und der der Menschheit, sowie des Spiegelbildes dieser Entwicklung in den Köpfen der Menschen, kann also nur auf dialektischem Wege, mit steter Beachtung der allgemeinen Wechselwirkungen des Werdens und Vergehens, der fort- oder rückschreitenden Änderungen zustande kommen. Und in diesem Sinn trat die neuere deutsche Philosophie auch sofort auf. Kant eröffnete seine Laufbahn damit, daß er das stabile Newtonsche Sonnensystem und seine - nachdem der famose erste Anstoß einmal gegeben - ewige Dauer auflöste in einen geschichtlichen Vorgang: in die Entstehung der Sonne und aller Planeten aus einer rotierenden Nebelmasse. Dabei zog er bereits die Folgerung, daß mit dieser Entstehung ebenfalls der künftige Untergang des Sonnensystems notwendig gegeben sei. Seine Ansicht wurde ein halbes Jahrhundert später durch Laplace mathematisch begründet, und noch ein halbes Jahrhundert später wies das Spektroskop die Existenz solcher glühenden Gasmassen, in verschiednen Stufen der Verdichtung, im Weltraum nach.

Ihren Abschluß fand diese neuere deutsche Philosophie im Hegelschen System, worin zum erstenmal - und das ist sein großes Verdienst - die ganze natürliche, geschichtliche und geistige Welt als ein Prozeß, d.h. als in steter Bewegung, Veränderung, Umbildung und Entwicklung begriffen dargestellt und der Versuch gemacht wurde, den inneren Zusammenhang |23| in dieser Bewegung und Entwicklung nachzuweisen {3}. Von diesem Gesichtspunkt aus erschien die Geschichte der Menschheit nicht mehr als ein wüstes Gewirr sinnloser Gewalttätigkeiten, die vor dem Richterstuhl der jetzt gereiften Philosophenvernunft alle gleich verwerflich sind und die man am besten so rasch wie möglich vergißt, sondern als der Entwicklungsprozeß der Menschheit selbst, dessen allmählichen Stufengang durch alle Irrwege zu verfolgen und dessen innere Gesetzmäßigkeit durch alle scheinbaren Zufälligkeiten hindurch nachzuweisen jetzt die Aufgabe des Denkens wurde.

Daß Hegel diese Aufgabe nicht löste, ist hier gleichgültig. Sein epochemachendes Verdienst war, sie gestellt zu haben. Es ist eben eine Aufgabe, die kein einzelner je wird lösen können. Obwohl Hegel - neben Saint-Simon - der universellste Kopf seiner Zelt war, so war er doch beschränkt erstens durch den notwendig begrenzten Umfang seiner eignen Kenntnisse und zweitens durch die ebenfalls nach Umfang und Tiefe begrenzten Kenntnisse und Anschauungen seiner Epoche. Dazu kam aber noch ein Drittes. Hegel war Idealist, d.h., ihm galten die Gedanken seines Kopfs nicht als die mehr oder weniger abstrakten Abbilder der wirklichen Dinge und Vorgänge, sondern umgekehrt galten ihm die Dinge und ihre Entwicklung nur als die verwirklichten Abbilder der irgendwo schon vor der Welt existierenden »Idee«. Damit war alles auf den Kopf gestellt und der wirkliche Zusammenhang der Welt vollständig umgekehrt. Und so richtig und genial auch manche Einzelzusammenhänge von Hegel aufgefaßt worden, so mußte doch aus den angegebnen Gründen auch im Detail vieles geflickt, gekünstelt, konstruiert, kurz verkehrt ausfallen. Das Hegelsche System als solches war eine kolossale Fehlgeburt - aber auch die letzte ihrer Art. Es litt nämlich noch an einem unheilbaren innern Widerspruch: einerseits hatte es zur wesentlichen Voraussetzung die historische Anschauung, wonach die menschliche Geschichte ein Entwicklungsprozeß ist, der seiner Natur nach nicht durch die Entdeckung einer sogenannten absoluten Wahr- |24| heit seinen intellektuellen Abschluß finden kann; andrerseits aber behauptet es, der Inbegriff eben dieser absoluten Wahrheit zu sein. Ein allumfassendes, ein für allemal abschließendes System der Erkenntnis von Natur und Geschichte steht im Widerspruch mit den Grundgesetzen des dialektischen Denkens; was indes keineswegs ausschließt, sondern im Gegenteil einschließt, daß die systematische Erkenntnis der gesamten äußern Welt von Geschlecht zu Geschlecht Riesenschritte machen kann.

Die Einsicht in die totale Verkehrtheit des bisherigen deutschen Idealismus führte notwendig zum Materialismus, aber wohlgemerkt, nicht zum bloß metaphysischen, ausschließlich mechanischen Materialismus des 18. Jahrhunderts. Gegenüber der naiv-revolutionären, einfachen Verwerfung aller frühern Geschichte, sieht der moderne Materialismus in der Geschichte den Entwicklungsprozeß der Menschheit, dessen Bewegungsgesetze zu entdecken seine Aufgabe ist. Gegenüber der sowohl bei den Franzosen des 18. Jahrhunderts wie bei Hegel herrschenden Vorstellung von der Natur als eines sich in engen Kreisläufen bewegenden, sich gleichbleibenden Ganzen mit ewigen Weltkörpern, wie sie Newton, und unveränderlichen Arten von organischen Wesen, wie sie Linné gelehrt hatte, faßt er die neueren Fortschritte der Naturwissenschaft zusammen, wonach die Natur ebenfalls ihre Geschichte in der Zeit hat, die Weltkörper wie die Artungen der Organismen, von denen sie unter günstigen Umständen bewohnt werden, entstehn und vergehn, und die Kreisläufe, soweit sie überhaupt zulässig sind, unendlich großartigere Dimensionen annehmen. In beiden Fällen ist er wesentlich dialektisch und braucht keine über den andern Wissenschaften stehende Philosophie mehr. Sobald an jede einzelne Wissenschaft die Forderung herantritt, über ihre Stellung im Gesamtzusammenhang der Dinge und der Kenntnis von den Dingen sich klarzuwerden, ist jede besondre Wissenschaft vom Gesamtzusammenhang überflüssig. Was von der ganzen bisherigen Philosophie dann noch selbständig bestehn bleibt, ist die Lehre vom Denken und seinen Gesetzen - die formelle Logik und die Dialektik. Alles andre geht auf in die positive Wissenschaft von Natur und Geschichte.

Während jedoch der Umschwung der Naturanschauung nur in dem Maß sich vollziehn konnte, als die Forschung den entsprechenden positiven Erkenntnisstoff lieferte, hatten sich schon viel früher historische Tatsachen geltend gemacht, die für die Geschichtsauffassung eine entscheidende Wendung herbeiführten. 1831 hatte in Lyon der erste Arbeiteraufstand stattgefunden; 1838 bis 1842 erreichte die erste nationale Arbeiterbewegung, die der englischen Chartisten, ihren Höhepunkt. Der Klassen- |25| kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie trat in den Vordergrund der Geschichte der fortgeschrittensten Länder Europas, in demselben Maß, wie sich dort einerseits die große Industrie, andrerseits die neueroberte politische Herrschaft der Bourgeoisie entwickelte. Die Lehren der bürgerlichen Ökonomie von der Identität der Interessen von Kapital und Arbeit, von der allgemeinen Harmonie und dem allgemeinen Volkswohlstand als Folge der freien Konkurrenz, wurden immer schlagender von den Tatsachen Lügen gestraft.{4} Alle diese Dinge waren nicht mehr abzuweisen, ebensowenig wie der französische und englische Sozialismus, der ihr theoretischer, wenn auch höchst unvollkommner Ausdruck war. Aber die alte idealistische Geschichtsauffassung, die noch nicht verdrängt war, kannte keine auf materiellen Interessen beruhenden Klassenkämpfe, überhaupt keine materiellen Interessen; die Produktion wie alle ökonomischen Verhältnisse kamen in ihr nur so nebenbei, als untergeordnete Elemente der »Kulturgeschichte« vor.

Die neuen Tatsachen zwangen dazu, die ganze bisherige Geschichte einer neuen Untersuchung zu unterwerfen, und da zeigte sich, daß alle bisherige Geschichte die Geschichte von Klassenkämpfen war, daß diese einander bekämpfenden Klassen der Gesellschaft jedesmal Erzeugnisse sind der Produktions- und Verkehrsverhältnisse, mit Einem Wort der ökonomischen Verhältnisse ihrer Epoche; daß also die jedesmalige ökonomische Struktur der Gesellschaft die reale Grundlage bildet, aus der der gesamte Überbau der rechtlichen und politischen Einrichtungen sowie der religiösen, philosophischen und sonstigen Vorstellungsweise eines jeden geschichtlichen Zeitabschnittes in letzter Instanz zu erklären sind. Hiermit war der Idealismus aus seinem letzten Zufluchtsort, aus der Geschichtsauffassung, vertrieben, eine materialistische Geschichtsauffassung gegeben und der Weg gefunden, um das Bewußtsein der Menschen aus ihrem Sein, statt wie bisher ihr Sein aus ihrem Bewußtsein zu erklären.

Mit dieser materialistischen Geschichtsauffassung war aber der bisherige Sozialismus ebenso unverträglich wie die Naturauffassung des französischen Materialismus mit der Dialektik und der neueren Naturwissen- |26| schaft. Der bisherige Sozialismus kritisierte zwar die bestehende kapitalistische Produktionsweise und ihre Folgen, konnte sie aber nicht erklären, also auch nicht mit ihr fertig werden; er konnte sie nur einfach als schlecht verwerfen. Es handelte sich aber darum, diese kapitalistische Produktionsweise einerseits in ihrem geschichtlichen Zusammenhang und ihrer Notwendigkeit für einen bestimmten geschichtlichen Zeitabschnitt, also auch die Notwendigkeit ihres Untergangs, darzustellen, andrerseits aber auch ihren innern Charakter zu enthüllen, der noch immer verborgen war, da die bisherige Kritik sich mehr auf die üblen Folgen als auf den Gang der Sache selbst geworfen hatte. Dies geschah durch die Entdeckung des Mehrwerts. Es wurde bewiesen, daß die Aneignung unbezahlter Arbeit die Grundform der kapitalistischen Produktionsweise und der durch sie vollzognen Ausbeutung des Arbeiters ist; daß der Kapitalist, selbst wenn er die Arbeitskraft seines Arbeiters zum vollen Wert kauft, den sie als Ware auf dem Warenmarkt hat, dennoch mehr Wert aus ihr herausschlägt, als er für sie bezahlt hat; und daß dieser Mehrwert in letzter Instanz die Wertsumme bildet, aus der sich die stets wachsende Kapitalmasse in den Händen der besitzenden Klassen aufhäuft. Der Hergang sowohl der kapitalistischen Produktion wie der Produktion von Kapital war erklärt.

Diese beiden großen Entdeckungen: die materialistische Geschichtsauffassung und die Enthüllung des Geheimnisses der kapitalistischen Produktion vermittelst des Mehrwerts, verdanken wir Marx. Mit ihnen wurde der Sozialismus eine Wissenschaft, die es sich nun zunächst darum handelt, in allen ihren Einzelnheiten und Zusammenhängen weiter auszuarbeiten.

So etwa standen die Sachen auf dem Gebiete des theoretischen Sozialismus und der verstorbenen Philosophie, als Herr Eugen Dühring nicht ohne beträchtliches Gepolter auf die Bühne sprang und eine durch ihn vollzogene, totale Umwälzung der Philosophie, der politischen Ökonomie und des Sozialismus ankündigte.

Sehn wir zu, was Herr Dühring uns verspricht und - was er hält.

II. Was Herr Dühring verspricht

Herrn Dührings zunächst hierher gehörige Schriften sind sein »Cursus der Philosophie«, sein »Cursus der National- und Socialökonomie« und seine »Kritische Geschichte der Nationalökonomie und des Socialismus«. Zunächst interessiert uns vorwiegend das erste Werk.

|27| Gleich auf der ersten Seite kündigt Herr Dühring sich an als

»denjenigen, der die Vertretung dieser Macht« (der Philosophie) »in seiner Zeit und für die zunächst absehbare Entfaltung derselben in Anspruch nimmt«. |Alle Hervorhebungen in den Zitaten aus den Schriften Dührings stammen von Engels.|

Er erklärt sich also für den einzig wahren Philosophen der Gegenwart und »absehbaren« Zukunft. Wer von ihm abweicht, weicht ab von der Wahrheit. Viele Leute haben, schon vor Herrn Dühring, so etwas von sich selbst gedacht, aber er ist - außer Richard Wagner - wohl der erste, der es von sich selbst gelassen ausspricht. Und zwar ist die Wahrheit, um die es sich bei ihm handelt,

»eine endgültige Wahrheit letzter Instanz«.

Die Philosophie des Herrn Dühring ist

»das natürliche System oder die Wirklichkeitsphilosophie ... die Wirklichkeit wird in ihm in einer Weise gedacht, die jede Anwandlung zu einer traumhaften und subjektivistisch beschränkten Weltvorstellung ausschließt«.

Diese Philosophie ist also so beschaffen, daß sie Herrn Dühring über die von ihm selbst nicht zu leugnenden Schranken seiner persönlich-subjektiven Beschränktheit hinaushebt. Es ist dies allerdings nötig, wenn er imstande sein soll, endgültige Wahrheiten letzter Instanz festzustellen, obwohl wir bis jetzt noch nicht einsehn, wie dies Wunder sich bewerkstelligen soll.

Dies »natürliche System des an sich für den Geist wertvollen Wissens« hat, »ohne der Tiefe des Gedankens etwas zu vergeben, die Grundgestalten des Seins sicher festgestellt«. von seinem »wirklich kritischen Standpunkt« aus bietet es »die Elemente einer wirklichen und demgemäß auf die Wirklichkeit der Natur und des Lebens gerichteten Philosophie, welche keinen bloß scheinbaren Horizont gelten läßt, sondern in ihrer mächtig umwälzenden Bewegung alle Erden und Himmel der äußeren und inneren Natur aufrollt«; es ist eine »neue Denkweise«, und ihre Resultate sind »von Grund aus eigentümliche Ergebnisse und Anschauungen ... systemschaffende Gedanken ... festgestellte Wahrheiten«. Wir haben in ihr vor uns »eine Arbeit, die ihre Kraft in der konzentrierten Initiative suchen muß« - was das auch immer heißen möge; eine »bis an die Wurzeln reichende Untersuchung ... eine wurzelhafte Wissenschaft ... eine streng wissenschaftliche Auffassung von Dingen und Menschen ... eine allseitig durchdringende Gedankenarbeit ... ein schöpferisches Entwerfen der vom Gedanken beherrschbaren Voraussetzungen und Folgen ... das absolut Fundamentale«.

Er gibt uns auf ökonomisch-politischem Gebiet nicht nur

»historisch und systematisch umfassende Arbeiten«, von denen die historischen sich obendrein durch »meine Geschichtszeichnung großen Stils« auszeichnen und welche in der Ökonomie »schöpferische Wendungen« zuwege brachten,

|28| sondern schließt auch mit einem eignen vollständig ausgearbeiteten sozialistischen Plan für die Zukunftsgesellschaft ab, der die

»praktische Frucht einer klaren und bis an die letzten Wurzeln reichenden Theorie«,

und daher ebenso unfehlbar und alleinseligmachend ist wie die Dühringsche Philosophie; denn

»nur in demjenigen sozialistischen Gebilde, welches ich in meinem 'Cursus der National-und Socialökonomie' gekennzeichnet habe, kann ein echtes Eigen an die Stelle des bloß scheinbaren und vorläufigen oder aber gewaltsamen Eigentums treten«. Wonach die Zukunft sich zu richten hat.

Diese Blumenlese von Lobpreisungen des Herrn Dühring durch Herrn Dühring ließe sich leicht ums Zehnfache vermehren. Sie dürfte schon jetzt beim Leser einige Zweifel rege gemacht haben, ob er es wirklich mit einem Philosophen zu tun habe oder mit - aber wir müssen den Leser bitten, sein Urteil zurückzuhalten, bis er die besagte Wurzelhaftigkeit wird näher kennengelernt haben. Wir geben obige Blumenlese auch nur, um zu zeigen, daß wir nicht einen gewöhnlichen Philosophen und Sozialisten vor uns haben, der seine Gedanken einfach ausspricht und es der weitern Entwicklung überläßt, über ihren Wert zu entscheiden, sondern mit einem ganz außergewöhnlichen Wesen, das nicht weniger unfehlbar zu sein behauptet, als der Papst, und dessen alleinseligmachende Lehre man einfach anzunehmen hat, wenn man nicht der verwerflichsten Ketzerei verfallen will. Wir haben es keineswegs mit einer jener Arbeiten zu tun, an denen alle sozialistischen Literaturen und neuerdings auch die deutsche überreich sind, Arbeiten, in denen Leute verschiednen Kalibers sich in der aufrichtigsten Weise von der Welt über Fragen klarzuwerden suchen, zu deren Beantwortung ihnen das Material vielleicht mehr oder weniger abgeht; Arbeiten, bei denen, was auch ihre wissenschaftlichen und literarischen Mängel, der sozialistische gute Wille immer anerkennenswert ist. Im Gegenteil, Herr Dühring bietet uns Sätze, die er für endgültige Wahrheiten letzter Instanz erklärt, neben denen jede andre Meinung also von vornherein falsch ist; wie die ausschließliche Wahrheit, so hat er auch die einzige streng wissenschaftliche Methode der Untersuchung, neben der alle andern unwissenschaftlich sind. Entweder hat er recht - und dann stehn wir vor dem größten Genie aller Zeiten, dem ersten übermenschlichen, weil unfehlbaren Menschen. Oder er hat unrecht, und auch dann, wie unser Urteil immer ausfallen möge, wäre wohlwollende Rücksichtnahme auf seinen etwaigen guten Willen immer noch die tödlichste Beleidigung für Herrn Dühring.

|29| Wenn man im Besitz der endgültigen Wahrheit letzter Instanz und der einzig strengen Wissenschaftlichkeit ist, so muß man selbstredend für die übrige irrende und unwissenschaftliche Menschheit eine ziemliche Verachtung haben. Wir dürfen uns also nicht wundern, wenn Herr Dühring von seinen Vorgängern mit der äußersten Wegwerfung spricht, und wenn nur wenige, ausnahmsweise von ihm selbst ernannte große Männer vor seiner Wurzelhaftigkeit Gnade finden.

Hören wir ihn zuerst über die Philosophen:

»Der jeder besseren Gesinnung bare Leibniz, ... dieser beste unter allen höfisch möglichen Philosophierern.«

Kant wird noch soeben geduldet; aber nach ihm ging alles drunter und drüber:

es kamen die »Wüstheiten und ebenso läppischen als windigen Torheiten der nächsten Epigonen, also namentlich eines Fichte und Schelling ... ungeheuerliche Zerrbilder unwissender Naturphilosophastrik ... die nachkantischen Ungeheuerlichkeiten« und »Fieberphantasien«, denen die Krone aufsetzte »ein Hegel«. Dieser sprach einen »Hegel-Jargon« und verbreitete die »Hegel-Seuche« vermittelst seiner »überdies noch in der Form unwissenschaftlichen Manier« und seiner »Kruditäten«.

Den Naturforschern geht's nicht besser, doch wird nur Darwin namentlich aufgeführt, und so müssen wir uns auf diesen beschränken:

»Darwinistische Halbpoesie und Metamorphosenfertigkeit mit ihrer grobsinnlichen Enge der Auffassung und Stumpfheit der Unterscheidungskraft ... Unseres Erachtens ist der spezifische Darwinismus, wovon natürlich die Lamarckschen Aufstellungen auszunehmen sind, ein Stück gegen die Humanität gerichtete Brutalität

Am schlimmsten aber kommen die Sozialisten weg. Mit Ausnahme von allenfalls Louis Blanc - dem unbedeutendsten von allen - sind sie allzumal Sünder und mangeln des Ruhms, den sie vor (oder hinter) Herrn Dühring haben sollten. Und nicht nur der Wahrheit und Wissenschaftlichkeit, nein, auch dem Charakter nach. Mit Ausnahme von Babeuf und einigen Kommunards von 1871 sind sie allesamt keine »Männer«. Die drei Utopisten heißen »soziale Alchimisten«. von ihnen wird Saint-Simon noch insoweit glimpflich behandelt, als ihm bloß »Überspanntheit« vorgeworfen und mitleidig angedeutet wird, er habe an religiösem Wahnsinn gelitten. Bei Fourier dagegen reißt Herrn Dühring die Geduld vollständig. Denn Fourier

»enthüllte alle Elemente des Wahnwitzes ... Ideen, die man sonst am ehesten in Irrenhäusern aufsucht ... wüsteste Träume ... Erzeugnisse des Wahnwitzes. ... Der unsäglich alberne Fourier«, dieses »Kinderköpfchen«, dieser »Idiot« ist dabei nicht einmal ein Sozialist; sein Phalanstère ist durchaus kein Stück rationeller Sozialismus, sondern »ein nach der Schablone des gewöhnlichen Verkehrs konstruiertes Mißgebilde«.

|30| und endlich:

»Wem diese Auslassungen« (Fouriers über Newton) » ... nicht genügen, um sich zu überzeugen, daß in Fouriers Namen und am ganzen Fourierismus nur die erste Silbe« (fou = verrückt) »etwas Wahres besagt, der dürfte selbst unter irgendeiner Kategorie von Idioten einzureihen sein

Endlich, Robert Owen

»hatte matte und dürftige Ideen ... sein im Punkte der Moral so rohes Denken ... einige ins Verschrobene ausgeartete Gemeinplätze ... widersinnige und rohe Anschauungsweise ... Owens Vorstellungslauf ist kaum wert, daß man eine ernstere Kritik zur Geltung bringe ... seine Eitelkeit« usw.

Wenn also Herr Dühring die Utopisten nach ihren Namen äußerst geistreich folgendermaßen kennzeichnet: Saint-Simon - saint (heilig), Fourier - fou (verrückt), Enfantin - enfant (kindisch), so fehlt nur noch, daß er hinzusetzt: Owen - o weh! und eine ganz bedeutende Periode der Geschichte des Sozialismus ist mit vier Worten einfach - verdonnert, und wer daran zweifelt, der »dürfte selbst unter irgendeine Kategorie von Idioten einzureihen sein«.

von den Dühringschen Urteilen über die spätern Sozialisten nehmen wir der Kürze halber nur noch die über Lassalle und Marx heraus:

Lassalle: »Pedantisch-klaubende Popularisierungsversuche ... überwuchernde Scholastik ... ungeheuerliches Gemisch von allgemeiner Theorie und kleinlichem Quark ... sinn- und formlose Hegel-Superstition ... abschreckendes Beispiel ... eigne Beschränktheit ... Wichtigtuerei mit dem gleichgültigsten Kleinkram ... unser jüdischer Held ... Pamphletschreiber ... ordinär ... innere Haltungslosigkeit der Lebens- und Weltanschauung.«

Marx: »Beengtheit der Auffassung ... seine Arbeiten und Leistungen sind an und für sich, d.h. rein theoretisch betrachtet, für unser Gebiet« (die kritische Geschichte des Sozialismus) »ohne dauernde Bedeutung und für die allgemeine Geschichte der geistigen Strömung höchstens als Symptome der Einwirkung eines Zweigs der neueren Sektenscholastik anzuführen ... Ohnmacht der konzentrierenden und ordnenden Fähigkeiten ... Unförmlichkeit der Gedanken und des Stils, würdelose Allüren der Sprache ... englisierte Eitelkeit ... Düpierung ... wüste Konzeptionen, die in der Tat nur Bastarde historischer und logischer Phantastik sind ... trügerische Wendung ... persönliche Eitelkeit ... schnöde Manierchen ... schnoddrig ... schöngeistige Plätzchen und Mätzchen ... Chinesengelehrsamkeit ... philosophische und wissenschaftliche Rückständigkeit.«

Und so weiter, und so weiter - denn auch dies ist nur eine kleine oberflächliche Blumenlese aus dem Dühringschen Rosengarten. Wohlverstanden, vorderhand geht es uns noch gar nichts an, ob diese liebenswürdigen |31| Schimpfereien, die es Herrn Dühring, bei einiger Bildung, verbieten sollten, irgend etwas schnöde und schnoddrig zu finden, ebenfalls endgültige Wahrheiten letzter Instanz sind. Auch werden wir uns - jetzt noch - hüten, irgendeinen Zweifel an ihrer Wurzelhaftigkeit laut werden zu lassen, da man uns sonst vielleicht sogar verbieten dürfte, die Kategorie von Idioten auszusuchen, zu der wir gehören. Wir haben es nur für unsre Schuldigkeit gehalten, einerseits ein Beispiel davon zu geben, was Herr Dühring

»das Gewählte der rücksichtsvollen und im echten Sinn des Worts bescheidnen Ausdrucksart«

nennt, und andrerseits festzustellen, daß bei Herrn Dühring die Verwerflichkeit seiner Vorgänger nicht minder feststeht, als seine eigne Unfehlbarkeit. Hiernach ersterben wir in tiefster Ehrerbietung vor dem gewaltigsten Genius aller Zeiten - wenn sich das alles nämlich so verhält.


Textvarianten

{1} Im ersten Entwurf der »Einleitung« wird diese Stelle in folgender Fassung gebracht: »Der moderne Sozialismus, sosehr er auch der Sache nach entstanden ist aus der Anschauung der in der vorgefundenen Gesellschaft bestehenden Klassengegensätze von Besitzenden und Besitzlosen, Arbeitern und Ausbeutern, erscheint doch in seiner theoretischen Form zunächst als eine konsequentere, weitergetriebne Fortführung der von den großen französischen Aufklärern des 18. Jahrhunderts aufgestellten Grundsätze, wie denn seine ersten Vertreter. Morelly und Mably, auch zu diesen gehörten.« <=

{2} Im ersten Entwurf der »Einleitung« lautet diese Stelle: »Die alten griechischen Philosophen waren alle geborne, naturwüchsige Dialektiker, und Aristoteles, der Hegel der alten Welt, hat auch bereits die wesentlichsten Formen des dialektischen Denkens untersucht.« <=

{3} Im ersten Entwurf der »Einleitung« wird die Hegelsche Philosophie so charakterisiert: »Das Hegelsche System war die letzte, vollendetste Form der Philosophie, insofern diese als besondre, allen andren Wissenschaften überlegne besondre Wissenschaft vorgestellt wird. Mit ihm scheiterte die ganze Philosophie. Was aber blieb, war die dialektische Denkweise und die Auffassung der natürlichen, geschichtlichen und intellektuellen Welt als einer sich ohne Ende bewegenden, umbildenden, in stetem Prozeß von Werden und Vergehen begriffenen. Nicht nur an die Philosophie, an alle Wissenschaften war jetzt die Forderung gestellt, die Bewegungsgesetze dieses steten Umbildungsprozesses auf ihrem besondern Gebiet aufzuweisen. Und dies war das Erbteil, das die Hegelsche Philosophie ihren Nachfolgern hinterließ.« <=

{4} Im ersten Entwurf der »Einleitung« heißt es weiter: »In Frankreich hatte die Lyoner Insurrektion von 1834 ebenfalls den Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie proklamiert. Die englischen und französischen sozialistischen Theorien bekamen historische Bedeutung und mußten auch in Deutschland Widerhall und Kritik hervorrufen, obwohl dort die Produktion eben erst anfing, sich aus dem Kleinbetrieb herauszuarbeiten. Der theoretische Sozialismus, wie er sich jetzt nicht so sehr in Deutschland als unter Deutschen bildete, hatte also sein ganzes Material zu importieren ...« <=


Pfad: »../me/me20«


MLWerke | Vorworte | Inhalt | 1. Abschnitt | Marx/Engels